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UMIVERSITY OF IOWA
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UNIVERSIIY OF IOWA
Vierteljahrsschrift
für
gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
för das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
herausgegeben
Dr. Hermann Eulenberg,
Geheimer Ober - Medicinal - Rath.
Nene Folge. LH Band.
BERLIN, 1890.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
HW. 88. UNTER DBH LINDEN.
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UMIVERSITY OF IOWA
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UMIVERSITY OF IOWA
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Inhalt
8«ite
I. Qerlohtllohe Medioin. 1-118. 209—823
1. Ueber das Eindringen von Rrtränkungsflüssigkeit in die Gedärme.
Von Dr. L. W. Fagerlond .1. 234
2. Ueber einen Fall von genuiner acuter Panoreasentzündung nebst Be¬
merkungen über die anatomische und forensische Bedeutung der Pan-
oreasblutungen. Von Dooent Dr.Dittricb . 43
8. Ueber die Sklerose der Kranzarterien des Herzens als Ursache plötz¬
lichen Todes. Von Dr. AIgot Key-Abergin Stockholm. (Schluss) . . 57
4 . Zwei motivirte Gutachten über' chronische Alkoholisten. Von Dr.
Alfred Richter . 67
5. Geistesstörung nach Kopfverletzung. Von Dr. Peterssen-Borstel 85
6. Der Hypnotismus in forensischer Beziehung. Von Dr. Schmitz in
Bonn a. Rb. 97
7. Superarbitrium der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen
vom 20. November 1889, betreffend Kindesmord. (Erster Referent:
Skrzeczka.) .209
8. Ueber postmortale Blutveränderungen Von Prof. Dr. F. Falk in Berlin 215
9. Ueber ein neues werthvolles Zeichen des Ertrinkungstodes. Von Dr.
C. Seydel in Königsberg.262
10. Ueber Rippenbrücbe vom geriohtsärztlichen Standpunkte aus. Von
Dr. Arnstein in Ratibor.265
11. Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme? Gutachten von Dr. Schiller
in Wehlau (Ostpreussen).278
12. Ein weiterer Fall von Simulation von Schwachsinn bei bestehender
Geistesstörung. Von Dr. Clemens Neisser in Leubus.291
13. Ueber den Tod durch Chloroform und Chloral vom gerichtsärztlichen
Standpunkte. Von Dr. J. Bornträger. .306
I. Oaffbntliohea Sanititswesen. 119—183. 324—388
1. Die Ancbylostomen-Krankbeit. Von Dr. Sohlegtendal in Lennep. 119
2. Das Hebammen wesen im Kreise Zauch-Belzig — jetzt und vor 25 Jahren.
Von Dr. Gleitsmann in Belsig.138
3. Die Einführung der Impfungen mit Thierlympbe in den Jahren 1882
bis 1888 im Medioinalbezirke Glauchau. Von Dr. Ernst Hankel in
Glauobau.158
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Original fro-m
UNIVERSITY OF IOWA
IY
Inhalt.
Mte
4. Zar Aetiologie der oroapösen Pneamonie. Von Dr. Riesell . . 167. 824
5. Reichsgerichtliche Entscheidungen auf Grand des Deutschen Straf¬
gesetzbuches. Von Oberstabsarzt Dr. H. Frölich. (Fortsetzung) . 178
6. Ueber die Abnahme der Lungenphthisis in höheren nordischen Breiten.
Von Gustav Wykowski aus Mohilew am Dniepr.839
7. Ueber Kohlenoxydvergiftung bei Theerdestillation. Von Dr. F. Greiff
in Mannheim.859
8. Arbeiterschutz und Unfallverhütung. Von Kreisphysikus Dr. E. Roth
in Belgard.366
9. Zur Casaistik des Kampfes gegen den Geheimmittelunfug. Von Dr.
Albert Weiss, Geh. Med.-Rath in Düsseldorf (Fortsetzung) . . . 881
III. Kleiner« Mittheilungen, Referate, Uteraturnotizen . . 184—204. 389—418
a) Statistisches und Historisches. 184. 389
b) Gerichtliche Medicin und forensische Casaistik. 187. 392
c) Psychopathologie, Neuropathologie.191. 399
d) Toxicologisohes; Berufskrankheiten und deren Vorbeugungsmaass¬
regeln . 194. 404
e) Hygiene des alltäglichen Lebens; Nahrangsmittel und deren Fäl¬
schungen .410
0 Parasitenkunde und Bakteriologie (Desinfection).199. 412
IV. Amtllohe Verfügungen . 205-208. 419—420
Betreffend: Kurse über Gesundheitspflege und Heilgymnastik für
Seminar-Turnlehrer; — Bekämpfung der Verbreitung der Schwindsucht
in Strafgefangenen- und Besserungsanstalten; — Die Einholung und
Bezahlung der Gutachten der Medicinalbeamten bei der Prüfung von
zu Begräbnissplätzen bestimmten Grundstücken; — Berechtigung der
Chefärzte der Militärlazarethe zur Ausstellung von Leichenpässen; —
Die Prüfung der Apotheker.
Abgrenzung des Begriffs „Todtgeburt“ mit Rücksicht auf die Ge¬
burten-Statistik; — Bekanntmachungen erledigter Kreismedicinal-Be-
amtenstellen; — Aufnahme von Geisteskranken aus dem Auslande etc.
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Heber das Eindringen ven Ertränknngsflfissigkeit in die
Gedärme.')
Von
Dr. Ii. W. Fftgerlund,
Assistent an dein pathologisch-anatomischen Institute und Doccnt der gerichtlichen Mcdicirrzu
Helsingfors.
Wie bekannt bilden in allen Ländern überhaupt im Wasser ge¬
fundene Leichen einen wesentlichen Theil derjenigen, welche ein Gegen¬
stand gerichtlich-medicinischer Untersuchungen werden und über deren
*
Todesart man das Gutachten des Gerichtsarztes einholt. Es ist daher
auch natürlich, dass, besonders in einem Lande wie Finnland, dessen
Einwohner in Folge des grossen Reichthums an Seen, der langge¬
streckten Küste, der~weit ausgebreiteten Scheeren mehr,, als in man¬
chem-anderen Lande der Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt sind, ge¬
rade diese Todesart vor allen anderen dazu geeignet ist, sich die Auf¬
merksamkeit des Gerichtsarztes zuzuziehen. In der That wird Finn¬
land in dieser Beziehung nur von Norwegen übertroffen: hier ist
nämlich, sowohl durch die Beschaffenheit des Landes als durch die
sich weit erstreckende Seefahrt und den grossartigen Fischfang in
offener See, die obengenannte Gefahr in noch höherem Grade als bei
uns vorhanden. Mit Ausnahme dieses Landes dürfte es aber kein
*) Die in Bezug auf diese Frage angestellten Untersuchungen sind an dem
gerichtlich-medicinischen Institute zu Wien ausgeführt, im December 1888 in
schwedischer Sprache herausgegeben worden und werden jetzt mit einigen Kür¬
zungen in deutscher Uebersetzung mitgetheilt.
Viertelj&hnichr. 1 *er. Med. N. F. LII. 1.»
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1
Original frorrr
UNIVERSITÄT OF IOWA
2 Dr. Fagerlund, .
anderes in Europa geben, wo der Ertrinkungstod so häufig wäre
wie in Finnland. Die untenstehende Tabelle, welche ausschliesslich
mit Berücksichtigung derjenigen Fälle aufgestellt worden ist, in wel¬
chen das Ertrinken durch Verunglückung eingetroffen war, zeigt näm¬
lich, dass von 10 000 Lebenden durchschnittlich in einem Jahre er¬
trinken in Finnland 2,91, in Schweden 2,59, in Norwegen 4,18, in
Dänemark 1,30, in Preussen 0,97, in Frankreich 1,08 und in Bel¬
gien 1,08.
Die'AnzaÜl der Ertrunkenen von 10 000 Lebenden 1 ).
Jahr.
Finnland
Dänemark.
Preussen.
Frankreich.
Belgien.
1886
2,73
1,99
•
-
•
1885
2,67
2,34
4,11
—
—
—
—
1884
2,18
2 47
3,55
1,22
—
—
—
1883
2,78
2,56 -
3,31
1.24
—
—
1882
3,43
3,13
4,42
1,25
—
—
1.09
188b
3,29
2,33
4,32
1,27
0,93
1,04
1,20
1886
2,97
2,70
4,76
. 1,28
1,02
1,01
1,07
1879
2,82
2.44
3,33
1,24
0.91
1,09
—
1878
2,78
248
4,21
1,26
0,96
0,85
—
1877
2,45
2,52
3,64
1,27
1,26
0,84
—
1876
2,84
2,70
4,49
1,28
—
1,54
—
1875
2,85
2,50 ■
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1,16
1,10
1874
8,12
2,97
5,09
1,38
0,86
—
—
1873
3,22
3,05
4,94
1,33
1,11
—
—
1872
3,52
3,04 .
4,11
1,40
0,90
—
—
1871
2,63
2,43
4,31
1,41
0,94
—
V
1870
3,22
2,39
—
1,41
0,81
—
0,94
Betrachten wir darauf näher die während der letzten 18 Jahre
in Finnland • ausgeführten gerichtlichen Obductionen, so sehen wir,
dass Wasserleichen durchschnittlich im Jahr 10,35 pCt. sämnfltlicher
gerichtlich-medicinischer Fälle ausgemacht haben. Wie sich das Ver-
hältniss weiter gestaltet zwischen denjenigen Fällen, in welchen die
mehr eingehende Untersuchung gezeigt hat, dass das Ertrinken durch
Verunglückung eingetroffen ist, und denjenigen, in welchen Selbst¬
mord oder Mord Vorgelegen haben, geht deutlicher aus der folgenden
') Diese Tabelle ist mit Hülfe der im hiesigen statistischen Centralbureau
zugänglichen Arbeiten aufgestellt, welche man gefälligst mir zur Disposition über¬
lassen hat. Unter diesen Arbeiten mögen genannt werden: Bidrag tili Finlands
officiela Statistik, Bidrag tili Sveriges officiela Statistik, Norges officiela Statistik,
Danmarks Statistik, Jahrbücher für die amtliche Statistik des preussischen Staates,
Statistique de la France, Annuaire statistique de Belgique.
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UNIVERSUM OF IOWA
lieber das Eindringen von Ertränkungsilüssigkeit in die Gedärme.
3
Tabelle hervor, und zwar ist dieselbe nach den Jahresberichten des
Medicinalamtes in Finnland und den von diesem Amte aufbowahrten
Obductionsprotocolleo aufgestellt worden.
Jahr.
Summe sämmtlicher gericht-
lich-medicinischer Fälle.
Selbst¬
mord
durch
Ertrin¬
kung.
Mord
durch
Ertrin¬
kung.
Ertrinken
durch
Verun¬
glückung
Procent sämmtliclur Wasser¬
leichen der sämmtliehrii ge¬
richtlich-medicinischcn Fälle.
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1886
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2
2
24
—
24
8,16
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5,00
60,00
1885
373
9
6
15
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37
14,48
27,78
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68,52
1884
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37
11,11
13.33
4,45
82,22
1882
372
7
3
10
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—
—
39
—
39
13,17
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79,59
1881
348
5
1
6
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3
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31
11,49
15,00
7,50
77,50
1880
333
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5
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1
1
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1878
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17,65
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1877
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19,51
7,32
73,17
1876
379
2
3
5
2
1
3
18
1
19
7,12
18,52
11,11
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1874
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1873
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1872
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2
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25
6
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11,26
16,67
9,52
73,81
Wenn eine Leiche in einer Flüssigkeit angetroffen wird, sei es
nun im Meere, in einem See, Fluss, Bach, Sumpf oder Brunnen, in
einer Pfütze, in einem Zuber oder sonst einem Gefässe, in einer Kloake, *
Mistgrube oder dergleichen, so entstehen, besonders wenn es sich um
die Leiche einer unbekannten Person handelt, die Fragen: 1) ob dar
Verstorbene lebendig oder todt in’s Wasser gerathen ist; 2) ob er
durch Verunglückung, ob aus freiem Willen oder durch das Ein- "
greifen eines Anderen dahin gekommen ist; 3) wie lange die Leiche
im Wasser gelegen hat. Diese Fragen haben eine so vielumfassend«
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1 *
Original frei •
UNIVERSITÄT OF IOWA
4
Dr. Fagerlund,
Literatur hervorgebracht, dass nur wenige Gebiete der gerichtlichen
Medicin so viele Bearbeiter aufzuweisen haben. Nichtsdestoweniger
mangelt es noch immer an einem charakteristischen Zeichen, durch
dessen Vorhanden- oder Nichtvorhandensein man mit Sicherheit be¬
stimmen könnte, inwiefern ein Mensch durch Ertrinken den Tod ge¬
funden hat oder nicht. Das Bedürfniss und das Wünschenswerthe,
ein solches Zeichen zu besitzen, hat sich wohl schon in allen Zeiten
geltend gemacht, und das Bestreben, dieses zu finden, ist ebenfalls
stets vorhanden gewesen und trat besonders lebhaft in der ersten
* •
Hälfte und um die Mitte dieses Jahrhunderts hervor; eine Menge von
bedeutenden Gerichtsärzten schenkte damals dem Ertrinkungstode
ganz besondere Aufmerksamkeit. Wenn man aber auch noch immer
ein solches charakteristisches Kennzeichen des Ertrinkungstodes ent-
• behrt, so ist man dennoch heut zu Tage durch Studien an Menschen-
leichcn, sowie durch Beobachtungen und Experimente an Thieren so
weit gekommen, dass man durch Zusammenpassen sämmtlicher Er¬
gebnisse der betreffenden Obduction in den meisten Fällen mit Be-
__ stimmtheit erkennen kann, ob die Person durch Ertrinken den Tod
gefunden hat oder nicht. Dennoch giebt es noch immer eine Menge
Fälle, welche nicht nur die Scharfsinnigkeit des Gerichtsarztes hart
auf die Probe stellen, sondern welche sogar seinen Bestrebungen, das
Ä wirkliche Verhältnis zu erforschen, trotzen. Deshalb fährt inan auch
heute noch fort, alle diejenigen Merkmale genau zu mustern, welche
&]$ Zeichen des Ertrinkungstodes aufgestellt sind. Desgleichen lebt
auch noch immer das Bestreben fort, die Anzahl der schon erworbenen
Merkmale zu vermehren, um dadurch nicht nur die beweisende Kraft
der übrigen grösser zu machen, sondern auch dem Arzte in allen
denjenigen Fällen Anleitungen zu bieten, wo die übrigen Zeichen un¬
deutlich sind. Auch diese meine Abhandlung geht darauf aus, die
Aufmerksamkeit auf einen bis jetzt beim Ertrinken ziemlich wenig
• beachteten Befund zu lenken, und zu zeigen, welche Schlüsse man
aus diesem Befunde ziehen kann, wenn es sich darum handelt, diese
•Todesart betreffende Fragen zu beantworten. Es ist dies das Ein¬
dringen der Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme.
, Das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Ertränkungsflüssig¬
keit im Magen ist schon seit den ältesten Zeiten ein Gegenstand der
• besonderen Aufmerksamkeit der Gerichtsärzte gewesen und das Vor¬
finden derselben hat lange für ein sehr zuverlässiges Zeichen des Er¬
trinkungstodes gegolten, und zwar um soviel mehr, da dieses
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Original from
UMIVERSITY OF IOWA
Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 5
Zeichen einen vitalen Act in den letzten Lebensaugenblicken vcr-
rauthen lässt.
Schon im Jahre 1575 sagt Ambroise Pare, dass die Zeichen
davon, dass ein Mensch bei lebendem Leibe in’s Wasser geworfen
worden ist, darin bestehen, dass man Magen und Bauch mit Wasser
angefüllt findet, dass der Nase schmutziger Schleim entströmt, dem
Munde aber Schaum und Gischt, und dass in den meisten Fällen die
Nase blutet. Gewöhnlich sind die Fingerspitzen des Ertrunkenen ab¬
geschürft, dadurch dass er im Sterben den Bodensand kratzt in der
Absicht etwas zu ergreilen, um sich zu retten, und dass er wie ein
Tobender und Rasender stirbt. Ist er dagegen als todt in’s Wasser
geworfen, so sind weder Magen noch Bauch aufgetrieben, da alle
Gänge zusammengefallen und verschlossen waren und der Verstorbene
nicht mehr athmete; auch trifft man alsdann weder Schleim vor der
Nase, noch Schaum vor dem Munde, noch Spuren an den Fingern
und an der Stirn an').
Schon vor Parö war Jacobus Sylvins fast derselben Ansicht
gewesen. In der Uebersicht, welche er im Jahre 1555 von den ana¬
tomischen Werken des Hippocrates und Galen liefert, betont er ganz
besondere den Umstand, dass frische Leichen von ertrunkenen Men-i
sehen diejenigen sind, welche sich am meisten zu anatomischen Dis-
sectionen eignen, wenn man nämlich mit den Händen auf den Magen
drückte und dadurch das viele in den Magen eingedrungeDe Wasser
durch den Oesophagus ausleerte 2 ).
Auch Fortunatus Fidelis*) (1603) und Rodericus a Castro 4 )
') Ambroise Pare, Oeuvres completes. Edit. Malaigne. Paris 1841.
Tom. III, pag. 651. — Vergleiche auch: Ambrosii Parei opera chirurgica.
Edit. Jacobi Guillemeav, Parisiis MDLXXXII. De renuntiationibus et cadaverum
embammatibus tractatus. pag. 878.
3 ) Sylvius, Jacobus, Hippocrates et Galeni anatomiam Isagoge 1555.
Citirt uach Morgagni opera omnia. Tom. III. De sedibus et causis morborum.
Batavii 1765 üb. II (De morbis thoracis). Epistolae anatomico medicae XIX,
pag. 160. Art. 40: . . . quod in his omnia sunt integra. si aqvae inagnam vim
ex \entriculo manibus compresso per oesophagum effuderis.
3 ) Fidelis, Fortunatus, De relationibus medicorum, sect. IV. Panorm.
in Sicilia 1603. Cap. IV de sufTocatis. Citirt nach Mendc, L. J. C., Ausführ¬
liches Handbuch der gerichtlichen Medicin. Leipzig 1819. Bd. I, pag. 407.
4 ) Rodericus a Castro, Tractatus medico-politicus seu de officiis me-
dico- politicis. Lib. IV. Hamburg 1614. Citirt nach Mende. 1. c. Bd. I,
pag. 407.
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4 .
Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
6
Dr. Pagerlund,
(1614) erwähnen unter den Zeichen des Ertrinkungstodes einen „ auf¬
getriebenen Bauch (alvus etiam intumescit)“: PI ater macht aber
schon die Bemerkung, dass Fälle Vorkommen, wo nur eine sehr ge¬
ringe Wassermenge im Magen der Ertrunkenen angetroffen wird. Er
beantwortet nämlich die von ihm 1614 aufgeworfene Frage: „Sollten
wohl diejenigen, welche im Wasser ertrinken, durch Erstickung
sterben?“ in folgender Weise: „Dass diejenigen, welche im Wasser
untergeheD, nicht dadurch sterben, dass sie allmälig zu viel Wasser
verschlucken, sowie man es allgemein glaubt, sondern weil sie er¬
sticken, wird also bewiesen: das Wasser kann nur dann in den Magen
eindringen, wenn der Mensch schluckt; da das Schlucken aber eine
von unserem freien Willen abhängige Bewegung ist, so kann es so¬
wohl im Wasser als ausserhalb desselben verhindert werden, und
weil man zum Schlingen nicht*gezwungen werden kann, ist es klar,
* dass wenn auch vielleicht in der Gefahr und in der Angst etwas
Wasser verschluckt wird, so geschieht dies in geringer Menge und ist
dasselbe durchaus nicht im Stande, den Leidenden so schnell zu
tödten. Diese Beobachtung habe ich bei der Untersuchung des Magen¬
inhalts einiger Ertrunkener gemacht, bei denen ziemlich wenig Wasser
in dem genannten Organe angetroffen wurde. Auch ist es sicher, dass
jenes Wasser, welches von den aus dem Wasser gezogenen Körpern
abtrieft, wenn man diese mit dem Kopfe nach unten kehrt, eher den
Kleidern der Ertrunkenen entströmt. Wenn daher das Einathmen von
Luft vermittelst der Respiration durch das Wasser verhindert wird,
wenn anstatt der Luft Wasser in die Luftröhre dringt, so wird da¬
durch die Erstickung bewirkt, und diese führt wiederum den Tod
herbei“ *).
Paulus Zacchias, hierin mit Pare, Fortunatus, Fidelis und
Rodoricus a Castro übereinstimmend, erklärt dagegen 1621 —1652
„dass bei denjenigen, welche lebend in’s Wasser gerathen sind, der
Bauch mit Wasser angefüllt und aufgetrieben ist. Er fügt jedoch
hinzu, er sei dennoch der Ansicht, „dass diejenigen, welche im Wasser
ersticken, eher in Folge der gehemmten Respiration sterben, als in
Folge der Wassermenge, die sie verschluckt hätten .... Bei dem¬
jenigen hingegen, welcher als todt in’s Wasser geworfen worden ist,
bemerkt man nicht solches, denn weder schwillt sein Bauch an, da
’) FelicisPlatori, Questionum medicarum. Basileae 1656. pag. 100.
Questioues Pathologicae No. 55.
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Original from
UNIVERSUM OF IOWA
Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 7
ja bei dem Todten alle Gänge und Kanäle zusammen fallen und somit
das Eindringen dos Wassers verhindert wird, noch dringt Schaum aus
seinem Munde“ ‘).
Waldschmidt 2 ) versichert jedoch schon im Jahre 1688, dass
es ihm niemals möglich gewesen sei, im Magen oder in der Brust
der Ertrunkenen auch nur einen einzigen Tropfen Wasser zu finden.
Nach Tourdes’ Angaben soll die medicinische Facultät zu Leipzig
schon im Jahre 1689 erklärt haben, dass das Vorhandensein von
Wasser im Magen der Ertrunkenen ein‘Befund von geringer Zuver¬
lässigkeit sei, auf welchen man kein grosses Gewicht legen ■dürfte
und welches sogar den Gerichtsarzt irre führen könne 3 ).
Ebenso behauptet Becker (1704), dass das Wasser nicht in den
Magen der Ertrinkenden dringen könne und dass er bei den von ihm
ausgeführten Obductionen von Ertrunkenen, sowie bei seinen Er-
tränkungsexperimenten an Thieren entweder gar kein Wasser oder
nur eine sehr unbedeutende Menge desselben ip Magen angetroffen
habe. „Sowohl die Aerzte als auch der grosse Haufe,“ sagt er 4 ),
„sind der Ansicht, dass diejenigen, welche im Wasser ertränkt wer¬
den, eine solche Menge dieser Flüssigkeit in sich aufnehmen müssen,
dass der ganze Magen angefüllt wird und anschwillt, d. h. dass Ab¬
domen und Thorax (denn in den Namen venter will man auch diesen
letzteren einbegreifen) so angefüllt werden, dass nichts mehr darin
Platz findet. Die von einer so grossen Wassermenge ausgedehnten
Eingeweide können ihre Functionen nicht weiter fortsetzen, die Be¬
wegungen des Horzens, der Lungen und des Blutes sind gehemmt,“
selbst die Königin der Eingeweide, das Herz, hört auf ihre Pflicht zu
“thun, der Lebensfunke erlöscht und erstarrt in Folge der Kälte des
Pauli Zacchiae, Questionum Medicolegalium. Ed. cura Juan Danielis
Horstii. Lugduni 1676. Lib. V, tit. II, quest. XI, pag. 394.
-) Epheroeridium medico. physicar. german. acad. imper. Leopoldinae Na-
turac Curiosorum. Decuria II. Annus 6. Norriunbergiao MDCLXXXVIII. Ob-
servat. 153. D. Joh. Jacobi Waldschmidii Anatome aquis submersorum.
Hinc in‘submersiS ne guttulam quidem aquae in ventriculo, aut in tboracc repff-
rire nunquam lieuisse, confirmavit.
3 ) Tourdes, G., Dictionnaire encyclopedique des Sciences m4dicales.
3if>me serie. -Tom. 12. Submersion, pag. 507.
*) Johan Conradi Becker, Paradoxum medico-legale de submersorum
morte sine pota aqua. Alsfeldiae 1704. §§ VI. IX. XLVII. Enthalten in: M.
B. Valentini corpus juris medicolegale. Francofurti ad Moenum. 1722. Novellae
Medicolegales pag. 105. Casus XVI, § VI : ... .
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8
Dr. Fagerlund,
Wassers. Sobald das Herz zugestopft ist, werden die übrigen Theile
des Körpers nicht mehr bestrahlt, und auf diese Weise kommt der
Mensch um. . . . Durch einige .... (an Menschen sowie an Thieren)
gemachte Beobachtungen habe ich mir eine bessere Einsicht erworben,
und um Rechtsgelehrte sowie Aerzte hierauf aufmerksam zu machen,
kann ich es nicht unterlassen, dies aufzuzeichnen, und versichere ich
ljiermit, dass Ertrunkene ohne Wasser sterben, d. h. weder in die
Lungen noch in die Gedärme Wasser aufnehmen, und dass während
der nächstfolgenden Augenblicke nach dem Ertrinken der Schlund so
zuge^chlossen wird, dass das Eindringen des Wassers in die Lungen
und in die Gedärme unmöglich wird, und dass man daher den Tod
der Verunglückten ausschliesslich einer gehemmten Respiration zu¬
schreiben muss.“ Und er fügt noch hinzu: „Da der Weg durch den
Schlund abgesperrt worden ist, so gelangt kein Wasser bis in den
Magen und wenn eine ganz geringe Menge dieser Flüssigkeit einge¬
drungen ist und sich .mit dm Chylus vermischt hat, so ist dieses
während der ersten Augenblicke des Sinkens, bei irgend einer Schling¬
bewegung, geschehen, bevor das Blut zu fliessen aufhörte, bevor die
Gefässe anschwollen und der Schlund zusammengedrückt wurde.“
Littrc dagegen schreibt im Jahre 1719, dass er bei ertrunkenen
Menschen „einen aufgetriebenen Bauch, ziemlich viel Wasser im Magen,
woniger in den Gedärmen und eine geringe Menge in den Lungen“
angetroffen habe 1 ).
1725 macht Albertus die Bemerkung, dass nur ein wenig
Wasser im Magen der Ertrunkenen vorgefunden wird, falls diese nicht
in ihrer äussersten Noth dasselbe in sich gezogen haben, welches
jedoch nicht immer vorkomrat 2 ).
Sönac besteht 1725 fest darauf, dass die Ertrinkenden durch¬
aus kein Wasser verschlucken können, und wenn sie es doch thun,
so geschieht dies in zu.geringer Menge, um davon zu sterben 3 ).
In dem von Reaumur im Aufträge der wissenschaftlichen Aca-
demie zu Paris 1740 herausgegebenen Rathgeber bei Errettung von
*) Sur les noyes. Histoire de l’academie royale des Sciences. Annee
MDCCXIX. Paris MDCCXX1. pag. 26 ... .
2 ) D. Michaelis Alberti systema jurisprudentiae medicae directum et
cum praefatione Christiuni Thomasii. Halae MDCCXXV. pag. 224, § XIII . . .
3 ) Sur les noyes. „ Histoire de l’academie royale des Sciences. Annee
MDCCXXV. Paris MDCCXXVII. pag. 12 ... .
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 9
Ertrunkenen“ 1 * ) wird auch darauf hingewiesen, wie man durch Dis-
sectionen, welche erprobte Anatomiker ausgeführt haben, die Er¬
fahrung gewonnen hat, dass Wasser gewöhnlich nur in einer geringen
Menge im .Magen der Ertrunkenen angetroffen wird.
Röderer schreibt wiederum im Jahre 1750, dass wenn die Ver-
• suche mit lebendigen Thieren so angestellt werden, dass ein gesundes
munteres Thier im Wasser untergetaucht und daselbst gehalten wird,
so werden .die Werkzeuge der Kehle und des Schlundes, durch die
Furcht und *die Bemühungen einzuathmen, so in Bewegung gesetzt,
dass sowohl in die Lungen als in den Magen Wasser eingezogen und
gleichsam eingeathmet und zugleich verschluckt wird. Eben dies ge¬
schieht, wenn unter gleichen Umständen ein Mensch im Wasser ver¬
unglückt *).
. 1751 erklärt Hebenstreit 3 ), er sei der Ansicht, dass die¬
jenigen, welche plötzlich in einen tiefen Fluss versenkt werden, nicht
Wasser trinken können, dass aber diejenigen, welche im Kampfe mit
dem Tode einige Zeit an der Oberfläche verbleiben, sich nicht davon
abhalten können, Wasser zu verschlucken, woher auch dies kein be¬
ständiges, dennoch aber kein zu verachtendes Zeichen sei, besonders
wenn die im Magen des Verstorbenen angetroffene Flüssigkeit der¬
jenigen ähnlich ist, in welcher die Leiche gefunden wurde. Um diese
Frage zu beleuchten, citirt er eine von ihm ausgeführte Section eines
Kindes, das die Mutter bei der Geburt in ein Wasser und Menschen-
koth enthaltendes Gefäss hatte fallen lassen. Bei diesem Kinde fand
er den Bauch - von einer stinkenden Flüssigkeit aufgeschwollen und
ausgespannt, und zwar überzeugte er sich durch eine nähere Unter¬
suchung derselben Flüssigkeit davon, dass sie keine Amniosflüssigkeit,
sondern mit.der in dem Gefässe, in welches das Kind fiel, iden¬
tisch sei.
Ausserdem war H. der Ansicht, dass Ertrinkende mit einer Inspi¬
ration (inspirando) sterben, und dass das sich contrahirende Diaphragma
die Eingeweide des Bauches nach unten schiebt, wodurch dieser letz-
l ) Avis pour donner du seoours ä ceux que l’on croit noyes. Zu finden in:
Louis. Lettres sur la oertitude des signes de la mort. Paris 1752, pag. 250...
De submersis aqua observationes. Programm. Göttingen 1750. §53.
Citirt nach v. Müller. Entwurf der gerichtlichen Arzneywissonschaft. Frank¬
furt am Main 1801. Bd. IV, pag. 24.
3 ) Hebenstreit, D. Jo. Ern., Anthropologia forensis. I.ipsiae MDCCLI,
sect. II, membr. II, cap. II, art. III. De laesionibus thoracis. § 6, pag. 483 . . .
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10
Dr. Fagerlund,
tero aufgetrieben wird. Diejenigen, welche todt in’s Wasser gerathcn,
und die demnach mit einer Exspiration (exspirando) gestorben sind,
haben also keinen aufgetriebenen Bauch (wenn nicht in Folge einer
beginnenden Verwesung).
Louis, welcher der erste war, der bei seinen mit Thieren ge¬
machten Ertränkungsversuchen gefärbte Flüssigkeiten benutzte, um .
besser beobachten zn können, bis wie weit die Ertränkungsflüssigkeit
in den Versuchsthieren vordringt, bleibt im Jahre 1752 dabei, dass
man wohl nicht behaupten könne, dass die Ertrinkenden gar kein
Wasser verschlucken, dass aber das Wasser, welches sie verschluckt
hätten, nicht ihren Tod verursachen könnte 1 ).
Auch Evers sagt im Jahre 1753, es sei nicht zu bezweifeln,
dass man im Magen der Ertrunkenen dasselbe Wasser antrifft, worin
sie ertrunken sind, dass er durch an Leichen ertrunkener Menschen
gemachte Beobachtungen, sowie durch Untersuchungen an in gefärbten
Flüssigkeiten ertränkten Thieren gefunden habe, dass das Wasser nur
durch das Schlucken allein in den Magen eindringt und dass man es
folglich nur bei denen findet, welche lebend ins Wassor gerathcn sind
und welche nicht vorher einen mit Speise so angefüllten Magen hatten,
dass dort für Wasser kein Platz mehr übrig war. Um sich davon
zu überzeugen, inwiefern nach dem Tode Wasser in den Magen ein-
dringen könne, versenkte er todte Thiere in gefärbte Flüssigkeiten,
wo er sie bis zur eintretenden Verwesung liegen Hess; nie fand er
aber Wasser in ihrem Magen, nicht einmal, wenn er ihnen eine solche
Lage gegeben hatte, dass ihnen das Wasser mit seinem Gewichte
gerade in den Mund hineinrann. Er hat niemals bemerkt, dass das
Wasser bei Ertrunkenen weiter als in den Magen, d. h. bis in die
Därme, vorgedrungen wäre 2 )- — Haller 3 ) stimmt mit Evers über¬
ein, doch erzählt er zugleich, er habe bei jungen von ihm ertränkten
Hunden Lungen und Magen ganz frei von Wasser angetroffen, auch
! ) Louis, Lettres sur la certitude des signes de la mort. Paris 1752.
pag. 236.
2 ) Experimenta circa submersos in animalibus instituta. Diss. Presido.
J. G. resp. auctor E. J. A. Evers. Gottingiae MDCCLIII, § XXIV—XXXIII.
3 ) Haller Albertus, Opuscul. pathol. observat. LXII. Citirt nach:
Günther, Revision der verschienenen Ansichten über die Todesart der Er¬
trunkenen und Erhängten, nebst Prüfung derselben. (Zeitschrift für die Staats¬
arzneikunde, herausgegebou von Adolph Henke. Bd. XIII. 1827. Heft 2.
pag. 345.)
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 11
wenn die Thiere den Mund unter dem Wasser geöffnet und die Zunge
ausgestreckt hatten').
Morgagni 2 ) giebt zwar im Jahre 1761 zu, dass weder er, noch
sein Lehrer Valsava die Gelegenheit gehabt hätten, Leichen ertrun¬
kener Menschen zu seciren. Im Magen ertränkter Thiere hat er jedoch
niemals Wasser angetroffen, will aber dennoch durchaus nicht die von
anderen Verfassern angeführten Beispiele eines entgegengesetzten Ver¬
hältnisses in Zweifel ziehen.
De Haen macht 1769 in folgender Weise auf die Unzuverlässig¬
keit dieses Zeichens aufmerksam: Sollten nicht solche ertrinken,
welche kurz vorher Wasser oder ähnliche Flüssigkeiten getrunken
hatten, und da nun die Meisten keine solche im Magen der Leichen,
andere wiederum dieselbe angetroffen haben, sollte man da nicht, an¬
nehmen müssen, dass diese Vorgefundene Flüssigkeit gerade die kurz
vor dem Tode getrunkene sei? 3 )
Von den beiden schwedischen Gerichtsärzten Kiernander 4 )
(1777) und Martin 5 ) (1783) stimmt erstercr ganz und gar mit
Mich. Albertus, Letzterer mit Hebenstreit überein.
, Walter dagegen, welcher die Gelegenheit gehabt hat, eine Menge
Ertrunkener zu untersuchen, behauptet 1785, niemals Wasser im Magen
derselben angetroffen zu haben 6 ).
Plenk erwähnt 1786 unter den Merkmalen des Todes durch
Ertrinken des Befundes von Wasser oder einer anderen Ertränkungs-
flüssigkeit im Magen der Verstorbenen 7 ).
') Haller Albertus, De respiratione experim. P. 2 ad. d. 39 not. i.
Citirt nach Morgagni opera omnia Patavii 1765. Tom. III, lib. II. Epist. anat.
med. XIX. Art. 43.
*) Jo. Baptista Morgagni opera omnia Tom. III. De sedibus et causa
morborum. Batavii 1765, lib. II. Epistolae anatomico-medica XIX, pag. 160,
art. 40 — 44.
3 ) Antonii de Ilaön, Ratio modendi. ParsXIII. Wiennao 1769. Cap.III.
De auxiliis praestandis his, qui aut in aqua, aut aliis de causis sufTocati sivo
morte propinqui videntur, sive veram mortem simulaverant. §. III.
4 ) Kiernander, Jon., Utkast tili medicinallagfarenhelen. Stockholm
1777, pag. 724.
5 ) Martin, Roland, Läkaregrunder tili biträde för styresmän och domare.
Stockholm 1777. pag. 724.
6 ) Walter, J. G., Von den Krankheiten des Bauchfelles und dos Schlag¬
flusses. Berlin 1785.
7 ) Josephi Jacobi Plenk, Elementa medicinae et chirurgiae forensis.
Ed. secunda. Wionnae 1786, pag. 30 ... . Signa aqua submersorum rivorum
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12
Dr. Pagerlund.
Auch Schimm erzählt 1788, er habe gefunden, dass Wasser bei
Thieren immer in den Magen, aber niemals bis in die Därme vor¬
dringt, dass Ertrinkende in Folge des in die Lungen eindringenden
Wassers sterben und dass, nach dem Tode, kein Wasser weder in den
Magen, noch in die Lungen eindringen kann •). Ebenso sagt auch
Viborg 1807, dass ertrinkende Thiere Wasser verschlucken 2 ).
Augustin 3 ) sagt im Jahre 1803, dass das im Magen etwa vor¬
handene Wasser mit dem verglichen werden müsse, worin der Todte
gefunden wurde, um daraus schliessen zu können, ob der Todte davon
verschluckt und also von demselben ertrunken sei. Zu den Zeichen
davon, dass der Verstorbene schon als Todter ins Wasser gerathen
ist, zählt er die Abwesenheit des Wassers und fremdartiger Substanzen
in der Luftröhre und im Magen. Er theilt uns zugleich ein von dem
preussischen Ober-Collegio-Medico 1788 gegebenes „Responsum“ mit,
in welchem es sich um ein im Wasser gefundenes Kind handelt und
in welchem der Befund von verschlucktem Wasser im Magen unter
den definitiven Kennzeichen des Ertrinkungstodes aufgezählt wird. —
Auch Gadelius nennt 1804 unter den Kennzeichen des Ertrinkens
den Befund von Wasser im Magen 4 ).
1826 macht Klein 5 ) darauf aufmerksam, dass er noch niemals
Wasser in den Lungen und in den Bronchien, jedes Mal dagegen
etwas, oft sogar recht viel solches im Magen gefunden hat und 1820
sunt: 1) Suffocationis signa generalia. 2) In ventriculo plus minus aquae, aut
fluidi quod corpus circumdedit.
*) Schimm, Franc. Anton, Diss. de submersis. Argentorati 1788. —
(Citirt nach: Müller, J. Val. Entwurf der gerichtlichen Arzneiwissenschaft.
Bd. IV. Frankfurt am Main 1801, pag. 27.)
2 ) Wiborg, E., Ueber das Ertrinken. Neues nordisches Archiv für Natur¬
kunde, Arzneiwissenschaft und Chirargie von Pfaff, Scheel und Rudolphi.
Bd. I, 1807, S. 1—44 und 295—298. Vergleiche: Kopp, J. H., Jahrbuch
der Staatsarzneikunde II. 1809, pag. 413.
3 ) Augustin, F. L., Von den Kennzeichen zur Entscheidung der Frage:
Ob ein im Wasser gefundener Mensch lebendig in’s Wasser gerathen und darin
ertrunken, oder ob er vorher gestorben und hernach in’s Wasser geworfen sey?
Archiv der Staatsarzneikunde von F. L. Augustin. Bd. I. Erstes Stück. Berlin
1803, pag. 22.
4 ) Gadelius, Eric., Handbok i mediciuallag-farenheten. Stockholm 1804,
pag. 215.
5 ) Klein, Bruchstücke zu der gerichtlichen Medicin. Hufeland’s Journal
der praktischen Heilkunde. 1816. November. Vergleiche: Jahrbuch der Staats¬
arzneikunde, herausgegeben von J. H. Kopp. Bd. X. 1817, pag. 215.
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Ueber das Eindringen von Ertränknngsflüssigkeit in die Gedärme. 13
sagt Metzger 1 ), dass, wenn die Zeichen äusserlicher Gewalt, welche
den Tod hätten bewirken können, fehlen, so ist die grösste Wahr¬
scheinlichkeit des Ertrunkenseins vorhanden, und besonders scheint
diese Meinung dann richtig zu sein, wenn sich Wasser im Magen findet,
indem das Schlingen Leben voraussetzt.
ln seinem epochemachenden, zwischen 1821—1823 erschienenen
Werke Traitö de la raödecine lögale sagt Orfila 3 ): Der Magen von
Ertrunkenen enthält last immer Wasser, während es sich in dem von
Subjecteu, die man nach dem Tode ins Wasser gesenkt hat, nicht
findet; diese Flüssigkeit dringt selbst in dieses Eingeweide von dem
ersten Augenblicke des Ertrinkens, wie unsere Versuche, jene von
Dr. Piorry und von Dr. Edward Jenner Coc beweisen; dieses
Zeichen kann für den Beweis des Ertrinkens bei lebendem Leibe nur
insofern Werth haben, als anerkannt ist, dass die im Magen gefun¬
dene Flüssigkeit jener ganz ähnlich sei, welche den Körper umgiebt,
dass sie nicht vor dem Ertrinken verschluckt, nicht nach dem Tode
in den Magen eingespritzt worden sei.
Schon im Jahre 1829 ist Devergie 3 ) derselben Meinung wio
Orfiia und noch 1840 vertheidigt er dieselben Ansichten, nur macht
er das letztere Mal darauf aufmerksam, dass Wasser auch in einigen
Theilen der Därme angetroffen werden kann.
Marius sagt 1831 4 ), dass Wasser nicht selten im Magen ange¬
troffen wird, bisweilen sogar in beträchtlichen Mengen.
Klose (W. F. W.) versichert, er habe in den meisten Fällen
den Magen stark mit Wasser angefüllt gefunden und Klose (C. L.) s )
fügt 1831 folgende Bemerkung hinzu: Auf jeden Fall kann dieses
Zeichen nur dann Beweiskraft haben, wenn der Verstorbene nicht in
blossem Wasser ertrunken ist und die Flüssigkeit, in welcher dio
Leiche gefunden wurde, mit der im Magen vorhandenen übereinstimmt.
Metzger, Job. Dan., Kurzgefasstes System der gerichtlichen Arznei¬
wissenschaft. Aafl. 5. Königsberg and Leipzig 1820, § 194 b.
2 ; Traite de la medecine legale. Tome II.
*) Devergie, Alph, Coup d’oeil göneral sur les signes qui peurent faire
connaitre que fimmersion a eu lieu du vivant de l’individu. Annales d'hygiene
publique et de medecine lög&le. Tome II. Paris 1829. pag. 438. — Devergie,
Alph. Medecine lögale theorique et pratique. Paris 1840. Tome II, pag. 413...
1 2. Existence d’euu dans l’estomac et dans une partie des intestins.
4 ) Masius, Georg Heinr., Handbuch der gerichtliohen Arzneiwissen-
schaft. Bd. II, Abtbl. 2 von Carl Ludwig Klose. Stendal 1831, pag. 321.
s ) Ibidem pag. 321 not. z. •
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14
Dr. Fagerlund,
Nach dem Tode dringt kein Wasser in den Magen und dennoch be¬
weist auch die Abwesenheit dieses Merkmals nichts, weil möglicher¬
weise der Ertrunkene im Wasser nicht geschlungen hat.
Kaiser sagt 1832'): .... „Es kann sonach die Möglichkeit,
dass während des Ertrinkens Wasser verschluckt wird und in den
Magen gelangt, keineswegs geleugnet werden, aber das Zugegenscin
von Wasser in dem Magen für sich kann nicht als sicherer Beweis
für den Ertrinkungstod gelten; nur in Verbindung anderer Zeichen
und Verhältnisse für den Ertrinkungstod verdient es beachtet zu
werden und kann selbst den Beweis für den Erstickungstod erhöhen.
Ich glaube, dass bei solchen Menschen und Thieren, die todt in’s
Wasser geworfen werden, kein Wasser mehr in den Magen gelangen
kann .... Kann es wirklich und bestimmt dargethan werden, dass
in dem Magen eine Flüssigkeit von derselben Qualität angetroffen
wird, wie die war, in welcher der Unglückliche ertrank, so wird da¬
durch die Beweiskraft dieses Zeichens allerdings erhöht, zur Untrüg-
lichkeit gelangt es aber auch hier nicht, wie überhaupt das Zugegen¬
sein von Wasser im Magen zu den unsicheren und trüglichen Zeichen
des Todes im Wasser gehört.“ Er erwähnt auch des Befundes von
Ertränkungsflüssigkeit in den Därmen.
Albert spricht sich 1833 in folgender Weise hierüber aus 2 ):
„Es ist allerdings wahr, dass jedes Individuum, welches lebend und
gesund in’s Wasser kommt, ehe es noch zu athmen beginnt, einige
Malo mit dem Munde Wasser einfängt, nichtsdestoweniger findet man
doch nach meinen Versuchen, sowie nach jenen des Herrn Professor
Meier, Plattner, Morgagni und anderen Aerzten ausgeführten,
bei vielen so wenig von der Flüssigkeit im Magen, dass man sie,
wenn sie angefärbt ist, nicht erkennen kann, besonders wenn sie sich
mit dem Speisebrei, der meistens zugegen ist, vermischt hat. Jedoch
geschieht es auch bisweilen, wie ich selbst einige Mal beobachtete,
dass bei Individuen, die nach dem Tode noch länger im Wasser liegen,
vorzüglich aber bei jenen, welche todt dahin gelangen, die Flüssig¬
keit durch die gelähmte Speiseröhre allmälig in den Magen dringt
') Kaiser, Karl Ludwig, Ueber das Wesen und die besonderen Formen
des Todes durch Ertrinken. Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, herausgegeben
von Adolph Henke. 16. Ergänzungsheft. Erlangen 1832, pag. 54—57.
2 ) Albert, Ueber die Todesart des Ertrinkens. Zeitschrilt für die Staats¬
arzneikunde, herausgegeben von Adolph Henke. 13. Jahrgang, 4. Viertel¬
jahrsheft 1833, pag. 359. *-•
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UNIVERSUM OF IOWA
Deber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 15
und den Raum desselben ausfüllt. Es kann deshalb dieses Zeichen
zu diesem unseren Zwecke nicht benutzt werden, weil es in den meisten
Fällen schwer zu erkennen ist und, wenn es auch gefunden wird,
dennoch nicht entscheiden kann, weil es auch bei den todt ins Wasser
Gelangten vorkommt.“
Wie ein Wiederhall aus vergangenen Zeiten lautet Thorason’s 1 * )
Ausspruch 1839: „Im Magen findet man nur eine geringe Menge
Wasser oder gar keins, und selbst wenn Wasser in diesem Organe
-vorhandeu ist, so kann es auf koine Weise zum Tode beigetragen
haben*. Wahrscheinlich wird man seltener Wasser im Magen finden,
wenn der Körper nach dem Tode ins Wasser geworfen, als wenn er
lebendig ertränkt worden ist.*
Löffler (1844) a ), welcher ebenfalls den Befund von Wasser im
Magen, zuweilen sogar in den Därmen Ertrunkener beobachtot hat,
ist ganz derselben Ansicht wie Orfila in Hinsicht der Wichtigkeit
und Bedeutung, welche man dem Vorhandensein dieser Flüssigkeit
beilegen kann.
Tischendorf 3 ) macht 1847 darauf aufmerksam, dass man des
Befundes von Ertränkungsflüssigkcit im Magen selten entbehren müsse
und dass dieser Befund um soviel mehr in die Augen fällt, je hef¬
tiger der Todeskampf war. Wo jedoch diese Flüssigkeit reines Wasser
ist, wird dieses Zeichen an und für sich einen weniger sicheren Halte¬
punkt d^rbicten.
Maschka 4 ), welcher bei den von ihm theils lebendig, theils
todt in eine gefärbte Flüssigkeit untergetauchten Thieren noch nie
jenes Ertränkungsmcdium im Magen und unter 14 Ertrunkenen nur
bei *2 einen wässerigen Mageninhalt angetroffen hat, schreibt im Jahre
1849: Wie wir bereits früher durch die angeführten an Thieren vor-
i y A. T. Thomson, Vorlesungen über gerichtliche Arzneiwissenschaft.
In’s Deutsche übertragen unter Redaction des Dr. Fr. J. Behrend. Leipzig
1840. pag. 456.
a ) Löffler, F., Der Tod durch Ertrinken. Adolph Henke’s Zeitschrift für
die Staatsarzneikunde, fortgesetzt von Dr. A. Siebert. 24. Jahrgang. 1844.
prittes Vierteljahrsheft, pag. 48.
3 ) Tischendorf, Julius Valentin. Practische Beiträge zur Lehre vom
Tode durch Ertrinken. Deutsche Zeitschrift für Staatsarznei künde, herausgegeben
von Schneider u. A. Jahrgang 1847. Neue Folge. Zwoiter Band. Heft I,
pag. 665.
4 ) Maschka, Der Ertrinkungstod. Vierteljahrsschrift für die practische
Heilkunde. Jahrgang 1849. Prag. Bd. III, pag. 139.
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16
Dr. Fagerlund,
genommenen Versuche und Eröffnungen ertrunkener menschlicher Leichen
gezeigt haben, kommt die Ertränkungsflüssigkeit äusserst selten im
Magen vor und ist somit schon durch ihre Seltenheit kein bestimmtes
Merkmal des Ertrinkungstodes. Aber selbst in den Fällen, wo bei
Ertrunkenen wirklich ein wässeriges Magencontentum vorgefunden
wird, ist dasselbe noch immer kein untrügliches, da der Ertrunkene
noch kurz vor seinem Tode Wasser zu sich genommen haben konnte,
das sich natürlich nach bald darauf erfolgtem Absterben noch da
befindet. Also nur in den Fällen, wo Sand oder andere fremde Körper,,
die das Wasser mit sich zu führen pflegt, in dem wässerigen Magen¬
inhalte vorgefunden würden, wäre man berechtigt den Schluss zu ziehen,
dass dieses Individuum wirklich ertrunken ist, da nach bereits erfolg¬
tem Absterben theils wegen der eng aneinander liegenden Wände des
Oesophagus, theils wegen der auch im Tode geschlossen gebliebenen
Sphinctcren, die Flüssigkeit niemals bis in den Magen gelangen kann,
sowie man auch vice versa höchst selten bei Sectionen (bei sonst
normalen Texturverhältnissen) den Mageninhalt in der Speiseröhre
findet.
Bock 1 ) äussert sich 1850 in folgender Weise: Im Magen findet
sich wohl nie oder nur äusserst selten, eine Spur der Ertränkungs¬
flüssigkeit .... Am werthvollsten ist noch das Vorhandensein eigen-
thümlicher in der Ertränkungsflüssigkeit vorhandener Stoffe im Magen
des Leichnams.
m
Brach 2 ) (1851) hegt ganz und gar dieselben Ansichten wie
Orfila.
Ogston 3 ) fand 1851 unter 53 Leichen bei 36 Wasser im Magen.
Die Menge des Wassers betrug bald nur 1 oder 2 Unzen, bald war
sie so gross, dass sie das erwähnte Organ bedeutend ausdehnte.
Kanzler 4 ) sagt 1852, dass der Befund von Flüssigkeit im
Magen
') Bock, C. E., Gerichtliche Sectionen des menschlichen Körpers. Leipzig
1850, pag. 45.
2 ) Brach, B., Die neueren Ansichten der gerichtlichen Medicin über den
Tod im Wasser und durch das Wasser. Adolph Henke’s Zeitschrift für die
Staatsarzneikunde, fortgesetzt von Dr. Fr. J. Behrend. 13. Jahrgang. 1851.
Viertes Vierteljahrsheft, pag. 339.
3 ) Ogston, Pathologische Studien an der Leiche von Ertrunkenen. London
Gaz. May and July 1851. Citirt nach Schmidt’s Jahrbüchern. 1852, pag. 112.
4 ) Kanzler, Der Tod durch Ertrinken. Vierteljahrsschrift für gerichtliche
und öffentliche Medicin. 1852. Bd. II, pag. 233.
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Qrigin&l fmm
UNIVERS1TV OF IOWA
Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 1 7
1. unter besonderen Umständen einen gewissen Werth haben
könne, nämlich dann: _
a) wenn gleichzeitig mehrere andere wichtigere Zeichen des
Wassertodes bei der Obduction sich vorfinden, in welchem
Falle der Beweis für den Wassertod erhöht wird,
b) wenn im concreten Falle bei der späteren gerichtlichen
Feststellung der Identität des Entseelten sich ergiebt, dass
derselbe den besonderen Umständen nach längere Zeit vor
dem Sturz ins Wasser kein Getränk genossen haben könne;
*2. unter Umständen mit absoluter Gewissheit beweisen könne,
dass das betreffende Individuum ertrunken sein müsse, näm¬
lich dann:
a) wenn sie Sand, kleine Steinchen, Rudimente von Wasser¬
pflanzen (Butomus umbellatus, Sparganium natans, Lemna
vulgaris, Typha latifolia etc.) und andere fremde Körper,
welche das Wasser mit sich zu führen pflegt, enthält: denn
dieselben können unmöglich erst nach dem. Tode in den
Magen gelangt sein,
b) wenn sie identisch mit derjenigen ist, worin die Leiche
lag und dabei gleichzeitig eine solche Beschaffenheit hat,
dass sie sich einestheils durch Farbe, Geruch u. s. w. deut¬
lich zu erkennen giebt, anderntheils nicht wohl als Getränk
genossen sein kann. Sie ist dann nach meiner Meinung
das werthvollste Kriterium des Ertrinkungstodes unter
allen. Fände man z. B. eine Leiche in einem schmutzigen
Sumpfwasser oder gar in Mist- oder Kloakenjauche und
wurde bei der Obduction mit Sicherheit eine gleichartige
Masse nachgewiesen, so stände unwiderleglich fest, dass
das Individuum lebendig in den Sumpf oder die Jauche
gerathen und darin ertrunkon oder ertränkt sei.
Bei lebenden Thieren, welche er in dunkelgefarbte Flüssigkeiten
ertränkte, fand er niemals etwas derselben im Magen vor. Bei schon
vorher getödteten Thieren, die nachher bis 96 Stunden in Kloaken¬
jauche gelegen, hat er niemals etwas von jener Flüssigkeit in dem
ebengenannten Organe angetroffen, und zwar nicht einmal, wenn er
ihnen das Maul auf beiden Seiten bis nach hinten zum Gelenk des
Unterkielers aufschnitt, einen Kork zwischen den Kiefern bofestigto
und die Thiere so im Wasser lagerte, dass der Kopf und das auf die
eben beschriebene Weise offen gehaltene Maul nach oben standen.
Vierteljuhrfschr. f. ger. Med. N. P. LII. 1.
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18
Dr. Fagerlund,
Pappenheim 1 ) meint 1853, dass folgende Ursachen den Ein¬
tritt von Flüssigkeiten jj? den Magen von Leichen verhindern könnten:
1. Zusammenkleben der Lippen; 2. wasserdichter Schluss der
Zähne; 3. Verschluss des Gaumenganges durch Ankleben der imbi-
birten oder nicht imbibirten Zunge an den Gaumen; 4. Zusammen¬
liegen, Zusammenkleben der Speiseröhrenwände; 5. Todtenstarre der
Speiseröhre resp. der Cardia. „. . . Auf jeden Fall“, sagt er weiter,
„wird aber die Anwesenheit von Flüssigkeit (selbst in grosser Masse)
im Magen von Leichen mit hohem Fäulnissgrade für die Diagnostik
des Ertrinkungstodes ohne jegliche Beweiskraft sein. Das Zeichen
wird aber einen hohen Werth für die Fälle haben, deren Revision
die noch andauernde Widerstandskraft der oben besprochenen Momente
aufweist.“
Zschokke 2 ) erzählt 1853: „In keiner einzigen (von 12 Leichen)
konnte also verschlucktes Wasser constatirt werden und dieses bewegt
mich, die Anwesenheit von Wasser im Magen für einen äusserst zweifel¬
haften, unsicheren Beweis des Wassertodes zu halten. Wenn es sich
findet, so entstellt immer die Frage: wurde es nicht schon vor dem
Tode getrunken? und ist dieses von solchem zu unterscheiden, das
während des Todeskampfes verschluckt wurde? .... Endlich soll
sich sogar nach dem Tode Wasser im Magen ansammeln können.
Wenn sich auch ein solcher Vorgang nicht leicht erklären lässt, so
macht er doch diese Erscheinung zu einem viel zweifelhafteren Zeichen
des Wassertodes.“
Wistrand giebt (1853) an, der Magen sei oft mit irgend einer
Flüssigkeit angefüllt; auch meint er, dass nur, wenn diese identisch
mit derjenigen befunden wird, in welcher der Körper angetroffen wird,
oder wenn sie mit Sand, Schlamm oder anderen fremden Stoffen ver¬
mischt ist, so könne sie als ein Beweis des Ertrinkens betrachtet
werden 3 ).
Bei 80 ertränkten Thieren fand er nur in einigen Fällen (bei
! ) Pappen he im, Zur Diagnostik des Todes durch Ertrinken. Viertel-
jahrssebrift für gerichtliche und öffentliche Medicin. Bd. IV. Berlin 1853,
pag. 122.
2 ) Zschokke, lieber plötzliche Todesfälle und Erkentitniss ihrer Ursachen,
sowie über Veränderung der Leichen durch Fäulniss. Deutsche Zeitschrift für
die Staatsarzneikunde. N. F. Erster Band. 1855, Heft I, pag. 170.
3 ) Wistrand, A. T. och A. H. Handbok i rättsmodicinen. Bd. 11. Stock¬
holm 1853, pag 051 und 6G1.
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lieber das Eindringen von Ertränkungsllüssigkeit in die Gedärme.
19
weitem nicht in allen) Spuren von dem Ertränkungsmedium im
Magen ’).
v. Faber 2 ) fand 1856 in 4 Fällen (von 20 Ertrunkenen) 12 bis
16 Unzen mit Schleim vermischtes Wasser im Magen, und zwar konnte
man annehmen, dass diese Flüssigkeit von aussen her eingedrungen sei.
Oasper schreibt 1856*), dass „in den meisten Fällen mehr oder
weniger Wasser im Magen wirklich gefunden wird, von einer ganz
schwappenden Anfüllung an bis zu wenigen Esslöffeln. . . . Ausser
gewöhnlichem Wasser kann ein günstiger Zufall es bewirken, dass
man eine eigentümliche Ertränkungsflüssigkeit, die nie ein Mensch
trinkt . . . ., im Magen, wenn auch in noch so geringer Menge, findet,
und dann ist wieder ein unumstösslicher Beweis des wirklich erfolgten
Ertrinkungstodes hergestellt.“ 1860 4 ) macht er zugleich darauf auf¬
merksam, dass die Fälle ungemein häufig sind, in denen man, zumal
bei Leichen, die noch nicht lange im Wasser gelegen hatten, das
verschluckte Wasser deutlich und unvermischt auf dem dickeren Speise¬
brei schwimmen sieht.
Taylor-Wald 5 ) (1858) meint, dass Wasser fast immer, und
wahrscheinlich zum grössten Theile unfreiwillig, verschluckt wird,
dass aber dieser Befund nur in denjenigen seltenen Fällen einen un-
umstösslichen Beweis für den Ertrinkungstod liefert, wenn sich in
dem verschluckten Wasser solche Partikeln finden, die offenbar aus
der Flüssigkeit stammen, in der die Leiche gefunden wird, als Wasser¬
linsen, Moos, Schlamm, Moorerde, oder wenn die Flüssigkeit eine
solche, die weder je ein Mensch trinkt, noch die vermöge ihrer brei¬
artigen Beschaffenheit ohne die vitale Action des Schluckens, selbst
bei längerem Aufenthalte der Leiche in derselben, durch die Speise-
*) Wistrand, Aug. Tim. Experimenter pä dödado djur; eit bidrag tili
undersökningarna om drunknades dödssält. Tidskrift för läkare och pharmaceuter
1838. No. 11 och 12. Findet sich auch in: „Deutsche Zeitschrift für die
Staatsarzneikunde“ Bd. XI, 1851, pag. 235, unter dem Titel: Beobachtungen
über verschiedene Zustände der Lungen bei ertränkten und auf andere Weise ge-
’.ödteten Thieren.
'-) v. Faber E.. Resultate von einer Reihe Legalsectionen mit Bemerkungen
über den Selbstmord. Deutsche Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Neue
Folge. Bd. VIII, pag. 89.
*) Casper, Johann Ludwig, Fractisches Handbuch der gerichtlichen
Medicin. Berlin 1857, pag. 566. . . .
4 ) Ibidem. Dritte Aufl. Bd. II. Berlin 1860, pag. 610.
i ) Wald, Hermann, Gerichtliche Medicin. Leipzig 1858. Bd. I, pag. 182
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2 *
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20
Dr. Fagerlnnd,
röhre in den Magen dringen könnte. Der Mangel an Wasser ira Magen
ist für ihn kein Beweis gegen den Ertrinkungstod und seiner Ansicht
nach ist das Eindringen von Flüssigkeit in den Magen auch nach
dem Tode nicht unmöglich.
Märklin 1 ) theilt uns 1859 einen Fall mit, in dem er Sand im
Magen und im obersten Theile der Dünndärme eines neugeborenen
Kindes antraf, welches noch nicht geathmet hatte. Er ist der An¬
sicht, das lebende Kind sei unmittelbar nach der Geburt in das sand¬
führende Wasser gebracht worden .... und sagt er weiterhin: „so
würde sich für die gerichtliche Medicin daraus der Satz entwickeln
lassen, dass das Schlingen resp. des Inhalts des Magens unter beson¬
deren Umständen einen Beweis für stattgehabtes Leben eines Neu¬
geborenen nach der Geburt abgeben könne, auch dann, wenn weder
die Erscheinungen der vorhanden gewesenen Respiration, noch jene
der stattgefundenen Blutcirculation aufzufinden sind.“
Lambert 2 ) glaubt auch nicht, dass der Befund von Wasser im
Magen einen grossen Werth als Merkmal des Ertrinkens haben könnte,
seitdem man bewiesen hat, dass Wasser auch nach dem Tode in den
Magen eindringen kann. Nur dann kann dieser Befund einen gewissen
Werth haben, wenn fremde Körper, wie Steine, Sand, Theile von
Wasserpflanzen u. dgl. im Magen angetroffen werden.
Liman 3 ) schreibt 1862: „Jeder Ertrinkende schluckt unwill¬
kürlich und nothgedrungen Ertränkungsflüssigkeit, woraus immer sie
bestehen möge. Dieser Befund würde daher ein klassischer sein,
wenn nicht bei notorisch Ertrunkenen der Magen öfters leer gefunden
würde .... Leer wird der Magen gefunden, wenn nur wenig Wasser
verschluckt war und bei vorgerückter Verwesung dasselbe verdunstet
oder ausgeflossen ist. Man findet aber auch bei noch frischen Leichen
den Magen mitunter leer, wenn das Wasser durch den Pylorus in die
Därme geflossen ist, wo es alsdann noch constatirt werden kann . . . .
Man nimmt an, dass Mageninhalt stets den vitalen Act des Sehlin¬
gens voraussetzt, daher aus dem Befunde specifischer Stoffe im Magen
') Märklin, Uebor Leben ohne Atbmen Neugeborener. Vierteljahrsschrift
für gerichtliche und öffentliche Medicin. Bd. XVI. Berlin 1859, pag. 35.
2 ) Lambert, Otto, Ueber die Merkmale des Ertrinkungstodes. Diss.
Giessen 1860, pag. 22.
3 ) Liman, Ertränkungsflüssigkeit in Luftwegen und Magen als Kriterium
des Ertrinkungstodes. Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin.
Bd. XXI. Berlin 1862, pag. 200.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsfliissigkeit in die Gedärme.
21
ein unumstösslicher Beweis des Ertrinkungstodes hergestcllt sei ... .«
Um jedoch den Werth dieses Satzes zu prüfen, legte er Kinderleichcn
in mit Schlamm vermischtes Wasser, und zwar wurde dabei unter
16 Versuchen 7 Mal der specifische Stoff im Magen gefunden. „Diese
Versuche“, sagt Liman, „haben einstweilen keinen anderen Werth,
als dass sie das Dogma erschüttern, dass sie beweisen, dass unter
günstigen, aber durchaus nicht zu fernliegenden Umständen Ertränkungs-
tlüssigkcit und specifische Stoffe nach dem Tode in den Magen (und
die Luftwege) gelangen können . . . Er lenkt schliesslich die Auf¬
merksamkeit auf diejenigen Fälle, in denen man bei z. B. in Kloaken
gefundenen Kindern, deren Lungen noch vollkommen fötal waren,
specifische Stoffe im Magen angetroflfen hat, welche Erscheinung
Casper') für eine von vorrespiratorischen Schlingbewegungen her¬
rührende erklärt. Hierzu sagt wiederum Liman: „Ich bin nun
durchaus nicht gewillt zu leugnen, dass es Vorkommen kann, dass,
wenn ein Kind scheintodt oder sterbend in eine Flüssigkeit geräth
und fremde Körper sich in die Schlingorgane drängen, das verlängerte
Mark zur Vermittelung von Schlingbewegungen gereizt werden könne,
ohne dass es gleichzeitig zur Vermittelung von Athembewegungen
an gereizt zu werden braucht .... Er führt sogar nach Taylor-
Wald einen Fall als Beweis an, wo so zu sagen der erste Respira-
tionszug und der Tod durch Ertrinken zusammenfallen, fügt aber dann
hinzu: »Alle übrigen mir bisher bekannt gewordenen Fälle (4),
namentlich der von Märklin (s. Seite 20 dieser Abhandlung)
betrafen in der Fäulniss schon sehr weit vorgerückte Leichen, die
offenbar lange in den Flüssigkeiten gelegen hatten und lassen sich
mit Rücksicht auf die oben angeführten Versuche einfacher und un¬
gezwungener dahin erklären, dass die Flüssigkeit in die todten Organe
der in den Flüssigkeiten faulenden Leichen hinabgesickert ist.“ Auf
diese seine Ansicht besteht er noch im Jahre 1882, in der in diesem
Jahre herausgegebenen 7. Auflage seines Handbuches.
Schauenstein 2 ) hebt 1862 hervor, dass der Befund von Er-
') Gasser, Johann Ludwig, Practisches Handbuch der gerichtlichen
Medicin. Dritte Auflage. Bd. IF. Berlin 1860, pag. 612. Er fügt jedoch hinzu:
aus deren Befind an diesem Orte folglich an sich nicht, wie in allen übrigen
Lebensaltern daraus geschlossen werden darf, dass das Kind lebend (athmeod) in
die Flüssigkeit gelangt rar. - --
2 , Schauenstein. Adolf Lehrbuch der ^oiichUiohen \ ; edioin. Wien
1862, pag. 422.
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22
Dr. Fagerlund,
Ertränkungsflüssigkeit im Magen, wenn dieselbe irgendwie eine spe-
cifische ist, als ein Beweis davon betrachtet werden kann, dass der
Ertrunkene lebend ins Wasser gerathen ist. Ist die Flüssigkeit hin¬
gegen reines Wasser, so wird, falls dasselbe nicht in sehr grossen
Mengen vorhanden ist, die Entscheidung oft schwer. Ist die Ver¬
wesung weit vorgeschritten, so dürfte man diesem Zeichen eine ge¬
ringere Bedeutung geben, denn wenn auch viele Versuche das Gegen-
theil zu beweisen scheinen, so ist bei einer günstigen Lage der Leiche
das Eindringen von Flüssigkeit in den Verdauungskanal wenigstens
nicht unmöglich.
Casper 1 ) betont 1863 in seinen klinischen Novellen den Um¬
stand, dass in den Fällen, wo in dem Magen auffallend wenig Wasser
angetroffen wird, dasselbe oft durch den Pylorus in die Dünndärme
hinabgeflossen ist, woselbst man oft solche Massen desselben antrifft,
dass man sich überhaupt gar nicht denken könnte, es sei als Trunk
eingeführt worden. Uebrigens vereinigt er sich jetzt mit Liman in
Betreff der Möglichkeit eines mechanischen Eindringens von Wasser
in den Magen nach dem Tode, und zwar verlässt er hiermit seine
frühere und noch 1860 (im Handbuche) verfochtene Ansicht in dieser
Frage. Hinsichtlich des Befundes specifischer Stoffe in der verschluck¬
ten Flüssigkeit meint er, dieselben seien von dem absoluten Beweise
zu einem bloss adjutorischen herabgesunken.
Roth 2 ) (1865) betrachtet das Vorhanden- oder Nichtvorhandcn-
sein von Wasser im Magen als einen nur zufälligen Befund.
Skrzeczka 3 ) fand (1867) mit Ausnahme eines einzigen Falles
(von 14) immer Wasser im Magen der Ertrunkenen. Er sagt: „War
zugleich Speisebrei im Magen, so stand das Wasser mehrmals als
gesonderte, ziemlich klare Schicht darüber und konnte hierdurch von
bei Lebzeiten getrunkenem Wasser, was sich mit vorhandenem Speise¬
brei mischte, unterschieden werden.“
Büchner sagt 1867 4 ): Das Vorkommen von Ertränkungsflüssig-
*) Casper, Johann Ludwig, Klinische Novellen zur gerichtlichen
Medicin. Berlin 1863, pag. 544.
2 ) Roth, A. H. Theodor, Der Tod durch Ertrinken. Berlin 1865,
pag. 107.
3 ) Skrzeczka, Zur Lehre vom Erstickungstode. Vierteljahrsschrift für
gerichtliche UJfd: eflfe*tiielre" r M§dneiiK : N«eue .Folge» Bd. 7. Berlin 1867, pag.252.
4 ) B u cib o4r*>,fi?p i ?t' v LeKr : tkiÄhtder < getichriiciiei) Medicin. München 1867,
pag. 312. ,,,,,, .
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme.
23
keit im Magen ist ein nahezu sicheres Kennzeichen des Ertrinkungs¬
todes, da in den Magen einer Leiche die Ertränkungsflüssigkeit nicht
wohl eindringen kann, so lange die Leichenzersetzung nicht sehr fort¬
geschritten ist. Die Ertränkungsflüssigkeit kommt in den Magen des
Ertrinkenden, indom sie durch die offenen Nasenlöcher eindringt, so
in den Rachen und an den Eingang des Schlundes gelangt und diesen
zu unwillkürlichen Schlingbewegungen reizt. Geringe Mengen der
Ertränkungsflüssigkeit im Magen sind schwerer zu erkennen, da sie
mit dem Speisebrei oder mit vorausgegangenem Getränk vermengt,
oder auch bei den Bemühungen zur Herausbeförderung der Leiche
aus dem Wasser wieder aus dem Magen entwichen sein können. Am
leichtesten ist die Auffindung der Ertränkungsflüssigkeit im Magen
der Ertrunkenen, wenn die Ertränkungsflüssigkeit specifische Stoffe
enthält, wenn demnach das Ertrinken in trübem Wasser, in einer
Pfütze, in der Abtrittsgrube etc. statthatte.
Auch Falk führt (1869)*) an, dass man ungemein häufig im
Magen und seihst im Dünndarm eine durch ihre Beschaffenheit sich
als Ertränkungsmasse charakterisirende Flüssigkeit antrifft. 1875 2 )
fügt er hinzu, er habe in Thierversuchen, in denen er klare, aber
durch chemische Rcactionen leicht nachweisbare Flüssigkeiten ver¬
wandte, regelmässig dieselben in den Luftwegen, höchst selten aber
ira Magen und Dünndarm vorgefunden.
Wydler glaubt 1869, sich auf 2 Obductionen und eine beträcht¬
liche Menge von Thierexperimenten stützend, gefunden zu haben, dass
der Befund von Schaum und Luftblasen im Magen frischer Wasser¬
leichen ein Beweis des Ertrinkungstodes sei 3 ).
Briand und Chaude 4 ) stimmen 1874 mit Orfila und Do-
vergic überein.
Bcrgeron und Montano 5 ) behaupten 1877 bei ihren Versuchen,
') Falk, Friedrich, Ueber den Tod im Wasser. Virchow’s Archiv für
pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. L5d. 47.
Berlin 1869, pag. 80.
2 ) Falk, Friedrich, Casuistische Notizen IV. Diese Vierteljahrsschrift.
Bd. XXIII. Berlin 1875, pag. 33.
3 ) Wydler, F., Zur Diagnose des Ertrinkungstodes. Aarau 1869. Ref. in
Vierteljahrsschrift für gerichtliche und öffentliche Medicin. Neue Folge. Bd. X.
Berlin 1869, pag. 379.
4 ) Briand et Chaude, Manuel coinplet de medecine Legale. Paris 1874,
pag. 416.
5 ; G. Bergeron et J. Montano, Kecherches experimentales sur la mort
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24
Dr. Fagerlund,
immer Luftbläschen in der Speiseröhre angetroffen zu haben, wenn
der Magen eine während des Ertrinkens verschluckte Flüssigkeit
enthielt.
v. Hofmann 1 ) sagt 1881, dass sich die Ertränkungsflüssigkeit
auch im Magen finden kann, und zwar spricht er sich über diesen
Befund in folgender Weise aus: „Sie gelangt dahin offenbar in den
ersten Stadien der Dyspnoe, indem das eindringende Wasser theils
instinktive, theils reflektorische Schlingbewegungen veranlasst. Die
Mengen, die verschluckt werden, variiren sehr. Stärkere Anfüllung
des Magens mit Wasser haben wir nur ausnahmsweise beobachtet,
und bei kleinen Mengen ist es schwer, ja unmöglich, dieselben von
anderweitiger Magenflüssigkeit zu unterscheiden, während, wenn das
Ertrinken in specifischen Flüssigkeiten geschah, die Unterscheidung
leicht gelingt. Dass die Ertränkungsflüssigkeit auch nach dem Tode
in den Magen eindringen kann, ist von v. Hofmann durch eine
grosse Anzahl Versuche constatirt worden. „Am leichtesten dringen
wässerige Flüssigkeiten ein, schwerer dagegen schlammige oder dicke
und zähe . . . ., auch haben wir uns überzeugt, dass schon ein ge¬
ringes Verlegtsein der Luftwege oder des Oesophagus mit Schleim
genügt, um das tiefere Eindringen von Flüssigkeiten zu verhindern,
sowie wir auch gefunden haben, dass postmortal niemals grosse Mengen
der Flüssigkeit iu die Lunge oder in den Magen eindrangen.“ (Die¬
selben Ansichten hegt er auch in der 4. Auflage seines Handbuchs.)
Belohradsky 2 ) hebt 1881 hervor, dass nach seiner Erfahrung,
sowie auch nach deijenigen anderer, der Befund von Wasser im Magen
ein recht gewöhnlicher sei. Unter 31 Fällen sah er in 12 Luftbläs¬
chen im Mageninhalt, und unter 43 schon früher gemachten Obduc-
tionen ebenfalls 12 Mal dieselbe Erscheinung. Er betont weiterhin
die grosse Bedeutung, welche man dem Vorhandensein specifischer
Stoffe in der im Magen Vorgefundenen Ertränkungsflüssigkeit zuer¬
kennen muss und denkt ebenso wie Liman und v. Hofmann, dass
das Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit auch nach dem Tode mög¬
lich sei.
par submersion. Annales d’hygiene publique et de medecino legale. 2iömo
Sörie. Tom. XLV1II. Paris 1877, pag. 362.
') v. Hofmann, Eduard, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Zweite
Auflage. Wien und Leipzig 1881, pag. 518. (Die orsto Auflage erschien 1877.)
2 ) Belohradsky, Wenzel, Tod durch Ertrinken. Maschka’s Handbuch
der gerichtlichen Medicin. Bd. I. Tübingen 1881, pag. 692.
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Leber das Eiindringen von Ertränkungsflüssigkeit in dio Gedärme.
25
Ogston') behauptet 1882, bei der Untersuchung von 130 Er¬
trunkenen in 3 pCt. der Fälle Wasser im Magen angctrolFen zu
haben.
Johann Hnevkovsky 2 ) fand 1883 von 26 Fällon in 7 der¬
selben postmortal in den Magen eingedrungenes Wasser.
Tourdes 3 ) fand 1883 unter 93 Ertrunkenen 37 Mal viel, 34 Mal
wenig und 22 Mal gar kein Wasser im Magen.
Wernich 4 ) weist 1883 auf den Umstand hin, dass die Mengen
von Ertränkungsflüssigkeit, welcho der ins Wasser Gerathenc meistens
schon in den ersten Stadien der Dyspnoe durch Schlingbewegungen
in seinen Magen befördert, so sehr variiren, dass man den Magen
bisweilen von Wasser schwappend, zuweilen mit kaum erkennbaren
Mengen von Flüssigkeit gefüllt vorfindet, und glaubt er, ein sicheres
Urtheil über den Ertrinkungstod wird dann geäussert werden können,
wenn unter anderem reichliche Ertränkungsflüssigkeit im Magen und
in den Lungen angetrofifen wird.
Lesser 5 ) konnte 1884 unter 30 Fällen in 9 derselben keine
erkennbare Menge der Ertränkungsflüssigkeit im Magen frischer Wasser¬
leichen, constatiren, in 14 Fällen waren dio Magencontenta mehr oder
weniger dünnflüssig; die Mengen der Flüssigkeit variirten sehr. In
3 Fällen schwamm das Wasser als eine besondere Schicht über den
Speisen im Magen und in 4 Fällen fand sich Wasser allein oder mit
etwas Schleim vermischt vor. Bei schon verwesten Leichen (unter
30 Fällen) war in 3 Fällen der Magen leer und ebenso oft fanden
sich in ihm rein wässerige Massen; in 14 Fällen war der Mageninhalt
dünnflüssig, in 2 Fällen dünnbreiig und 8 Mal dickbreiig; in einigen
der letzten Fälle waren wässerige Beimischungen nicht zu erkennen.
') Ogston, F. jun., A critical review of the post mortem signs of drown-
ing. Edinbourg med. Journ. April 1882, pag. 865. Citirt nach Virehow-
Hirscb. Jahresbericht für 1882, pag. 502.
2 ) Hnevkovsky, Johann, Das Schleimhautpolster der Paukenhöhle beim
Fötus und Neugeborenen. Wiener medicinische Blätter. 1883. No. 34.
3 ) Tourdes, G., Submersion. Dictionnaire oncyclopödique des Sciences
medicales. 1883. 2ieme ser. Tom. 12.
• 4 ) Wernich, A., Ueber die als Neuroparalyse. Nervenschlag, Shock be-
zeichnete Todesart vom gerichtsärztlichen Standpunkte. Diese Vierteljahrsschrifi
N. F. Bd. XXXVIII. 1883, pag. 52.
*i Lesser, Adolf, Ueber die wichtigsten Scctionsbefundo bei dem Tode
durch Ertrinken in dünnflüssigen Medien. Diese Vierteljahrsschrift. N.F. Bd XL.
Berlin 1884, pag. 14.
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26
Dr. Pagerland,
Ebenso constatirtc er, dass mitunter sehr beträchtliche Mengen der
umgebenden Flüssigkeit post mortem in den Magen dringen.
Bougier 1 ) erklärt 1883, sowohl auf eigene, als auf die Unter¬
suchungen Anderer gestützt, das Wasser dringe in den Magen Er¬
trunkener von einigen Gramm bis 1 und 2 Liter. Bei demjenigen,
welcher lebendig ins Wasser gerathen ist, geschieht das Schlingen
bei der Inspiration. Von 23 Menschenleichen und 17 todten Hunden,
welche in verschiedenartige gefärbte Flüssigkeiten gelegt wurden, fand
er bei keinem einzigen die Flüssigkeit im Magen vor. Daher besteht
er auch darauf, dass der Befund von Wasser im Magen eines Ertrun¬
kenen einen sehr grossen Werth habe und dass dieses Zeichen nicht
unbeachtet bleiben darf, besonders wenn es sich um einen zweifel¬
haften Fall handelt.
Auch Draper 2 ), welcher 1885 in 149 von ihm beobachteten
Ertrinkungsfällen den Magen entweder leer oder Speisetheile und ge¬
ringe Mengen von Flüssigkeit enthaltend vorfand, nimmt jedoch unter
den Merkmalen des Ertrinkungstodes den Befund von Wasser im
Magen auf, und zwar von reinem Wasser oder von Wasser mit Schlamm
vermischt.
Obolonsky 8 ) fand 1888 unter 18 von ihm in eine gefärbte
Flüssigkeit gelegte Kinderleichen bei 5 derselben von der ebengenann¬
ten Flüssigkeit im Magen vor und glaubt er, das Eindringen von
Wasser in den Magen werde dadurch möglich gemacht, dass die in
diesem Organe enthaltene Luft und entwickelten Gase schon bei einem
leichten Drucke oder Stosse ausdrängen und an deren Statt Wasser
in den Magen einfliesst. So kann das Vorhandensein von Wasser im
Magen keine entscheidende Bedeutung haben bei der Beantwortung
der Frage, ob ein lebendiger Mensch oder eine Leiche ins Wasser
gerathen ist, besonders wenn nur unbedeutende Mengen von Wasser
in dem Organe entdeckt werden. Bei Ueberfüllung aber des Magens
mit der Flüssigkeit, in welcher die Leiche gefunden war, müssen wir
auf eine während des Lebens stattgefundene Ertränkung schliessen,
') Bougier, Henri, Peut-on diagnostiquer la mort par submersion?
These. Paris 1885, pag. 123.
2 ) Draper, Ueber den Ertrinkungstod. Boston Medical and Surgical Re¬
porter. Nov. 1885. Nach dieser Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. XLVIl. Berlin
1887, pag. 350.
3 ) Obolonsky, N., Beiträge zur forensischen Diagnostik. Diese Viertel¬
jahrsschrift. N. F. Bd. XLVII1. Berlin 1888, pag. 348.
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Ueber das Eindringen Ton ErtränkungsflOssi^keit in die GedKrme. 27
da ein postmortales Eindringen der Flüssigkeit in den Magen zufolge
der Bedingungen, welche ein solches hervorrufen, immer nur beschränkt
sein kann. Er macht zugleich darauf aufmerksam, dass die Gegen¬
wart schaumiger Flüssigkeit im Blagen leicht durch das Herunter-
schlucken solcher zu erklären wäre; fügt aber hinzu, dass man nicht
vergessen dürfe, dass bei Todtgeborenen, an denen Belebungsversuche
gemacht wurden, die schaumige Flusigkeit im Magen eine alltäg¬
liche Erscheinung vorstellt.
Paltauf’) schliesslich erklärt 1888, dass der Befund von Er-
tränkunggflüssigkeit im Magen und in den Därmen ein recht häufiger
ist; in der Mehrzahl der Fälle gelingt es, diese daselbst zu vermuthen.
Die Menge verschluckter Flüssigkeit kann bis zu einem Liter betra¬
gen. Meist ist sie, wenn nicht Speiseiuhalt sich im Magnn befindet,
durch Schleim und Epithel u. s. w. getrübt. Die Schleimhaut ist im
Bereiche der Wassejfüllung sehr blass, wie ausgewässert. Der übrige
Theil derselben zeigt gewöhnliche BlutfüTle. Im Magen vorhandener
Inhalt ist bald mit der Ertränkungsflüssigkeit gemengt, bald steht
diese über jenem. Durch den besonders von Albert, Liman und
v. Hof mann gelieferten Beweis'des Eindringens der Flüssigkeit auch
in den Magen untergetauchter Leichen hat dieser einst werthvolle
Befund sehr an Bedeutung verloren. Die Möglichkeit einer Verwech¬
selung mit Nahrungsinhalt ist immer im Auge zu behalten; desglei¬
chen ist nach specifischen Stoffen, herrührend aus dem Ertränkungs-
medium zu fahnden. Im Meer Ertrunkene würden mit dem Meerwasser
zahlreiche Chloride verschlucken,* die unter gewissen Voraussetzungen
(gesalzene Speisen!) Bedeutung haben könnten .... Durch die Fäul-
niss kann sich flüssiger Mageninhalt langsam per imbibitionem et
transudationem verlieren. •A&ch über das Eindringen von Ertränkungs¬
flüssigkeit in den Darm kann kein Zweifel bestehen. Lässt sich der
Nachweis liefern, dass man solche vor sich hat, so ist man der Dia¬
gnose so ziemlich näher gerückt. Lehrreiche Objekte für solche Unter¬
suchungen bieten im Kanalinhalt ersäufte Neugeborene, in deren Dünn¬
darm man die Jauche u. g. w. oft recht weit nach unten verfolgen
kann.“
Wie wir aus den angeführten Fällen sehen, bildet der Befund
von Wasser im Magen kein an und für sich sicheres Zeichen des
') Paltauf, Arnold, Ueber den Tod durch Erlrinken. Wien und Leipzig
1 bt>8, pag. 11.
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UNiVERSITY OF IOWA
28
Dr. Fagerlund,
Ertrinkungstodes, sondern kann dieser Umstand nur in einem gcwisssen
Maasse die übrigen Merkmale unterstützen, welche zu beweisen scheinen,
dass der Tod durch Erträukung eingetroffen sei. Indessen sind in
dem Vorhergehenden auch alle die in der Literatur vorkommenden
Mittheilungen angeführt worden, welche den Uebergang von Flüssig¬
keiten in den Dünndarm Ertrunkener behandeln. Wie hervorgeht,
sind diese Mittheilungen sehr spärlich und* überhaupt ist diese Er¬
scheinung bis jetzt von den Gerichtsärzten vernachlässigt worden.
Herr Professor E. v. Hofmann in Wien hat meine Aufmerksamkeit
auf diesen Umstand gelenkt, und somit habe ich diese Frage einem
näheren Studium unterworfen. Dabei habe ich das hochzuschätzende
Glück gehabt, unter der persönlichen Leitung des Herrn Professor
v. Hofmann in seinem Laboratorium die meisten der folgenden
Untersuchungen an Kinderleichen und Thieren zu unternehmen. Mit
grösster Liebenswürdigkeit hat er sowohl das Untersuchungsmaterial
als sämratlichc diese Frage erläuternde Protocolle über die an dem
medico-forensischen Institute zu Wien gemachten Sectioneu mir zur
Disposition gestellt und erlaube ich mir hiermit, Herrn Professor
v. Hofmann meinen tiefsten Dank'auszusprechen.
Wenn es sich darum handelt auszuforschen, inwiefern der Befund
von Ertränkungsflüssigkei* in den Därmen als ein Zeichen des Er¬
trinkungstodes betrachtet werden kann, so liefern uns namentlich die
Leichen der in einer specifischen Flüssigkeit Umgekommenen die besten
und werthvollsten Aufklärungen. Bei den'von Prof. v. Hofmann in
Wien ausgeführten Sectionen war in folgenden auszugsweise mitzu-
thcilenden Fällen die Ertränkungsflüssigkeit bis in die Därme vor¬
gedrungen. *
* •
I. Gerichtliche Section den 10. April 1877. Neugeborenes Kind der
K. H., Köchin, 23 Jahre alt, welches dieselbe am 7. April 5 Uhr früh gebar und
in den Abort fallen liess. Es wurde aus demselben noch lebend herausgeholl,
starb aber gegen 12 Uhr Mittags iu der Findelanstalt. wohin es kurz vorher über¬
gebracht worden war.
Der Körper, 2320 g schwer, 50 cm lang, etwas abgemagert, die Haut¬
docken blass, auf der rechten Gesichtsseito und den abwärtigem Körperstellen mit
spärlichen, blassviolelten Todtenflocken besetzt. Der gerade Kopfdurehmessrr 11,
dor quere 8, der diagonale 1 2.4 cm enthärtend. ‘Kopfhaar spärlich, lichtbraun,
2 cm lang. Bindehäute blass, Hornhäute milchig getrübt. Lippen braunroth,
vertrocknet, Knorpel der Nase und Ohrmuschel wenig elastisch. Hals lang und
dünn, Brustkorb wenig gewölbt. Am Nabel ein 25 cm langer, braunroth ver¬
trockneter unterbundener Nabolschn^rrest, der am Nabel selbst noch etwas sülzig
erscheint; Hodensack etwas ödematös, beide Hoden in demselben. Gliedmassen
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Ueber das Eindringen von Ertriinkungsflüssigkeit in die Gedärme. 29
beweglich. Nägel hornig, die Fingerspitzen überragend. In dem unteren Knorpel
der Oberschenkelknochen ein 4 mm breiter Knochenkern. Am hinteren Theile
der rechten Schulter findet sich ein 2 cm vom oberen Winkel des Schultorblattes
beginnender und an der Aussenseite des Oberarmkopfes endender, anfangs
2—3 mm breiter und dann in eine Linie übergehender 4 cm langer, braunroth
vertrockneter Streif ohn$ Suffusion im Unterhautgewebe. An der Rückenfläche
des letzten Gliedes des rechten kleinen Fingers findet sich eine linsengrosse Haut¬
vertrocknung und eine zweite am Rücken de» rechten Mittelfingers über dem Ge¬
lenke am 1. und 2. Fingergliede.
Innerlich: Kopfhaut* blutarm ^ ohne* Blat^ustritt. Vordere Fontanelle
2,5 cm lang und 1,5 cm breit. Schädeldach unverletzt. Die inneren Hirnhäuie
blutarm, zart. Das Gehirn weich und blutarm; Kammern eng, Adergeflechte
blass; die Hirnhäute der Basis blutarm; das kleine Gehirn weich und blutarm.
In den Blutleitern spärliches dunkelflüssiges Blut; ziemlich viel in den grossen
Halsvenen; die Sohilddrüse massig blutreieh, die Luftröhre schiefergrau verfärbt,
einen missfarbigen, Jauche ähnlichen Inhalt führend, welcher sich ebenfalls in
dünner Schicht im Rachen findet. Daselbst und im Kehlkopfeingange die Schleim¬
haut schiefergrau verfärbt. Im linken Brustfellsack etwa 5ccm blutigen Serums.
Die Lungen zusammengefaljen. Die Oberfläche der linken Lunge gelblioh weiss,
hellroth und dunkelroth marmorirt. polsterartig anzufühlen und am Durchschnitt
überall lufthaltig, blutreich und aus den Bronchialdurchschnitten tnissfarbigen
Schaum entleerend. Die rechte Lunge ebenso marmorirt wie die linke; unter
ihrem Ueberzuge in Reihe gestellte, bis erbsengrosse Blasen sich vorfindend, na¬
mentlich am Unterlappen und an der inneren Fläche des Mittellapper.s. Die
Substanz überall luft- und schaumlfaltig und blutreich, aus den Bronchien eben¬
falls blutig tingirten Schaum entleerend. Das Herz von gewöhnlicher Grösse;
in den Vorhöten beiderseits etwas p dünnflüssiges Blut. Klappen und Herzfleisch
normal. Die Leber schlaff, massig bluthaltig, in'ihrer Blase spärliche grüne
Galle. Milz breiig weich, massig bluthaltig. Im Magen ein mit schiefergrauen
Flocken und Fartikelchen gemengter röThlicher Schleim. Schleimhaut blass. Die
Nieren gelappt, massig bluthaltig. Nabelarterien zusammengezogen, die linke
etwas flüssiges Blut enthaltend. Harnblase leer. Dünndarm überall von Luft
ausgedehnt, im Wasser schwimmend. Im Dünndarm gallig gefärbter Schleim,
in welchem sich stellenweise graue Pajtikelchen unterscheiden lassen;
im Dickdarm, fast seiner ganzen Läoge nach, Kindspech. Der ansteigende Ast
ausserdem Luftblasen enthaltend; die Schleimhaut überall normal.
Gutachten. 1. Die mikroskopische Untersuchung der jaucheähnlichen
Flüssigkeit, welche in der Luftröhre und im Rachen gefunden wurde, ergab aussor
einer Menge Fäulnissorganismen (Bakterien) verschiedene Pffanzenzellen und
Pflanzenfasern. Reste quergestreifter Muskelfasern. Gallenfarbstoff, Fett und Fett-
kn stalle, sowie im Magen theils Kohlige. theiis sandige Partikelchen, demnach
Dinge, die sich in Kloakenjauche zu finden pflegen, welcher auch das makrosko¬
pische Verhalten der Flüssigkeit und der ihr anhaftende unangenehme Geruch
entsprach. Dieselben Substanzen wurden auch in dem missfarbigen schaumigen
Inhalte der Luftröhrenäste, sowie im Magen und im oberen Theile des
Dünndarmes «nd endlich sogar ip beiden Paukenhöhlen nachgewiesen.
Unter diesen Umständen kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das
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30
Dr. Fagerlund, *
untersuchte Kind Kloakenjauche geschluckt und aspirirt habe, sowie darüber,
dass dasselbe durch Verlegung seiner Luftwege mit diesen Stoffen am Stickfluss
gestorben ist, wofür auch ausser dem Abgang jeder nachweisbaren Verletzung
der Blutreichthum der Lungen, die unregelmässige Vertheilung der Luft in den¬
selben, sowie das interstitielle Emphysem der rechten Lunge spricht, welches
letztere offenbar bei den angestrengten Respirations- (insbesondere Exspirations-)
bewegungen entstanden ist, welche das Kind machte, um sich von den in seinen
Luftwegen steckenden Hindernissen»zu befreien.
2. Der Tod ist einzig und allein in Folge dieser Verlegung der Respira¬
tionswege durch die genannten Stoffe» ujjQ» in Folge»dej allgemeine* Natur der¬
selben erfolgt und es ergab sich kqjn Befund, dem hierbei sonst ein Einfluss
hätte zugeschrieben werden können.
3. Insbesondere muss bemerkt werden, dass das untersuchte Kind bei
seiner Länge von 50 cm und dem bereits 4 mm breiten Knochenkern in der
unteren Epiphyse des Oberschenkelkrwrpels entweder vollkonftnen ausgetragen
war, oder, diesem Zeitpunkt bereits ganz nahe stehend und daher, da es auch
sonst vollkommen normale Bildung zeigte, geeignet war, selbstständig weiter
zu leben.
Die geringe Entwickelung des Fettpolsters ist durch kerne Erkrankung der
Frucht bedingt worden und steht mit dem Tode derselben in keinem Zusammen¬
hänge.
4. Die Hautabschürfungen an der rechten Schulter und am rechten Hand¬
rücken sind ganz unbedeutende Verletzungen und sind wahrscheinlich beim Fall
in den betreffenden Kanal, vielleicht' auoh erst beim Herausziehen des Kindes aus
demselben entstanden. **
5. Dass die Frucht noch lebend aus dem Abort gezogen wurde und noch
7 Stunden lang leben konnte, erklärt sich dai$us, dass die Luftwege nicht voll¬
kommen durch die KloakenstSffe abgesperrt wurden, sondern theilweise, freilich
in nur geringem Grade, frei und für die Luft zugänglich geblieben sind. Das
freie Ende der mumificirten Nabelschnur*zeigte sich nach mehrstündiger Auf¬
weichung im Wasser schief abgetrennt, der höher gelegene Rand der Nabel¬
schnurscheide zwar geradrandig, der tiefer gelegene dagegen etwas gefranzt und
in einem 2 cm langen Schlitz gegen den Nabel zu sich fortsetzend. Die Nabel¬
arterien dadurch blossgelegt und jp der gleichen Höhe abgesetzt. Die Nabel¬
schnur ist daher wahrscheinlich gerissen oder mit einem stumpfeh Werkzeuge
durchgetrennt worden. • .
II. Gerichtliche Section IQ. Juli 1£T86. J. K., 31 Jahre alt, Kanalräumer¬
gehilfe.
Tod den 14. Juli nach 10 Uhr Abends beim Räumen einer Senkgrube in
Rudolfsheim (Buchgasse 5). Sofort nachdem J. K. in die Senkgrube hinabge¬
stiegen war, fiel er bewusstlos in die Kanaljauche hinein.
Körper gross, kräftig, von gut entwickeltem Fettpolster. An zahlreichen
Stellen, besonders an Kopf- und Schamhaaren mit Kanaljauche verunreinigt.
Haut im Gesichte, am Hals und an der ganzen Hinterfläche des Körpers dunkel¬
violett, sonst blass. Bindehäute stark injicirt,punktförmig ecchyiffosirt mit Kanal¬
stoffon bedeckt. Pupillen mittelweit; aus Mund und Nase braunrothe Flüssigkeit
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lieber das Eindringen von Ertränkungsllüssigkeit in die Gedärme.
31
sich entleerend; Lippen- und Zahnfleisch schmutzig violett. Hals und Brustkorb
proportionirt. Bauch flach und gespannt. Genitalia und After normal, Glieder
todtenstarr. lieber beiden Stirnhöckern streifige Hautabschürfungen ohne Blut
Unterlaufungen.
Innerlich: Schädeldecken blutreich, Schädeldach unverletzt, von gewöhn¬
licher Dicke. Die Hirnhäute zart, blutreich; Gehirn blutreich, von normaler Con-
sistenz. Kammern eng, Wände der Vorderhörner stellenweise mit einander ver¬
wachsen. Basalarterien schlaff, in den Blutleitern viel dunkelflussiges Blut.
Schädelgrund unverletzt. Im Rachen, im Kehlkopf und in der Luftröhre reich¬
liche, den Wänden anhaftende Kanalstoffe. Schleimhaut überall dunkelviolett
mir verwachsenen, bis banfkorngrossen Ecchymosen an der Hinterfläche des Kehl¬
deckels. Zwerchfell rechts am 5., links am 6. Rippenknorpel. Lungen stark
gedunsen, beim Eröffnen des Brustkorbes sich vordrängend, so dass die linke
die rechte mit dem Rande des Oberlappens überragt. Linke Lunge ohne Ecchy¬
mosen, blutreich, stark lufthaltig, am Schnitt reichlich blutig-schaumige Flüssig¬
keit entleerend, doch nur in den grösseren Bronchien Kanalstoffe enthaltend, in
den übrigen Bronchien blutiger Schaum. Schleimhaut überall dunkelroth, ohne
auffallende Schwellung. Rechte Lunge ebenso, im Unterlappen jedoch auf der
Schnittfläche durch bis bohnengrosse dunklere und weniger lufthaltige Stellen
marmorirt und auch in den kleineren Bronchien sandige Kanalstoffe enthaltend.
Herz faustgross mit zahlreichen punktförmigen Ecchymosen, besonders über der
rechten Kammer, contrabirt, reichliches dunkelflüssiges Blut enthaltend. Klappen
und Intima Aortae zart, etwas blutig durchtränkt; Herzfleisch fest. Leber und
Milz von normalem Aussehen und mittlerem Blutgehalt. Im Magen etwa 100 g
eines dünnen, zerkaute Wurststücke einschliessenden Inhalts, welcher nach Kanal¬
jauche riecht und reichliche sandige graue Stoffe aufweist. Schleimhaut schmutzig¬
violett. etwas verdickt. Nieren blutreich, glatt; in der Blase reichlicher klarer
Harn. Gedärme massig gebläht, blassviolett; im Dünndarm reichlicher, gallig
gefärbter normaler Inhalt, welchem im obersten fast 1 m langen Stücke san¬
dige graue Kanalstoffe in nach abwärts abnehmender Menge
beigemischt sind. Im Dickdarm reichliche dünnbreiige Kothmassen. Schleim¬
haut überall blassviolett. In der Speiseröhre und in den unteren Abschnitten
der Luftröhre reichliche Kanalstoffe. Schleimhaut in ersterer blass, in letzterer
dunkelviolett.
III. Gerichtliche Section 27. Oktober 1886. Neugeborenes Kind weib¬
lichen Geschlechts der A. W., Handarbeiterin.
Die von A. W. am 26. Oktober gerufene Hebeamme M. E. fand das neu¬
geborene Kind sammt Nachgeburt in einem Wasser enthaltenden Weinling todt
liegen, in welchem sich etwa 3 Liter Wasser befanden, so dass das Kind leicht
untergetaucht werden konnte. Die Mutter gab an, dass das Wasser von der Ent¬
bindung herrührte; es war jedoch auch das ganze Bett von der bei der Entbin¬
dung sich entleerenden Flüssigkeit nass. Die Hebeamme nahm die Nabelunter¬
bindung und fruchtlose Wiederbelebungsversuche vor. Die Mutter giebt an,
zugleich von W r ehen und von Leibesnoth befallen, die Noth in einem grossen
Weinling verrichtet zu haben, wobei das Kind sammt der Nachgeburt in den
Weinling hinoinfiel. Sie habe das Kind, welches nicht athmete, herausgenommen
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Dr. Fagerlnnd,
und sei damit ins Bett gegangen; wer das Kind wieder in den Weinling gelegt,
wisse sie nicht. Ihre Schwester A. S. sei die erste Person, welche zu ihr kam,
gewesen. Dieselbe entschlägt sich jeder Aussage.
Kind weiblichen Geschlechts, 27(30 g schwer, 48 cm lang. Haut blass,
an der linken Gesichtshälfte und am Kücken mit spärlichen, blassvioletten
Todtenfleeken durchsetzt, fast überall, besonders am Kopfe und am Rücken mit
käsiger Schmiere und am Kopfe, sowie an zahlreichen Stellen des Rumpfes und
der Extremitäten mit angetrocknetem Blute bedeckt; Unterhautfett ziemlich gut
entwickelt, doch schlaff, Kopf proportionirt, der gerade Kopfdurchmesser 11,
der quere 8,4, der diagonale 12.4 cm. Kopfumfang 33 cm. Kopfhaar dicht,
hellbraun, bis 2.5 cm lang. Bindehaut rechts massig injicirt. Pupillen mittel-
weit. Mund und Nase frei. Schleimhaut blauviolott. Hals proportionirt, Schul¬
terbreite 12 und nach miissigem Zusammendrücken 11 cm. Brustkorb gut ge¬
wölbt, Bauch vorgewölbt, weich;' am Nabel ein bis 11 cm langer, mit einem
rothen Bändchen unterbundener, in beginnender Vertrocknung begriffener, gallig
durchtränkter Nabelschnurrest mit quer und glatt abgeschnittenem freien Ende.
Genitalien normal, am After massige Mengen Kindspech. Glieder etwas steif.
Nägel hornig, die Fingerspitzen eben überragend. In den unteren Ansatzknor¬
peln der Oberschenkelknochen ein 5 mm breiter Knochenkern. Aeussere Ver¬
letzung, auch nach erfolgter Reinigung der Leiche, nicht zu bemerken.
Innerlich: Schädeldecken blutarm, die vordere Fontanelle 2 cm breit.
Schädeldach unverletzt, fest. Hirnhäute zart, von mittlerem Blutgehalt, Gehirn
weich, mässig bluthaltig. Kammern eng, in den Blutleitern reichlich dunkel-
flüssiges Blut. Schädelgrund unverletzt. In der Luftrölfte, im Kehlkopfe und
im Rachen feinblasiger, schwach blutig tingirter Schaum. Schleimhaut blass¬
violett ohne Eccliymosen. Das Zwerchfell beiderseits am 5. Rippenknorpel.
Lungen in den vorderen Brustraum vorragend, die Seitentheile des Herzens be¬
deckend, — beide in Verbindung mit dem Herzen im Wasser schwimmend; linke
Lunge massig gedunsen, blass und dunkolviolett marmorirt, polsterartig anzu-
fühlen, mit vereinzelten punktförmigen Ecchymosen besetzt, beim Einschnei¬
den knisternd und am Schnitt reichlichen feinblasigen Schaum entleerend, mässig
blutreich und in den Bronchien reichlichen feinblasigen Schaum enthaltend;
Schleimhaut der letzteren blassviolett. Ins Wasser gelegt, schwimmt die Lunge
vollkommen, sowohl im Ganzen als auch in bohnengrosse Stücke zerschnitten.
Die rechte Lunge stärker gedunsen, am Schnitt von schaumiger Flüssigkeit fast
überströmend, sonst wie links. Herz contrahirt, ohne Ecchymosen, dunkelflüssiges
Blut enthaltend. Klappen und Herzfleisch normal. Leber gross, blutreich. Milz
schlaff, blutarm. Magen massig ausgedehnt, von aussen blassviolett, nach vor¬
genommener Unterbindung herausgenommen, im Wasser schwimmend; in dem¬
selben eine reichliche Menge wie geronnenes Blut aussehenden mit
Luftblasen gemengten Inhaltes. Schleimhaut blassviolett, mit wie ge¬
ronnenes Blut aussehendem Schleim belegt. Dickdarm im Wasser untersiukend,
überall, mit Ausnahme der untersten Partie der S-förmigen Schlinge, dunkel¬
grünes reichliches Kindspech enthaltend. Der Dünndarm überall blassviolett,
im Wasser sinkend, im Zwölffingerdarm spärlicher, blutig tingirter
Schleim, in den übrigen Dünndarmpartien, mit Ausnahme kurzer
Unterbrechungen wie geronnenes Blut aussehender Inhalt.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 33
. Schleimhaut wie blutig durchtiänkt, ohne sonstige Veränderung. Nieren von
minierem Biutgebalt, glatt. Harnblase leer. Nabelgefässe gut contrahirt, leer.
Inuere Genitalien normal. Die beiliegende Nachgeburt 410 g schwer, der Mutter¬
knochen bis 18 cm breit, .an seiner Aussenflächs mit frisch geronnenem Blute
in massigem Grade bedeckt, von normalem Aussehen. An seiner Innenfläche
2 bis nussgrosse und eine bohnengrosse keilförmige, nach innen sich vertiefende,
blassgelbliche, derbere, ziemlich scharf umschriebene Stelle enthaltend. Nabel¬
schnurrest nahe am Rande des Mutterkuchens abgehend, 44 cm lang, bis 1 cm
breit; das freie Ende quer upd glatt abgetrennt. Das mitgebrachte Thongefäss
ist im Lichten 35 cm weit und 15 cm tief, mit 2 Thonhenkeln versehen, an
welchen ein Messingdraht angebracht ist, welcher um die pine Hälfte der oberen
Peripherie des Gefässes herumgespannt ^st. Am Boden des Gefässes befindet sich
eine 3 om hohe Schicht stark blutiger, wässeriger Flüssigkeit, in welcher der den
Acten beigelegte, blaugrün gestreifte, blutig durchtränkte Fetzen und reichliche
bis apfelgrosse Irische Blutgerinnsel sich finden.
Gutachten. .1. Das untersuchte Kind war 48 cm lang, 2760 g schwer
und besass einen 0,5 cm breiten Knochenkern in dem unteren Ansatz des Ober¬
schenkelknochens. Dasselbe war demnach, zwar vielleicht nicht vollständig, doch
nahezu ausgetragen und jedenfalls fähfg, ausserhalb des Mutterleibes weiter zu
leben. •
2. Dasselbe ist, wie die gleiohmässige, insbesondere durch die Lungen¬
schwimmprobe nachgewiesene Füllung der Lungen mit Luft, die eben wegen ihrer
Gleichmässigkeit und weil der'Magen nur wenig, der Darmkanal keine Luft ent¬
hält. nicht vom Lufteinblasen von Mund zu Mund und bei der Frische der Leiche
auch nicht von Fäulniss herrühren kann, beweist, lebend geboren worden und
hat wenigstens durch einige Augenblicke frei goathmet.
3. Es ist. wie aus der dunkelflüssigen Beschaffenheit des Blutes uud der
Ecchymosenbilduog an den Lungen hervorgeht, zunächst an Erstickung ge¬
storben.
4. Da die Luftröhre und die Lungen eine grosse tyenge blutig-schleimiger
Flüssigkeit enthielten, da ferner im Magen und fast im ganzen Dünndarm
locker geronnenes Blut sich fand, welohes nur durch Schlucken, keineswegs
aber erst nach dem Tode hineingelangt sein konnte, so ist es offenbar, dass der
Erstickungstod durch Ertrinken in stark bluthaltiger Flüssigkeit herbeigeführt
worden ist.
5. Ein Geborenwerden des Kindes auf dem Woinling, in welchem dessen
Leiche gefunden wurde, war geeignet, den Tod auf die genannte Weise zu be¬
wirken, da hierbei das Rind in Fruchtwasser und Blut gelangt und darin er¬
trunken s^in konnte. Der Umstand, dass die Lungen vollkommen lufthaltig
waren, spricht nicht gegen einen solohen Vorgang, da es möglich ist, dass das
Kind doch einige Augenblicko mit dem Kopfe ausserhalb der betreffenden Flüssig¬
keiten gewesen war.
6. Die geringe Entwickelung der Geburtsgeschwulst am Kopfe und der
Umstand, dass die Nachgeburt in ungetrennter Verbindung mit dem Kinde ge-
funden*wurde, spricht für einen raschen Verlauf der Geburt.
7. Die Flüssigkeit in dem Weinlinge stand 3 cm hoch und betrug, wie
nachträglich constatirt wurde, I400ccm; das Kind konnte daher ganz wohl darin
Vl«m|jaJirM*hr. f. gtr. HmL N. F. LU. X.
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34
Dr. Fagerlund,
ertrinken. Sie bestand, wie die nähere Untersuchung ergab, vorzugsweise aus *
Blut und einer massigen Menge wässeriger Flüssigkeit, die ganz gut nur Frucht*
wasser gewesen sein konnte, da sie dessen Besltyidtheile enthielt. Nach Stehen¬
lassen der Flüssigkeit in einem hohen und schmalen Glase bestand das erhaltene
Sediment nur aus Blutgerinnseln und liess mit freiem Auge nur vereinzelte kleine
wie Pflanzentheilchen aussehende fremde Körper erkennen. Mikroskopisch wurden
ausser Blutbestandtheilen reichliche Wollhaaro, Epidermisstöcke, sowie Pflanzen
theilchen und Schmutzpartikeln gefunden. Letztere Verunreinigung beweist, dass
das Gefäss nicht ganz rein gewesen ist, nicht aber, dass darin zur Zeit der Ge¬
burt eine grössere Menge von Spülicht oder dergleichen gewesen sei. Kothmassen
Hessen sich nicht nachweisen und kein fäculenter Geruch; wohl aber Spuren von
Kindspech. Ob grössere Mengen von Hajn in der Flüssigkeit vorhanden sind,
lässt sich nur durch chemische Untersuchung constatiren. Kleinere konnten auch
von dem neugeborenen Kinde herrühren. 1 )
*
m
IV. Gerichtliche Section 12. Januar 1888. Männliches, neugebornes Kind,
der E. M., 29 Jahre alt, ledige Magd. Im Mai seien die Menses ausgeblieben.
Am 21. Deoember 1887 sei die Geburt heimlich erfolgt ohne Hindernisse, nach¬
dem sie den Zustand der Gravidität geleugnet hatte. Das Kind soll todl zur Welt
gekommen sein. Die Mutter will den Nabelstrang nicht abgeschnitten und das
Kind in Fetzen gewiokelt und in den Abort geworfen haben (am 21. December).
Am 11. Januar 1888 gefunden.
Kind männlichen Geschlechts. 3310 g schwör, 52,5 cm lang, fast überall
mit sandigem Kanalinhalt verunreinigt, nach dessen Entfernung die Haut im
Gesicht, an der Vorderfläche des Halses und Rumpfes tbeils schmutzig rosenroth,
theils grünlich missfarbig, die Oberhaut an den meisten Stellen leicht abstreifbar.
Hinterfläche des Körpers blassgrünlich mit leicht abstreifbarer, stellenweise schon
abgestreifter Epidermis. Durch Fäulnissgase leicht gedunsen. Kopf etwas in die
Länge gezogen; der gerade Kopfdurchmesser 10,8 cm, der quere 8,4 cm, der
lange 13,0 cm. Kopfumfang 33,0 cm. Kopfhaar dicht, dunkelbraun, bis 2,5 cm
lang, noch fest haftend. Kopfhaut bereits grünlich. Gesicht, besonders die Augen¬
lider, gedunsen. Conjunctivae schmutzigviolett ohne Ecchymosen. Corneae zur
Undurchsichtigkeit getrübt. Augäpfel blutig durchtränkt. In den Nasenöffnungen
und der vorderen Partie der Mundhöhle sandiger Kana'linbalt; Schleimhaut theils
schmutzigviolett, theils grünlich. Ohren schmutzigviolett, elastisch. Hals durch
Fäulnissgase etwas^ gedunsen, an demselben, ebensowenig wie in der Umgebung
des Mundes und der fyse, äussere Verletzungen. Schulterdistanz 13 und nach
massigem Zusammendrücken 12 cm. Thorax gut gewölbt. Bauch schlaff und weich.
Am Nabel ein missfarbiger, fast 7 cm langer Nabelschnurrest mit quer # und glatt
abgetrenntem freien Ende. Genitalien grünlich missfarbig, die Oberhaut stelien-
') Die im Thongefässe enthaltene Flüssigkeit wurde chemisch untersuoht
und duroh die chemische Untersuchung wurde erprobt, dass 200 ccm Flüssigkeit
0,1836 g Harnstoff enthielt, also 1400 ccm = 1,2852 g, was beiläufig 60 ccm
Harn entspricht. Ebenso fanden sich in 200 ccm der Flüssigkeit 0,028 g*Harn¬
säure, welche der oben gefundenen Menge an Harnstoff wohl entspricht. — Der
Harn des Neugeborenen betrug 7—8 ccm mit durchschnittlich 0,4 pCt. Harnstoff.
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Ueber das Eindringen von Ertränknngsflässigkeit in die Gedärme. 35
weise in Petzen abgängig, sonst leicht abstreifbar. Nägel hornig, die Finger¬
spitzen überragend. In den unteren Ansatzknorpeln der Femora ein 6 mm breiter
Knoohenkern. An der Vorder- und Aussenfläche des linlftn Knies fehlt die Haut
in der Grösse einer Kinderhandfläche; die Ränder dieses Defektes sind wie zer¬
nagt. blass und ebenso wie der missfarbige Grund ohne Spuren von Reaktions¬
erscheinungen. Sonst ist äusserlich keine Verletzung nachweisbar.
Innerlich: Scbädeldecken etwas missfarbig, mässig blutreich, über der hin¬
teren Partie der linken Scheitel- und Schläfegegend in massigem Grade sülzig
infiltrirt. Schädeldach unverletzt. Dura theils schmutzig-violett, theils grünlich,
glatt. Innere Hirnhäute mittel blutreich, ziemlich stark blutdurchtränkt, jedoch
ohne Blutaustritt. Gehirn fast zerfliessend weich, sohmutzig blassviolett, ohne
Spuren von Extravasaten. Kammern eng; kleine Gehirn'zerfliessend weich ohne
Extravasate. In den Blutleitern mässig viel dunkelflässigen Elutes. Zwischen
den Weichtheilen des Halses und der Haut daselbst keine Blutaustritte oder son¬
stige Verletzungen. Im Rachen und Kehlkopf sandiger Kanalinhalt. Im oberen
Antheile der Trachea kein Inhalt, im unteren spärlich blutig tingirter Schaum.
Schleimhaut, besonders im Rachen, grünlich missfarbig, gpnst normal. Zwerch¬
fell rechts am 4., links am 5. Rippenknorpel. Von den Lungen nur die rechte
io den vorderen Brustraum vorragend. Beide Lungen im Verband mit dem Herzen
im Wasser schwimmend, ebenso jede für sich, die Ijnke jedoch mit dem Ober¬
lappen nach abwärts strebend. Im Stamme des Bronchus beider Lungen miss¬
farbige Stoffe, die rechts sandige Theilohen enthalten. Linke Lunge im ganzen
Oberlappen und in den oberen Partien des Unterlappens fast“überall gleichmässig
schmutzig violett, mit isolirten bis linsengrossen helleren Steller.. In den unteren
Partien des Unterlappens grössten theils heller gefärbt, etwas gebläht, mit deut¬
lich erkennbaren lufthaltigen Bläschen; daselbst polsferartig,*sonst fast fleisch-
artig anzufühlen, ohne Ecchymosen. Am Schnitt überall ziemlich blutreich. Im
Oberlappen schaumlose blutige Flüssigkeit, im Unterlappen nur wenig schaum-
haltige Flüssigkeit entleerend. Die Bronchien, soweit erkennbar, bloss Sohaum
enthaltend. Von der zerschnittenen Lunge sinken der ganze Oberlappen und
sämmtliche bohnengrosse Stücke. Der Unterlappen schwimmt unvollständig und
von dessen bohnengrossen Stücken halten sich nur 8 aus dqp ‘vorderen Partien
über Wasser, die nach massigem Ausdrücken zwischen den Fingern ebenfalls
untersinken. Rechte Lunge mässig gedunsen, zahlreiche, bis über bohnengrosse
hellere und gleichmässig mit Luft gefüllte Lungenbläschen zeigende Stellen ent¬
haltend, sonst blassviolett, von fleiscbartigem Aussehen. Am Schnitt blutreich,
überall reichlich blutige, doch nur wenig schaumhaltige Flüssigkeit und aus den
grösseren Bronchien Kanalinhalt entleerend. Von der zerschnittenen Lunge
schwimmt jeder der drei Lappen. Von den bohnengrossen Stücken des Ober¬
lappens sinken 5 sofort, von den übrigen mehr als die Hälfte nach dem Aus¬
drücken zwischen den Fingern, vom Mittellappen 3 sofort j^nd ebenso die übrigen
bis auf einen nach dem Zusammendrücken. Vom Unterlappen schwimmen sämmt-
licbe Stücke, von denen jedoch, nach dem Ausdrücken, mehr als die Hälfte zu
Boden sinkt. Herz von normaler Grösse, schlaff, mit einer hanfkorngrossen Ecchy-
mose an der Vorderfläohe, überalf blutig durchtränkt, spärliches, dunkelflüssiges
Blut enthaltend. Klappen und Myocardium sonst normal. Leber gross, blutreich,
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36
Dr. Fagerlund,
etwas missfarbig, ipa Wasser sinkend. Magen schlaff, von aussen blassviolett,
im Wasser schwimmend, in demselben missfarbiger bis bobnengrosse Luft¬
blasen einscliliessender Inhalt in der Menge von circa einem halben Kaffeelöffel,
in dem sieb mohjikorngrosse Sandkörner befinden. Schleimhaut überall
schmutzigviolett, sonst normal. Dickdarm überall strotzend mit Meconium gefüllt,
im Wasser sinkend. Dünndarm schmutzig blassviolett, von diesem nur die
mittleren Schlingen des Jejunum schwimmend, in demselben spärlich etwas
missfarbiger Schleim. Im Duodenum, int obersten Dünndarm eben¬
falls missfarbiger Schleim, in dem sich makroskopisch keine Fremdkörper
nachweisen lassen. Schleimhaut überall etwas missfarbig, ohne sonstige Verände¬
rung. Nieren etwas missfarbig, blutreich; in der Harnblase reichlich trüber Harn.
Nach Herausnahme der Eingeweide keine weitere Verletzung.
Gutachten« 1- Das untersuohte Kind war 3310 g schwer und 52,5 cm
lang; darnach ausgetragen und ganz normal gebildet.
2. Aus dem insbesondere durch die Schwimmprobe nachgewiesenen, wenn
aueh geringen, «ber nur auf die Lungenbläschen beschränkten Luftgehalt der
Lungen sowie des Magens und oberen Dünndarmes, welcher bei dieser Verkei¬
lung und da die übrigen inneren Organe ganz luftleer waren, nicht von Faulniss
hergeleitet werden kann, geht hervor, dass das Kind Luft geathmet und daher
nach der Geburt wenigsten^ einige Augenblicke gelebt haben muss.
3. Dasselbe ist, wie aus der allgemein dunkelflüssigen Beschaffenheit des
Blutes und der Ecchymosenbildung am Herzen hervorgeht, zunächst an Erstickung
gestorben.
4. Diese Erstickung ist zweifellos durch Ertrinken in Kanalinhalt oder
diesem ähnlichen Stoffe veranlasst worden, da nicht nur in den grösseren Luft¬
röhren und im Ma£en, sohdern bei der mikroskopischen Untersuchung der von
der Schnittfläche der Lungen abgestreiften Flüssigkeit und auch in dem dem
Dünndarme entnommenen, misstorbigen Schleim und zwar bis
59 cm in dem Darme hinab, feinsandige und Kohlenpartikelchen,
Reste von Pflanzentheilchen und ähnliche Stoffe gefunden wurden«
wie sie im Kanalabfall, Spülicht und dergleichen sich finden, und die namentlich
so lief in den Düttqjlarm hinein nicht erst an der Leiche, sondern nur während
des Lebens hineingelangt sein konnten. .
5. Verletzungen wurden an dem Kinde nicht vorgefunden, ausser einem
ganz reactionslosen Defect der Haut am Knie, welcher offenbar durch Ratten ver¬
anlasst worden ist.
6. Der Umstand, dass die Leiche vorzugsweise nur äusserlicb und nicht im
höheren Grade von der Fäulniss ergriffen war, widerspricht nicht der Angabe,
dass das Kind bereits 3Monate vor dem Auffinden geboren worden ist, da zu der
betreffenden Zeit eine starke Gefrierkälte herrschte, welche den Eintritt der Fäul¬
niss zu verhindern oderjsu verzögern geeignet war.
7. Die Nabelschnur zeigte auch nach dem Aufweichen und Reinigen im
Wasser ein quer abgetrenntes Ende, dessen Rand jedoch auf der einen Seite fein
gezackt war, so dass es immerhin möglich ist, dass die Schnur nicht durch¬
schnitten, sondern durchrissen oder mit den Fingernägeln durchquetscht, viel¬
leicht auch von Ratten abgenagt worden ist.
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lieber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 37
V. Sani tatspolizeiliche Seotion. Selbstmord darch Ertrinken am 26. Januar
1888. J. M., 20 Jahre, Geschäftsdiener.
Graciler Körperbau; starke Gänsehaut. Schrumpfung desSorotum. Schlamm
am Kopfe und an anderen Stellen. Keine Maceration an den Händen. Weisser,
dichter Schaum vor dem Munde. Schädel mässig*tang, schmal mit stark vor¬
springenden Juga cerebralia, doch offenen Nähten.
Innerlich: Hirnhäute mässig blutreich, zart. Hirnwindungen spärlicher,
nicht abgeflacht. Hirn teigig, blass. Kammern eng. In den Luftwegen bis in
die Bronchien massenhafter dichter weisser Scfiaum und blasser Schleim. Zwerch¬
fell rechts am 5., links am 6. Rippenknorpel. Lungen gedunsen, einander über¬
ragend, blutreich, am Schnitt ziemlich reichliches sohaumiges Serum entleerend;
in beiden Pleurasäcken je 3 Deoiliter klaren blassen Transsudates. Herz con-
trahirt ohne Ecchymosen. Im Magen und im oberst Tn Theile des Jeju¬
num reichliche wässrige Flüssigkeit. Nieren blutreich. Epiphyse des
Humerus von der Diaphyse durch 2 mm dicke Knorpelgrenze getrennt. — Ob¬
duclionsdiagnose und Gutachten lauteten auf Selbstmord durch Er^fänkung.
VI. Gerichtliche Section am 24.März 1888. Männliches neugeborenes Kind
am 22. März im Abortkanal des Hauses*Ottakring, Hauptstrasse 31, gegen 2 Uhr
Nachmittags sammt der daran hängenden Nachgeburt aufgefunden. Dieser Ab¬
ort oommunicirt mit den übrigen im Hause nicht, steht im Hofe, ist leicht für
Jedermann zugänglich. Das Kind lag unmittelbar unter demSitzbretl. Am Nach¬
mittag hörte man stöhnende Laute von dem Abort.
Körper männlichen Gesohlechts sammt der Placenta 2660 g schwer, 47 cm
laug, gut gebildet von mässigem Fettpolster. Haut im Gesicht und am Rücken
schmutzig violett, sonst blass, am Kopfe mit reichlichem, sonst mit spärlichem
sandigen Kanalinhalt bedeckt. Kopf proportiouirt, sein gerader Durchmesser
10 cm, sein querer 7,4 cm, sein diagonaler 11,8 cm, sein Umfaog 29 om be¬
tragend. Kopfhaar braun, dicht, bis 1 cm lang. Augenlider gedunsen. Con-
junctiva stark injicirt, etwas geschwollen^ ohne Ecchymosen. Pupillen mittelweit.
Im Munde und in der Nase spärlicher Kanaliqh&R. Mundschleimhaut schmutzig
violett, feucht. Hals und Thorax proportionirt. Schulterbreite 11,8 cm und nach
mässigem Zusammendrücken 10 cm betragend. Bäuch weich und flach, mit dem¬
selben durch eine 59 cm lange sülzige, leicht missfarbige Nabelschnur die
16 cm lange und 500 g schwere, mit Kanalinhdlt verunreinigte, sonst frische
Placenta in Verbindung, an dessen Aussenfläche einer der Randlappen, im Um¬
fange fast eines Hühnereies, blassgelblich verfärbt, am Schnitt derb und glatt
ist. Genitalien und After normal. Nates nicht verfärbt. Glieder schlaff, die
Nägel hornig, die Fingerspitzen überragend. In der unteren Femurepiphyse ein
3 mm breiter Knochenkern. Der Rücken des linken Mittelfingers an einer
bohnengrossen Stelle durch Ratten benagt. Sonst nirgends eine äussore Ver¬
letzungsspur.
Innerlich: Schädeldecken blutreich, über der hinteren Partie des rechten
Os parietale ziemlich stark blutig serös infiltrirt. Meningen zart, bleich. Hirn
von mittlerem Blutgehalt, weich. Kammern eng mit normale:« Inhalt, in dem #
Sinus reichliches dunkelflüssiges Blut. Schädelbasis unverletzt. In den Luft-
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38
Dr. Fagerlund,
wegen reichlicher feinblesiger Schaum, der nur im Rachen kleine Sandkörnchen
enthält. Schleimhaut überall rosenroth, sonst normal. Zwerchfell rechts am 3.,
linbs am 4. Rippenknorpel. Lungen in den vorderen Brustraum vorragend, das
Herz seitlich bedeckend. In Verbindung mit dem Herzen im Wasser vollkommen
schwimmend; ebenso jede für sich. Linke Lunge gedunsen, blass und dunkel¬
violett marmorirt mit deutlich erkennbaren luftgefüllten Lungenbläschen und mit
zerstreuten, bis banfkorngrossen Ecchymosen, beim Einsetmeiden knisternd, am
Schnitt blutreich^ massenhaften fejnblasigen Schaum entleerend, der zur mikrosko¬
pischen Untersuchung zurückgesetzt wird und auoh in den Bronchien enthalten
ist. Von der zerschnittenen Lunge schwimmen sowohl die einzelnen Lappen als
sämmtliche bohnengrosse Stücke. Rechte Lunge genau ebenso. Herz contrahirt,
mit vereinzelten punktförmigen Ecchymosen, reichlich dunkelflüssiges Blut ent¬
haltend. Klappen un? Herzfleisch normal. Leber gross, blutreich. Milz schlaff,
von mittlerem Blutgehalt. Magen stark gebläht, im Wasser schwimmend, in
demselben ausser zahlreichen Luftblasen etwa zwei Kaffeelöffel einer blassen,
wässerig schleimigen Flüssigkeit, in der sich zahlreiche, theils
weissliohe, theils schwärzliche, sandige Partikel nachweisen
lassen. Schleimhaut mässig injicirt ohne Schwellung. Dickdarm strotzend, mit
Meconium gefüllt, im Wasser sinkend. “Dünndarm contrahirt, im Wasser sin¬
kend, in den oberen Antheilen blassen, stellenweise missfarbigen
Schleim, in dem unteren Meconium enthaltend. Schleimhaut überall blass.
Nieren blutreich; Blase leer. Nach Herausnahme der Eingeweide keine weitere
Verletzung.
Gutachten. 1. Das untersuchte Kind war 2160 g schwer, 47 cm lang
und besass einen nur 3 mm breiten Knochenkern in dem unteren Ansatzknorpel
des Oberschenkelknochens, war demnach noch nicht völlig ausgetragen, jedoch
bereits lebensfähig und dürfte, etwa einen Monat vor dem normalen Ende der
Schwangerschaft zur Welt gekommen sein.
2. Dasselbe ist lebend geboren worden, da Lungen und Magen, insbe¬
sondere bei der Schwimmprobe, lufthaltig gefunden wurden und dieser Luft-
gebalt im vorliegenden Falle wedpr von Fäulniss noch von Lufteinblasen, son¬
dern nur von Luftathmen abgeleitet werden kann. Doch kann dieses Athmen nur
kurze Zeit gedauert haben, da*der Dünndarm noch keine Luft enthielt und der
Dickdarm strotzend mit Kindspech gefüllt war.
3. Aus der dunkelflüsstgen Beschaffenheit des Blutes und der Ecohymo-
sirung der Lungen und des Herzens lässt sich schliessen, dass das Kind zunächst
an Erstickung gestorben, welche, wie der reichliche Schaum in den Luftwegen
und in den Lungen, sowie der insbesondere nachträglich durch mikroskopische
Untersuchung oonstatirte Befund von Abortstoffen auf der Schnittfläche der
Lungen, ferner im Magen und bis 75 cm weit in den Dünndarm hinein
beweisen, duroh Ertrinken in Abortsjauohe, somit auf gewaltsame Weise zustande
gekommen ist.
4. Verletzungen wurden an dem Kinde nicht vorgefunden.
5. Die Entbindung ist offenbar eine rasche gewesen, da die Geburts-
jjeschwulst am Köpf nur wenig entwickelt war, und die Nabelschnur noch mit
dem Mutterkuchen in Verbindung stanct.
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üeber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 39
6. Die Leiche war vollkommen frisch, kann daher nur kurze Zeit in dem
Abort gelegen haben*).
An demselben Tage wurde auch von Prof. Dr. E. v. Hof mann zu Wien
eine gerichtlich-medioinische Obduotion an einer am 22. März vom Kanalräumer
in einem Kanäle gefundene Kinderleiohe verrichtet. Da dieses Kind aller Wahr¬
scheinlichkeit nach todt geboren worden war und also todt in den Kanal ge¬
worfen, wird das hierüber geführte Protokoll auoh hier mitgetbeilt, da es nicht
nur geeignet ist, die Verschiedenheit zwischen den Obduotionserscheinungen in
diesem und dem eben erwähnten Falle zu beleuchten, sondern auch zu zeigen,
wie wenig Neigung das Ertränkungsmedium überhaupt hat in die Lungen und in
den Digestionskanal solcher einzudringen, die als Leichen hineingerathen sind.
Die 33 jährige Wäscherin- K. 8. wird als Mutter dieses Kindes bezeichnet.
Dieselbe hat angeblich 5 mal (darunter 3 mal abortirt) geboren. Am 19. März
fand ihre Quartiergeberin Blutspuren am Fussboden ihres Cabinets und Hess die
B. in’s Krankenhaus bringen, wo man deutliche Zeichen einer vor kurzer Zeit er¬
folgten Geburt an ihr fand. Sie giebt an, einen BlutQuss am oben genannten
Tage gehabt zu haben, leugnet aber die Geburt eines Kindes.
• Der Körper weiblichen Geschlechts, 1030 g schwer, 39 cm lang, von
schwächlichem Aussehen, Haut vielfach mit sandigem Kanalinhalt verunreinigt
und nach dessen Entfernung überall theils schmutzig violett, theils grünlich.
Kopf proportionirt; sein gerader Durchmesser 8,4 cm, sein querer 6,0 cm, sein
diagonaler 9,4 om, sein Umfang 26 cm. Kopfhaar spärlich bis 1 cm lang.
Conjunctivae und Bulbi oculi blutig durchtränkt. Im Munde und in dy Nase
reichlicher sandiger Kanalinhalt. Im Gesichte, am Halse und in den Leisten¬
beugen reichlich Vernix caseosa. Mundschleimhaut missfarbig, ohne sonstige
Veränderung. Hals und Thorax proportionirt. Schulterbreite höchstens 8,4 cm.
Bauch eingesunken, schlaff; am Nabel ein 11,5 om langer missfarbiger Nabel-
sebnurrest mit vorläufig unkenntlicher Beschaffenheit des freien Endes. Genitalien
klaffezfd, die grossen Labien fettarm. Panniculus adiposus nur schwach ent¬
wickelt. Am Anus Meconium. Glieder schlaff. Nägel weich, die Fingerspitzen
eben erreichend. In dem unteren Femurepiphysenknorpel kein Knochenkern. Im
Fersenbein ein 6 mm und im Talus ein 4 mm breiter. Fast an der ganzen
Aussenseite der oberen Extremität ist die Haut in unregelmässiger Begrenzung
und stellenweise auch die sonstigen Weiohtheile bis auf die Knochen abgängig;
die Ränder dieser Stellen sind wie zernagt und ebenso wie der missfarbige und
mit Kanalinhalt bedeckte Grund, ohne Spuren von Reactionserscheinungen.
Nagelglied des linken Zeige- und des rechten Kleinfingers, sowie die Endglieder
der meisten Zehen abgängig und die Stumpfe von gleicher Beschaffenheit wie
obige Defecte. Sonst äusserlich keine Verletzung.
Innerlich: Schädeldecken mässig blutreich, überall missfarbig, ohne Blut¬
unterlaufung. Scbädelknochen an der Gegend der rechten Seitenfontanelle an
einer kreuzergrossen, unregelmässigen Stelle sammt der Dura durchbrochen, ohne
Reactionserscheinungen und durch diese Oeffnung sandiger Kanalinhalt in die
Scbädelhöhle eingetreten und über die hintere Hälfte der rechten Hirnhemisphäre
ausgebreitet. Schädelknochen sonst unverletzt. Meningen zart, sehr blutreich.
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40
Dr. Fagerlund,
VII. Die am 7. April 1888 verrichtete Obduction der Leiche des 19jährigen
K. P., Kellner, der am 4. April*im Kaiserwasser zu Wien um 4 Uhr Nachmittags
beim Kahnfahren verunglückt und ertrunken ist.
Hirn missfarbig, zerfliessend weich. In den Seitenventrikeln eine beträchtliche
Menge geronnenen Blutes, sonst nirgends Blutaustritte nachweisbar. Schädel¬
basis unverletzt. Weichtheile des Halses durch Fäulniss missfarbig, ohne Blut¬
austritte. In der Trachea missfarbige Flüssigkeit, ohne Schaum und ohne Fremd¬
körper. Im Kehlkopf und im Rachen spärlicher Kanalinhalt. Schleimhaut überall
missfarbig. Zwerchfell beiderseits am 3. Rippenknorpel. In beiden Pleurasäcken
reichlich blutig seröse Flüssigkeit. Lungen in den hinteren .Brustraum zurück,
gesunken, klein, schlaff, in Verbindung mit dem Herzen im Wasser sinkend-
ebenso jede für sich. Die linke gleicbmässig' schmutzig violetjnit spärlichen
punktförmigen Eccbyroosen, von fleischartiger Consistenz, am Schnitt gleich¬
mässig, blutig durchtränkt und spärliche schaumlose Flüssigkeit entleerend, ofine
auffälligen Inhalt in den Bronchien. Die einzelnen Lappen und sämmtliche
bohnengrosse Stücke der zerschnittenen Longe im Wasser vollkommen sinkend.
Rechte Lunge ebenso beschaffen. Herz missfarbig, schlaff, mit verwachsenen bis
hanfkorngrossen Eccbymosen, spärlich missfarbiges Blut enthaltend. KlappQn
und Herzfleisch normal, blutig durohtränkt. Leber und Milz schlaff, missfarbig,
blutig durchtränkt, ihr Ueberzug stellenweise von Fäulnissgasen abgehoben.
Magen missfarbig, gebläht, im Wasser schwimmend; in demselben ein Kaffee¬
löffel voll blutiger missfarbiger Flüssigkeit, in der sich vereinzelte sandige Körn¬
chen linden. Schleimhaut überall missfarbig, sonst normal. Dickdarm überall
mit Meconium stark gefüllt, im Wasser sinkend. Vom Dünndarm die unterste
15 cm lange Schlinge durch eine unregelmässige Oeffnung in dem rechten hin
teren Bauchrand herangezerrt, missfarbig; der sonstige Dünndarm blutig durch¬
tränkt, im Wasser sinkend mit missfarbig schleimigem Inhalt, in dem sich keine
Fremdkörper nachweisen lassen. Nieren blutig durchtränkt. Blase leer. Innere
Genitalien normal. Nach Herausnahme der Eingeweide keine weitere Verletzung.
Gutachten. 1. Die untersuchte Frucht war nur 1030 g schwer, 39 cm
lang, war demnach noch nicht ausgetragen und wahrscheinlich nooh gar nicht
lebensfähig. Sie dürfte etwa um die 28. Schwangerschaftswoche herum zur Welt
gekommen sein.
2. Da die Lungen, wie insbesonders durch die Schwimmprobe qonstatirt
wurde, vollkommen luftleer waren, der geringe Luftgehalt im Magen aber auch
nur von Fäulniss herrühren kann, so lässt sich nicht behaupten, dass die Frucht
lebend geboren wurde; höchst wahrscheinlich ist dieselbe bereits todt zur Welt
gekommen, was um so mehr angenommen werden kann, als in den Seitenkam¬
mern des Gehirns ausgetretenes Blut gefunden wurde, und dieser Blutaustritt,
welcher wohl während des Geburtsactes und durch denselben zustande gekommen
sein wird, den Tod der Frucht noch vor Beendigung desselben hat bewirken
können.
3. Eine der lebenden Frucht beigebrachte Verletzung wurde nicht vorge¬
funden, dagegen zahlreiche und ausgebreitete Defeote der Haut’und der Weich¬
theile und selbst der Knochen in der Gegend der rechten Seitenfontanelle, welche
offenbar postmortal durch Ratten veranlasst worden sind.
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Ueber das Eindringen von Ertr&nkangsflüssigkeit in die Gedärme. 41
Körper kräftig, gut gebaut. Gänsehaut. Reichliche Todtenfleoke auch an
der Vorderseite. Verunreinigung mit Wellsand und Schlamm. Mehrfache Ex-
coriationen am linken Arm ohne SufFusionen. Am Munde blutig tingirter Schaum,
Epidermis der Hände etwas macerirt, links stärker. Zwischen den Fasern der
Brusimuskel (Pectoralis major und minor) rechts und links zahlreiche, bis bohnen-
grosso Extravasate. Oedem der aryepiglottischen Falten. Lungen stark ballonirt,
massig blutreich, sehr viel Flüssigkeit am Schnitt entloerend. Im Magen massen¬
haft wässerige Flüssigkeit (wie Reiswasser), die sich bis in’s obere Ileum durch
das ganze Duodenum und Jejunum verfolgen lässt. Schleimhaut in allen diesen
Darmtheilen ausgewässert und bleich.
Till. Sanitätspolizeiliche Seotion am 16. Mai 1888, verrichtet am Leich¬
nam des kurz nach der Geburt verstorbenen männliohen Kindes der M. S.
Körper 56 om lang, Pannioulus adiposus gut entwickelt. Die Haut an
zahlreichen Stellen, besonders am Kopf und am Rücken mit Kindspech verun¬
reinigt. Kopf gegen den Scheitel in die Länge gezogen. Kopfhaar 2 cm lang,
blond; Conjunctivae injioirt nrit einzelnen stecknadelknopfgrossen Ecchymosen.
Am Bauche ein 7 cm langer, gallig imbibirter, frischer Nabelstrangrest; abge¬
schnittenes Ende gut erhalten. Scrotum ödematös. Am Anus Meconium. Nägel
hornig, die Fingerspitzen überragend. In der unteren Femurepiphyse ein 5 mm
breiter Knocbenkern.
Innerlich: Schädeldecken blutig, über der mittleren Partie des rechten
Scheitelbeins stark sülzig infiltrirt. Im linken Scheitelbeine zahlreiche, rundliche,
bis bohnengrosse Ossificationsdefeote. Meningen zart. Hirn blutreioh, weich,
Ventrikeln eng. ln den Sinus viel dunkelflüssiges Blut. In den Luftwegen und
im Rachen reichlicher mit Meconium gemengter Schleim. Schleimhaut überall
schmutzig violet mit zerstreuten,- stecknadelknopfgrossen Ecchymosen, besonders
im Kehlkopf. Zwerchfell rechts am 4., links am 5. Rippenknorpel. Beide Lungen
in den hinteren Prustraum zurüokgesunken, schlaff, im Wasser sinkend, ebenso
jede für sich. Linke dunkelviolet mit zerstreuten, hanfkorngrossen, helleren, wie
es scheint lufthaltigen Stellen, fleischartig und blutreich, am Schnitt schaumlose
Flüssigkeit entleerend, in den grösseren Bronchien meconiumhaltiger Schleim.
Jeder Lappen nnd sämmtliche bohnengrosse Stückchen sinkend. Rechte Lunge
von gleicher Beschaffenheit. Herz mit zerstreuten, bis hanfkorngrossen Ecchy-
mosen. Beiderseits viel dickflüssiges Blut enthaltend, sonst normal. — Leber
gross, blutreich, Milz sehr blutreich. Magen mässig ausgedehnt, im Wasser sin¬
kend, reichlich Meconium, keine Luftblasen enthaltend. Schleimhaut violet, stark
injicirt. Dünndarm dunkelviolet, stark injicirt. Im Duodenum und in der obersten
Schlinge des Jejunum spärliches Meconium. Das übrige Jejunum und der obere
Ileum leer, im unteren Ileum Kindspech. Schleimhaut stark injicirt ohne Schwel¬
lung. Nieren blutreich, glatt. Der Dickdarm in Flexura sigmoidea mit Meconium
gefüllt, sonst leer. Diagnose der Obduotion: Fötale Erstickung.
4. Die Nabelschnur zeigt nach erfolgtem Aufweiohen ein unregelmässig ge¬
franstes Ende; dürfte demnach abgerissen sein.
5. Es widerspricht nichts der Angabe, dass die Frucht schon am 19. März
geboren worden und-seitdem in dem betreffenden Abort gelegen bat.
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42
Dr. Fagerlund.
IX« Uebungssection am 21. Februar 1888. Leiohnam eines während der
Entbindung gestorbenen Kindes.
Der Körper männliohen Geschlechts, 51cm lang, normal gebaut, mit ziem¬
lich gut entwickeltem Panniculus adiposus. Die Haut am Rücken blauroth, sonst
blass, stellenweise mitBlul und Kindspech verunreinigt und fast überall mit Haut-
sohmiere bedeckt. Der Kopf in der Scheitelgegend etwas in die Länge gezogen
mit oa. 2 cm langen Haaren bedeckt. Die Conjunctivae mit zahlreichen punkt¬
förmigen Eccbymosen. Am Nabel ein 10 cm langer Nabelschnurrest mit glattem,
scharf abgeschnittenen Ende. Die Nägel hornig, die Fingerspitzen überragend.
In der unteren Femurepiphyse ein 5 mm breiter Knochenkern.
Innerlich: Schädeldecken blutig imbibirt und in der Scheitelgegend blut¬
unterlaufen. Schädelknochen unverletzt. Hirnhäute zart. Hirnsubstanz weich,
etwas blutreich. Kammern eng, leer. In den venösen Blutleftern flüssiges dun¬
kles Blut. Im Rachen, im Kehlkopfe und in der Luftröhre mitMöoonium gemengter
Schleim in geringer Menge. Die Lungen in der hinteren Partie der Brusthöhle
zusammengefallen, von fleischartiger Coosistenz sammt dem Herzen im Wasser sin¬
kend. Jede Lunge für sich, sowie auch jedor einzelne Lappen ebenfalls im Wasser
sinkend. Die linke Lunge dunkelviolet, mit zerstreuten kleineren subpleuralen
Eccbymosen, am Schnitt blutreich, beim Druck eine blutig gefärbte,, schaumlose
Flüssigkeit; die Bronchien mit Meconium gemengten Schleim enthaltend. In
bohnengrosse Stückchen zerschnitten, sinken sie sämmtlich. Rechte Lunge ebenso
beschaffen wie die linke. Das Herz fest, mit zahlreichen kleinen subpericardialen
Ecchymosen. In den Ventrikeln etwas dunkelflüssiges Blut. Herzmusculatur und
Klappen normal. Ueber Leber, Milz und Nieren nichts zu bemerken. Der Magen
im Wasser sinkend, zum grössten Theile mit Kindspeoh gefüllt. Die Schleimhaut
bleich. Dünndarm und Dickdarm im Wasser sinkend. Duodenum und 25 cm
vom Jejunum ebenso wie der unterste .Theil vom Ileum etwa 8 cm
von Valv. Bauhini entfernt, vollkommen mit KindSpeoh gefüllt. Die
Strecke zwischen diesen (ca. 77 cm) zeigt, mit Zwischenrä umen von
3 — 5 cm, Streifen von eben demselben Kindspech. Schleimhaut blass.
Im untersten Theile des Colon ascendens eine geringe Menge von Kindspech.
Oberer Theil desselben, sowie der Colon transversum und Colon descendens leer,
wogegen im unteren Theile des Rectums eine geringe Menge von Kindspech.
X. Zugleich will ich noch einen Fall anführen, welcher sich auf eine münd¬
liche Mittheilung des Herrn Assistenten Dr. A. Pal tauf in Wien gründet. Während
der Osterferien war Dr. Pal tauf nämlich nach Graz gereist und wohnte daselbst
einer von Prof. Eppinger am 3. April 1888 ausgeführten medico-forensischen
Obduction bei. Die zu untersuchende Leiche war die eines Mädchen von 7 Mo¬
naten, welches durch Verunglückung in’s Wasser gefallen war, und zwar gerade
an einer Stelle, wo einige Kloakenröhren der Stadt ausmünden. Bei dieser Ob¬
duction wurden alle Organe vollkommen frisch befunden und ausser den gewöhn¬
lichen Zeichen des Ertrinkungstodes, Sand und Schmutzstoffe im Munde,
im Rachen, im Kehlkopf, in den Bronchien, Lungen, im Oesophagus, ein Wenig
itn Magen und in einer Strecke von 30 cm bis in die Dünndärme
hinab. — Ich habe über diesen Fall kein vollständiges Protokoll erhalten können.
(Fortsetzung und ßebluss folgt.)
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2 .
(Jebcr eiiei Fall geaniaer acuter PaacreaseatzAadaag
Bebst leaterkaagea Aber die aaateaiisehe aad fereasisehe
Bedeataag der Paaereasblataagea.
Von
Docent Dr. Paul Dittrlch,
Assistanten am garichtlich-medlelni&chcn Institute der K. K. deutschen Universität zu Prag.
Die genuinen Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse gehören, zu¬
mal wenn wir von den Geschwulstbildungen derselben, deren Anzahl
nach den bisherigen literarischen Mittheilungen allerdings ebenfalls
keine grosse ist, absehen, gewiss zu den äusserst seltenen Befunden.
Ich habe dabei ganz besonders jene Fälle im Auge, in denen die
Erkrankung des Pancreas entweder intra vitam schwere Erscheinungen
setzt oder bei der Section als alleinige oder doch wenigstens als
wesentlichste und selbständige pathologische Affection im mensch¬
lichen Organismus erscheint. Es gehören in diese Gruppe der Erkran¬
kungen die Hämorrhagien und die acuten Entzündungen des Pancreas.
Was zunächst die Hämorrhagien des Pancreas anbelangt, so
finden wir, abgesehen von etwaigen Hämorrhagien traumatischen Ur¬
sprungs, mehrere Angaben in der Literatur über Fälle von spontanen
Pancreasblutungen, welche während des Lebens der betreffenden Indi¬
viduen schwere Krankheitserscheinungen gesetzt haben und denen die
Bedeutung der alleinigen Todesursache beigelegt wurde.
Ich möchte aus der Reihe dieser Fälle nur jene Beobachtungen
hervorheben, welche gemäss einer genauen anatomischen Untersuchung
zur Annahme einer spontanen Entstehung der Hämorrhagieu geführt
haben und nach der Ansicht der betreffenden Autoren den Exitus
lethalis herbeigefuhrt hatten.
Der erste, welcher auf die Bedeutung von Pancreasblutungen als Ur¬
sache eines plötzlichen Todes aufmerksam gemacht hat, war Zenker').
Derselbe berichtete auf der 47. Naturforscherversammlung zu Breslau
im Jahre 1874 über drei Fälle, in denen er bei der Obduction der
') Zenker: Ueber Hämorrhagien des Pancreas als Ursache plötzlichen Todes.
(Tageblatt der 47. Versammlung Deutscher Naturforscher und Acrzte in Breslau.
1874 . & 211 .)
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UNIVERSITY OF IOWA
44
Dr. Dittrich.
Leichen von Personen, welche plötzlich, ohne vorher wesentliche Krank¬
heitserscheinungen dargeboten zu haben, gestorben waren, theils aus¬
gedehntere, theils geringere ßlutungsherde im Pancreas gefunden hat.
Bloss in zwei Fällen sah Zenker die Pancreasblutung als sichere
Ursache des plötzlichen Todes an. In beiden Fällen, welche sehr fett¬
leibige Personen betrafen, von denen die eine an Epilepsie gelitten
hatte, fand man hämorrhagische Infiltration und hochgradige Fett¬
degeneration des Pancreas, das eiue Mal auch blutigen Erguss in’s
Duodenum. In einem dritten Falle, welcher einen ertrunkenen Potator
betraf, fand sich gleichfalls blutige Infiltration und Fettdegeneration
des Pancreas, sowie blutiger Erguss in’s Duodenum vor. Hier hat je¬
doch Zenker wegen der gleichzeitig bestehenden, wenn auch nicht sehr
stark ausgeprägten Zeichen des Ertrinkungstodes der Pancreasblutung
nicht dieselbe Bedeutung beigemessen wie in den beiden anderen Fällen.
Es ist ganz begreiflich, dass in der Folge den Häraorrhagien des
Pankreas von Seiten der pathologischen Anatomen, ganz besonders
aber von Seiten der Gerichtsärzte eine gewisse Aufmerksamkeit zu¬
mal bei plötzlich erfolgtem Tode zugewendet wurde, da man ent¬
sprechend den Mittheilungen Zenker’s erwarten durfte, in derartigen
Befunden öfter den unmittelbaren Grund für plötzliche Todesfälle zu
finden. Trotzdem sind bis jetzt nur wenige solcher Fälle bekannt ge¬
worden. Dieselben waren zum Theile gewiss nicht uncomplicirte
Pankreasblutungen, und erscheint es mir überhaupt zweifelhaft, ob
eine Pankreasblutung an und für sich im Sinne Zenker’s den Men¬
schen zu tödten im Stande ist.
In anderen Fällen finden wir wiederum in den Sectionsproto-
kollen Angaben über pathologische Veränderungen im Organismus,
welche die Ursache des Exitus lethalis schon an und für sich ohne
Heranziehung der bestehenden Pankreasblutung hinlänglich aufzuklären
im Stande sind. Ich möchte dies auch für die Fälle Zenker’s gelten
lassen, indem es sich hier einerseits um fettleibige Personen, anderer¬
seits aber gerade in dem einen Falle um eine Erkrankung gehandelt
hat, bei welcher der Tod nicht gar so selten plötzlich erfolgt, ohne
dass man überhaupt anatomisch die unmittelbare Ursache des plötz¬
lich eingetretenen Todss klarzulegen im Stande wäre.
So lange also der Beweis tür die Annahme Zenker’s nicht er¬
bracht ist, so müsste man, falls den Pankreasblutungen die Bedeu¬
tung ursächlicher Momente bei plötzlichen Todesfällen vom gerichts-
ärztlichen Standpunkte zugeschrieben werden soll, fordern, dass es
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UNIVERSUM OF IOWA
lieber einen Fall von genuiner acuter Pancreasentzündung etc.
45
sich /um mindesten um solche Fälle handle, in denen jedo anders¬
artige Erkrankung im Körper, welche erfahrungsgemäss auch öfter
zum plötzlichen Tode führt — wio beispielsweise die Obesitas uni¬
versal is — ausgeschlossen werden kann.
Pankreasblutungen geringeren Grades entwickeln sich ja, wie man
sich bei den Sectionen überzeugen kann, gewiss auch secundär bei
verschiedenen Krankheiten, namentlich bei Herzfehlern. Dieselben
bilden dann aber lediglich zufällige und nebensächliche Veränderungen.
Schon Klob') hat auf das nicht seltene Vorkommen interstitieller
Hämorrhagien des Pankreas hingewiesen und erwähnt, dass sich die¬
selben aus sogenannten mechanischen Hyperämien ableiten lassen.
Doch fand er sie bloss bei hochgradigen Stauungsvorgängen im Be¬
reiche der Pfortader.
Ueberblicken wir die Zahl der Fälle von reiner Pankreasblutung,
so finden wir ausser den drei Fällen Zenker’s eigentlich nur we¬
nige analoge Beobachtungen in der Literatur verzeichnet, in denen
eine Pankreasblutung als unmittelbare Todesursache angesehen wurde.
Allerdings führt Draper 3 ) fünf Fälle eigener Beobachtung an,
in denen nach seiner Ansicht die in keinem Falle beträchtliche Pan-
kreasblutnng die Ursache des plötzlichen Todes gewesen sein soll,
ohne dass sich jedoch der Autor über die Art des etwaigen Zu¬
sammenhanges äussern würde.
ln dem einen dieser Fälle war die Blutung bei einer 36jährigen
Alkoholistin durch ein Trauma bewirkt worden. Der Tod war erst
eine Woche später eingetreten.
Wenn nun auch sonstige auffällige anatomische Veränderungen
bei der Section nicht gefunden wurden, so glaube ich gerade diesen
Fall einmal wegon der traumatischen Grundlage der Pankreasblutung
und ausserdem wegen des gleichzeitig bestehenden Alkoholismus nicht
etwa als eine Stütze für die Ansicht Zenker’s über die Bedeutung
der Pankreasblutungen als Ursache des plötzlichen Todes ansehen zu
können, da es immerhin denkbar ist, dass gerade die durch den Al¬
koholismus gesetzten Veränderungen den plötzlichen Tod bedingt haben
mochten. Ganz besonders sind in dieser Beziehung die durch die
') Klob: Zar pathologischen Anatomie des Pancreas. Oestcrr. Zeitschrift f.
praktische Heilkunde. 1860. No. 33
*) Draper: Pancreatic hemorrhage and sudden death. (Transactions of the
Association of American Physicians. I. p. 243.) Referirt im Centralbl. für die med.
Wissenschaften. 1887. S. 506.
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46
Dr. Dittrich,
Endarteriitis chronica deforroans nicht selten gesetzten Veränderungen
der Coronararterien des Herzens, sowie die mit Recht von v. Hof-
mann 1 ) besonders hervorgehobenen, häufig vorkomrnenden Degene¬
rationsvorgänge im Herzfleische zu nennen.
Dieselben Bedenken treten auch hinsichtlich der vier übrigen
Fälle von spontaner Pankreashämorrhagie Draper’s auf, in deren
einem übrigens eine Erkrankung des Cireulationsapparates vorlag,
während es sich in einem anderen Falle ebenfalls wieder um eine
Alkoholistin handelte, so dass es immerhin möglich erscheint, dass
diese Pankreasblutungen nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
In dem Falle von Rehm a ), welcher eine Frau im Alter von
37 Jahren betrifft, die in Folge von Erstickung durch Erwürgen ge¬
storben war, fand sich nebstdem ein auf traumatischem Wege hervor¬
gebrachter Bluterguss im Pancreas vor. Während nun Rehm bei der
forensischen Begutachtung dieses Falles sich dahin äusserte, dass der
Tod als blosser Erstickungstod angesehen werden darf, hat Zenker,
dessen Obergutachten in diesem Falle eingeholt wurde, den gleich¬
zeitig erfolgten Stoss in den Unterleib gegen die Bauchspeicheldrüse
und den hier Vorgefundenen Bluterguss ganz besonders hervorgehoben,
indem er sich vorstellte, dass von dem hier befindlichen Nervenge¬
flechte reflectorisch eine Herzlähmung bewirkt worden war. Wenn ich
mich auch in diesem speciellen Falle der Ansicht Rehm’s anschliessen
möchte, so kann allerdings nicht vollends ausgeschlossen werden, dass
auch allein durch eine derartige, den Unterleib treffende Gewaltein¬
wirkung der Tod hätte eintreten können, doch keineswegs durch die
Pancreasblutung als solche, sondern vielmehr nach Analogie des
Goltz’schen Klop r versuches als directer Effect der bis auf die Nerven¬
geflechte fortgepflanzten mechanischen Einwirkung.
Es scheint mir sonach auch der Fall Rehm’s keineswegs mit
unter diejenigen Fälle gerechnet werden zu dürfen, welche zu Gunsten
der Ansicht Zenker’s über den Zusammenhang zwischen Pankreas¬
blutungen und plötzlichem Tode verwerthet werden können, und zwar«
einerseits deswegen, weil hier die Erstickung schon an und für sich
den Exitus lethalis zu erklären im Stande ist, und andererseits auch
aus dem Grunde, weil die Hämorrhagie in der Bauchspeicheldrüse
*) v. Hofmann: Lehrbuch der geriohtl. Hedicin. 4. Auflage. 1887. S. 362.
*) Rehm: Tod durch Erwürgen. Gleichzeitiger Stoss in die linke Ober¬
bauchgegend, dadurch Bluterguss um das Pancreas. (B'riedreioh’s Blätter für ge¬
richtliche Medicin und Sanitätspolizei XXXIV. Jahrg. 1883. S. 325.)
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Ueber einen Fall von genuiner acuter Pancreasentzündung etc.
4 7
durch ein verhältnissmässig gewaltiges Trauma herbeigeführt worden
sein mochte, welches durch seine Einwirkung auf den Unterleib, auch
ohne dass es zu einer Pankreasblutung gekommen wäre, den Tod
hätte herbeiiühren können.
Wie bereits erwähnt, halte ich zur Entscheidung der Frage, ob
in einem gegebenen Falle eine reine Pankreasblutung vorliegt, die
mikroskopische Untersuchung des Organs für dringend geboten. Aus
diesem Grunde will ich diejenigen Fälle, in denen dieselbe unter¬
blieben ist, keiner näheren Erörterung unterwerfen, wobei ich betonen
will, dass spontane Pankreasblutungen auch als Begleiterscheinungen,
beziehungsweise Folgeerscheinungen einer acuten Entzündung des Pan¬
kreas Vorkommen, in welchem Falle man dann von einer Pancreatitis
haemonrhagica sprechen kann.
Ich hatte in der lejzten Zeit Gelegenheit, einen derartigen Fall
lu beobachten, welcher ein mannigfaches Interesse sowohl in ana¬
tomischer als auch in forensischer Beziehung darbietet.
Es bandelte sich am einen 21 Jahre alten Sträfling des k. b. Strafgerichtes
in Prag, welcher am 14. Mai 1. J. um 3 Uhr Morgens in seiner Zelle einen Er*
hängungsversuch unternommen hatte. Er wurde noch rechtzeitig abgeschnitten,
blieb einige Minuten bewusstlos, wurde jedoch bald wieder zum Bewusstsein
gebracht. Von diesem Zeitpunkte an stellten sich äusserst heftige kolik¬
artige Schmerzen im Unterleibe ein, welche ununterbrochen bis zu dem am
15. Mai um 11 Uhr Abends im Collaps erfolgten Tode anhielten. Spätere Nach¬
forschungen haben ergeben, dass der Mann auch schon vier Wochen vor seinem
Tode einen acht Stunden währenden Kolikanfall durchgemacht hatte, nach dessen
Aufhören er jedoch wiederum ungestört seiner Beschäftigung als Badewärter in
der Strafanstalt nachgehen konte, bis am Abend des 13. Mai ein neuerlicher
derartiger Anfall mit äusserst vehementen, nicht genau localisirten Schmerzen
besonders in der Oberbauchgegend in der Gegend des Quercolons eintrat. Die
Schmerzen waren möglicherweise die Ursache des Selbstmordversuches gewesen.
Von Seite der Gerichtsbehörde war die Obduction der Leiche nicht angeordnet
worden; ich habe dieselbe vielmehr instructionis causa auf Ansuchen meines Chefs
des Herrn Regierungsrathes Prof. R. v. Maschka vorgenommen, da von ihm der
Verdacht einer fremden Gewalteinwirkung nicht vollständig ausgeschlossen wurde.
Bei der Section des robusten Mannes fand* ich am Halse als Ueberrest der
durch den Erhängungsversuch gesetzten Veränderungen nebst einer seichten,
leicht gerötheten Strangfurche blos eine erbsengrosse Blutung im Musculus thyreo-
hyoideus*der linken Seite. Die Milz war in massigem Grade acut geschwollen.
Alle übrigen Organe erschienen mit Ausnahme des Pankreas und seiner Um¬
gebung von normaler Beschaffenheit. Die mikroskopische Untersuchung des Herz¬
fleisches ergab vollständig normale Verhältnisse.
Nach Eröffnung der Bauchhöhle fand man nun, dass das die Bursa omen-
talis begrenzende Zellgewebe, sowie das peripankreatische Zellgewebe sehr stark
blutig suffundirt und dadurch theils dunkelroth, theils schwärzlich verfärbt war.
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48
Dr. Dittrich,
Die Serosa des Magens Hess bloss entsprechend der grossen Curvatur des letzteren
eine Reihe umschriebener, kleiner, oberflächlicher Blutaustretungen erkennen.
Das Pankreas war 16 cm lang und besass in seiner Mitte einen Dicken¬
durchmesser von 3,5 cm. Seine Form entsprach vollkommen der Norm. Das
Gewebe des Pankreas war allenthalben sehr locker, äusserst leicht zerreisslich
und war, wie man am frischen Durchschnitte erkennen konnte, in grosser Aus¬
dehnung von ausgebreiteten Hämorrhagien durchsetzt. Die Blutungen waren
grösstentheils ganz frisch und Hessen sich dann mit Leichtigkeit wegwischen.
Im Bereiche des Pankreaskopfes konnte man makroskopisch noch deutlich die
normale Structur und Farbe des Organs erkennen, doch war auch hier das Gewebe
bereits sehr stark gelockert. Der mittlere Aniheil, sowie der Schweif der Bauch¬
speicheldrüse erschienen dagegen in eine schwarzbraune, an vielen Stellen schon
bei leisestem Drucke fast zerfliessende Masse umgewandelt, in deren Bereiche
man nur an sehr wenigen Stellen noch einzelne zerstreute, höchstens hirsekorn-
grosse Inselchen von Gewebe wahrnahm, welches schon bei der Betrachtung mit
unbewaffnetem Auge in seinem Baue an Pankreasgewebe erinnerte. Es war sonach
augenscheinlich das Caput pancreatis der von der .Erkrankung am wenigsten
ergriffene Abschnitt des Organs. *
Beim ersten Anblicke hatte ich daran gedacht, dass es sich hier
um eine reine Hämorrhagie im Pankreas mit consecutiver mechanischer
Zerstörung des Gewebes handle, doch fiel mir sofort auf, dass ich
nach Ausübung eines leisen Druckes auf den Pankreaskopf mit dem
Messer von der Schnittfläche auch eine aus dem Parenchym hervor¬
quellende röthlichgraue, dickere, eiterartige Flüssigkeit in massiger
Menge abstreifen konnte; gleichzeitig fand man etwa zwei Esslöffel
einer gleichen Flüssigkeit in der Beckenhöhle. Das Peritoneum war fast
überall, wenn auch nur massig injicirt, und ausserdem war die Se¬
rosa des Magens an einer umschriebenen Stelle so ziemlich ent¬
sprechend der Mitte der grossen Curvatur mit fibrinösen Exsudat¬
lamellen bedeckt.
Schon mit Rücksicht auf den eben erwähnten Befund lag die
Vermuthung nahe, dass es sich in dem vorliegenden Falle nicht um
eine reine Hämorrhagie des Pankreas, sondern um eine acute hämor-
*
rhagisch-eitrige Entzündung des Pankreas mit nachfolgender Perito¬
nitis handle. Die volle Gewissheit hierüber konnte man aber nur.
durch die mikroskopische Untersuchung erlangen. Dieselbe ist nur
in sehr wenigen der als primäre Pankreasblutung gedeutete^ Fälle
vorgenommen worden, ein Umstand, welcher gerechten Zweifel
hinsichtlich der Richtigkeit der Diagnose in den meisten dieser
Fälle aufkommen lässt. Denn auch in meinem Falle machte
das Aussehen des Pankreas bei makroskopischer Betrachtung zu¬
vörderst den Eindruck einer reinen Pankreasblutung, und erst die
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UNIVERSUM OF IOWA
l'eber einen Fall von genuiner acuter Panoreasentziindung etc.
49
aufmerksame Betrachtung der Schnittfläche wies durch die Möglich¬
keit des Nachweises einer eitrigen Infiltration des Pankreas, sowie
der Entzündungserscheinungen am Peritoneum auf einen gleichzeitig
bestehenden Entzündungsprooess des Pankreas hin. Dies ist auch der
Grund, weshalb ich nicht mit Bestimmtheit die Fälle von Stork 1 )»
Hodson Rugg 2 ), Kollmann 3 ), Challand und Rabow 4 ) und Dra-
per 3 ) als reine Pankreasblutungen ansehen möchte. Die Angabe Princo
Morton's* 5 ), dass das Pankreas in seinem Falle zum grössten Theile
zerstört und in einen schwärzlichen gangränösen Brei verwandelt war,
und dass mikroskopisch Blutung und Necrose gefunden wurde, scheint
mir schon von vornherein eher für einen acuten Entzündungsprooess
des Pankreas zu sprechen.
Dafür, dass des öfteren solche Fälle von primärer hämorrha¬
gischer Pancreatitis mit grosser Neigung zu Blutungen vorgekommen
sind, sprechen die Beobachtungen von Löschner 1 ), Oppolzer 9 ),
Hilly 9 ), Friedreich 10 ), Haidien 11 ), Gerhardi 12 ), Birch-Hirsch-
feld ,s ) und Fitz 14 ).
*) Cit. bei Bigsby: Pathologische und therapeutische Beobachtungen über
d.e Krankheiten des Pancreas. Refer. in Schmidi’s Jahrbüchern. Suppl. I. S. 161.
7 ) Refer. in Schmidt’s Jahrbüchern. Bd. 68. S 195.
*) O. Kollmann: Zur Casuistik der Häraorrhagie des Pancreas. Bayr. ärztl.
lntelligenzbiatt. 1880. No. 39.
4 ) Challand et Rabow: Un cas de mort par hemorrhagie du pancreas chez
une alienee. (Bull, de la soc. med. de la Suis.se romande 1877.) Refer. im Cen¬
tralblatt für medic. Wissenschaften. 1878. No. 18
s ) L. c.
•> Prince Morton: Pancreatic apoplexy with a report of two cascs. (Boston
med. and surg. Journ. July 13 und 2t>.) Refer. in Virchow-Hirsch Jahresbericht.
18v>. II. S. 180.
7 ) Löschner: Zur Pancreatitis. (Weitenwcber’s Beiträge zur Medicin. 1842.)
Rcfrr. in Schmidt’s Jahrbüchern. Bd. 40. S. 31.
? ) Oppolzer: Ucber Krankheiten des Pancreas Wiener medic. Wochenschr,
1867. No. 1.
*) Hillj: Kin Fall von acuter hämorrhagischer Pancreatitis. Correspondenz-
bla*t für Schweizer Aerzte 1877. No. 22
l# ) Friedreich: Acute Pancreatitis. v. Ziemssen’s Handbuch der spec. Path.
und Ther. 2 Aufl. 1878 Bd. VIII. 2. Hälfte. S. 259.
ll ) Hai dien: Acute Pancreatitis im Wochenbette. Centralbl. für Gynäkol.
Bd. VIII. 1884. No. 39.
n ) Gerhardi: Pancrcaskrankheiten und Ileus. Virchow’s Archiv. Bd. 106.
S. 3oS.
,3 ) Birch - H irschfeld: Lehrbuch der pith. Anat. 3. Auflage. 1887 S 638
u ) Reginald H. Fitz: Acute Pancreatitis. A consideration of pancroatio
Vierleijahj
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ihr. f. *er.
o .gl
K«d. N. F. LU. 1.
e
* Original frem
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50
Dr. Dittrich,
In allen diesen Fällen war es im Verlaufe des Entzündungspro-
cesses zu mehr oder weniger umfänglichen Blutungen in das Pan¬
kreas gekommen.
Keineswegs aber Hess sich etwa in allen Fällen von primärer
acutem Pankreasentzündung auch ein Bluterguss in das Parenchym
der Bauchspeicheldrüse nachweisen. Vielmehr waren manche Fälle
anscheinend rein eitriger Natur, so ein im allgemeinen Krankenhause
zu Wien beobachteter Fall'), ferner die Fälle von Riboli 2 ), Haller
und Klob 3 ), Frison 4 ) und Fränkel 5 ).
Endlich gehören hierher noch vier Fälle von vollständiger Se¬
questration des Pankreas, von denen einer von Rokitansky 6 ), die
drei anderen von H. Chiari 1 ) beobachtet worden sind. Diesen Fällen
schliesst sich noch ein fünfter, erst kürzlich von Fitz 0 ) mitgetheilter
Fall an, in welchem ein gangränöses Pankreas durch den Darm ent¬
leert wurde. Das betreffende Individuum erfreut sich gegenwärtig —
nach einem Zeitraum von 17 Jahren — des besten Wohlbefindens.
Wir sehen sonach, dass abgesehen von traumatischen Blutungen
ausser in den Fällen von Zenker eigentlich keine einzige sichere
hemorrhage, hemorrhagic, suppurative and gangrenous pancreatitis and of disse-
minated fat-necrosis. (New York med. Record. XXXV. 9, 10; March 1889 and
Bost. med. and surg. Journ. CXX. 9, 10, 11. 1889.) Referirt in Schmidt’s Jahr¬
büchern. Bd. 222. S 135.
*) Aerztlichcr Bericht des K. K. allg. Krankenhauses in Wien vom Jahre
1859. Wien 1860. S. 92.
*) Referirt in Scbmidt’s Jahrbüchern. Bd. 102. S. 177.
a ) Haller und Klob: Ein Fall von Entzündung des Pancreas. (Zeitschrift
der K. K. Gesellschaft der Aerzte in Wien 1859. No. 37.)
4 ) Frison: Pancr6atite suppuröe; ictere par retention de bile; diaböte Sucre;
mort. (R6cueil de m6m. de m6d. mil. Mai-Juin 1876 ) Refer. in Virchow-Uirsch
Jahresber. 1876. II. S 222.
8 ) Eugen Fränkel: Ueber einen tödtlich verlaufenen Fall idiopathischer
subacuter Pancreasentzündung. (Zeitschr. f. klin. Med. 1882. IV. S. 277 )
•) Angeführt bei H. Chiari: Wiener medic. Wochenscbr. 1876. No. 13. —
Ueber den Fall Rokitansky^ findet sich im Musealcataloge des pathol.-anat.
Institutes zu Wien die Bemerkung: „Pancrcatis pars potissima textu celiuloso-
necrotico obvestita, alvo rejecta.“
*) H. Chiari: Ueber einen Fall von Sequestration des Pancreas nach Per¬
foration des Magens durch Ulcera rotunda. (Wiener medicinische Wochenschrift.
1876. No. 13.)
H. Chiari: Ueber zwei neue Fälle von Sequestration des Pancreas. (Wiener
medicinische Wochenschrift. 1880. No. G und 7.)
# ) L. c.
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Ueber einen Fall von genuiner acuter Pancrhasentzündung etc.
51
Beobachtung von primärer Pankreasblutung vorliegt, wenn wir von
einer kurzen Notiz über einen derartigen von Klebs 1 ) beobachteten
Fall absehen. Gerade dieser Fall, in welchem keine andere Todes¬
ursache nachzuweisen war, ist aber nicht ohne Bedeutung, da Klebs
ausdrücklich angiebt, dass durch die mikroskopische Untersuchung
keinerlei interstitielle Veränderungen in seinem Falle constatirt werden
konnten. Ueber das Zustandekommen der Blutungen in diesem Falle
macht Klebs keine weiteren Angaben.
ich glaube daher nochmals darauf hinweisen zu dürfen, dass in
allen Fällen, in denen sich bei einem sonst vollkommen gesunden In¬
dividuum im ganzen Körper keine anderen Veränderungen ausser einer,
aber nicht durch ein Trauma bewirkten Pankreasblutung vorfinden,
welche den nöthigen Aufschluss über die unmittelbare Todesursache
geben könnten, es geboten erscheint, durch mikroskopische Unter¬
suchung festzustellen, ob es sich um eine reine Hämorrhagie des
Pankreas oder um eine solche handelt, welche nur als Symptom, be¬
ziehungsweise als Folgeerscheinung einer acuten Pancreatitis anzusehen
ist, da bei der Betrachtung mit uubowafFnetem Auge, falls eine stär¬
kere Extravasation von Blut stattgefunden hat, die entzündlichen Ver¬
änderungen, wenn nicht deutliche Abscessbildung vorhanden ist, leicht
übersehen werden könnten, ein Umstand, welcher für die Beurtei¬
lung einschlägiger Fälle von der grössten Bedeutung ist.
Das mikroskopische Bild gestaltete sich in meinem Falle, was die Natur
des Krankheitsprocesses anbelangt, ziemlich einheitlich; dagegen Hessen sich den
bereits makroskopisch erkennbaren Unterschieden in den verschiedenen Abschnitten
des Pankreas entsprechend auch bei der mikroskopischen Untersuchung bedeu¬
tende graduelle Differenzen const&tiren.
Im Bereiche des Pankreaskopfes, woselbst nur verhaltnissmässig gering¬
fügige Blutung nachzuweisen war, und der Process überhaupt dem mikrosko¬
pischen Aussehen nach am wenigsten vorgeschritten zu sein schien, konnte man,
wie entsprechend dem dem normalen analogen Baue dieses Abschnittes des Or¬
gans vorauszusehen war, auch mikroskopisch eine dem normalen Pankreas ent¬
sprechende acinöse Trennung des Parenchyms mit wohl erhaltenem interstitiellem
Gewebe erkennen. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, dass sich in diesem
Theile des Pancreas keine pathologischen Vorgänge nachweisen Hessen. Viel¬
mehr zeigten sich die Gewebselemente bereits hier hochgradig alterirt; auch bot
die Untersuchung dieser Gewebspartien gerade den Vortheil dar, dass man auoh
frühere Stadien — ich will nicht sagen die Anfangsstadien — der Erkrankung
*) Klebs: Handbuch der pathologischen Anatomie
lung. S. 555.
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1876. Bd. I. 2. Abthei-
4 *
Original frorn
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52
Dr. Pittrich,
histologisch untersuchen und sich eine Vorstellung über das Wesen des ganzen
Krankheitsprocesseg verschaffen konnte.
Man fand an vielen Stellen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Blut¬
gefässen und häufig auch sonst im interstitiellen Bindegewebe eine dichte An¬
sammlung leicht färbbarer Leukocyten, welche in Form von rundlichen Herden
angehäuft waren. An der Peripherie der letzteren konnte man häufig eine ziem¬
lich rasch, aber doch nur stufenweise sich steigernde Abnahme der Färbbarkeit
der Zellen bemerken. Eine diffuse kleinzellige Infiltration konnte man dagegen
nicht wahrnehmen.
Die Drüsenzellen waren an Durchschnitten durch das Gewebe des Pankreas¬
kopfes meist noch deutlich von einander zu unterscheiden, doch zeigten nur relativ-
wenige derselben eine der Hämatoxylinfärbung entsprechende intensivere Kern¬
färbung. Der grösste Theil der Drüsenzellen liess zwar noch einen meistens gegen
das Zellprotoplasma hin ziemlich scharf abgegrenzten Kern wahrnehmen, doch war
derselbe ebenso wie das Protoplasma selbst durch den Farbstoff nur schwach
gefärbt worden. Kern und Protoplasma erschienen von körniger Beschaffenheit
und zeigten häufig Andeutungen von Zerfall zu einem körnigen Detritus.
Jedenfalls konnte mau constatiren, dass der Process in den centralen Partien
des Pankreaskopfes bedeutend weiter vorgeschritten war als in den peripher ge¬
legenen Abschnitten desselben.
Die mikroskopische Untersuchung des mittleren Drittels sowie des Schweifes
des Pankreas liess nur an äusserst wenigen kleinen Stellen noch Gewebselemente
erkennen, welche in ihrem Aussehen annähernd an Drüsenzellen der Bauch¬
speicheldrüse erinnerten. Der grösste Theil war aber in eine gleichmässige kör¬
nige Zerfallsmasse umgewandelt, welche theils garnicht, theils nur äusserst
schwach gefärbt erschien und iu welcher sich nebst ganz vereinzelten, etwas
intensiver gefärbten weissen Blutkörperchen ausgedehnte frischere und ältere
Blutextravasate, in Form von diffusen Anhäufungen rother Blutkörperchen, mit
dazwischenliegenden, theils einzelnstehenden, theils zu kleineren und grösseren
Gruppen angehäuften dunkelbraunen ßlutkrystallen, vorfanden.
Die Wand der Blutgefässe war, soweit man dieselbe überhaupt noch er¬
kennen konnte, zu einer gleichmässig gekörnten Zerfallsmasse umgewandelt.
Drüsengänge konnte man eigentlich nur noch in einzelnen Theilen des
Pankreaskopfes wahrnehmen, während man sie in den am stärksten veränderten
Gewebspartien des mittleren Drittels und des Schweifes des Organs vermisste,
da sie offenbar einerseits durch die starke entzündliche Infiltration verdeckt bder
andererseits bereits ebenfalls dem necrotischen Uutergange anheimgefallen waren.
Haben bereits die früher erwähnten makroskopisch wahrnehm¬
baren Veränderungen des Pankreas, so insbesondere der Gehalt des¬
selben an einer röthlichgrauen dickeren Flüssigkeit, ferner aber auch
die secundären entzündlichen Erscheinungen am Peritoneum bei dem
Mangel anderweitiger primärer Entzündungsherde im Körper dafür ge¬
sprochen, dass wir es hier mit einem primären Entzündungsprocesse
des Pankreas zu thun haben, so fand diese Vermuthung in dem Er¬
gebnisse der mikroskopischen Untersuchung ihre Bestätigung. Die-
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Ueber einen Fall von genuiner acuter Pancreaseutzündung etc.
53
selbe ergab nämlich, dass es sich in der That am einen das ganze
Organ oecupirenden Entzündungsprocess handle, als dessen anato¬
misches Zeichen die an vielen Stellen bemerkbare dichte kleinzellige
Infiltration gelten muss. Die Necrose, welche grosse Gebiete des Pan¬
kreas betraf, muss wohl als eine weitere Folge des Entzündungs-
processcs angesehen werden, welcher schliesslich zur Vereiterung und
zur vollständigen Zerstörung des Organs führte. Gewiss wäre es,
falls das Individuum noch einige Zeit gelebt hätte, ebenso wie in
den Fällen von Rokitansky und Chiari zur vollständigen Se¬
questration des Pankreas, dessen Zusammenhang mit seiner nächsten
Umgebung in meinem Falle bereits jetzt ein äusserst lockerer war,
gekommen. Der Process blieb nun nicht etwa auf das inter¬
stitielle Gewebe desselben beschränkt, sondern griff auch auf die
Gefässe desselben über, deren Wandungen zum grössten Theile eben¬
falls necrotiseh geworden waren, wodurch es zu den ausgebreiteten
Blutungen im Pankreas gekommen ist.
Entsprechend diesem Bilde in der Entwicklung des Processes
reihe ich diesen Fall den als Pancreatitis haemorrhagica bezeichneten
Erkrankungen an. Diese Bezeichnung, welche auch Friedreich und
Klebs für jene Entzündungsprocesse der Bauchspeicheldrüse, welche
mit Blutungen in das Organ und seine Umgebung einhergehen, ge¬
braucht haben, gilt eben für eine bestimmte Groppe der acuten Pan¬
kreatitis.
Birch-Hirschfeld erwähnt zwei Fälle von Pancreatitis haemor^
rhagica. Beide Fälle betrafen Potatoren. ■ Die Krankheitserschei¬
nungen bestanden in plötzlich auftretenden kolikartigen Schmerzen
ub«*r der Nabelgegend, hohem Fieber, Delirien, Erbrechen reichlicher
grünlicher Massen. Der Tod erfolgte bereits am zweiten Tage der
Erkrankung. Bei der Sectiou fand man ausser den dem Alcoholismus
entsprechenden Veränderungen eine beträchtliche Schwellung, Hyper¬
ämie und Ecchvmosirung der Schleimhaut und der Submucosa des
Duodenums und Jejunums, blutig gefärbten Darminhalt daselbst. Im
Ductus pancreaticus fand sich ein blutig jauchiger Inhalt vor. Das
Pankreas war bedeutend vergrössert, an den meisten Stellen von
schmutzig braunrother Farbe; auf der Schnitlflächo liessen sich aus
den Ausführungsgängen der Lappen und Läppchen schmutzig grau-
rothe Pfropfe hervordrücken. Bei der mikroskopischen Untersuchung
fand sich das interacinöse Gewebe von Rundzcllen und rothen Blut¬
körperchen durchsetzt. Die Drüsenepithelien waren vergrössert, dabei
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Dr. Dittricb,
stark körnig; in manchen Acini waren die Drüsenzellen in einen fein¬
körnigen Detritus zerfallen.
Mein Fall scheint grosse Aehnlichkeit mit den Beobachtungen
Birch-Hirschfeld’s zu besitzen.
Höchst selten wird man wohl bei derObduction vom Kliniker auf eine
acute Entzündung des Pankreas hingelenkt werden. Dies ist auch nicht zu
verwundern, wenn man bedenkt, dass die Krankheitserscheinungen in
den Fällen von acuter Pancreatitis zwar nach den bisherigen Erfah¬
rungen stets ziemlich analog waren, jedoch noch zu keinem abge¬
schlossenen Symptomencoroplex geführt haben, welcher schon intra
vitam die richtige Diagnose mit annähernder Sicherheit stellen liesse.
Trotz dieser Schwierigkeit hinsichtlich der Diagnose solcher Fälle hat
Oppolzer in seinem Falle schon intra vitam die Diagnose auf eiue
acute Entzündung des Pankreas gestellt.
In meinem Falle war die Diagnose während des Lebens in
suspenso gelassen worden, und erst durch die Section konnte man
Klarheit über die Erkrankung erlangen.
Es war nun zunächst zu entscheiden, ob die Affection des Pan¬
kreas, welche bei der Obduction vorgefunden wurde, der Effect einer
äusseren Gewalteinwirkung (welche, falls sie überhaupt stattgefunden
hätte, erst vermuthlich unmittelbar nach dem Selbstmordversuche,
also verhältnissmässig kurze Zeit vor dem Tode, hätte erfolgen können,)
sein möchte oder nicht.
Diese Frage musste nun gemäss dem Sectionsbefunde und der
mikroskopischen Untersuchung entschieden in negativem Sinne beant¬
wortet werden, und zwar aus mehreren Gründen.
Gesetzt den Fall, es hätten sich bei der makroskopischen Unter¬
suchung des Pankreas und seiner Umgebung keinerlei Veränderungen
gezeigt, welche a priori auf einen Entzündungsprocess hingedeutet
hätten, so wäre der Verdacht einer fremden Gewalteinwirkung bei
dem Umstande, dass ja die Hämorrhagicn die bei weitem auffälligsten
Erscheinungen bildeten, immerhin gerechtfertigt gewesen. Hätte es
sich jedoch um ein Trauma, welches entsprechend der ausgedehnten
Blutung ziemlich heftig hätte sein müssen, gehandelt, so hätte man
sicherlich schon äusserlich an den Bauchdecken Zeichen einer äusseren
Gewalteinwirkung oder wenigstens in der Bauchmusculatur wenn auch
geringe Blutextravasate wahrnehmen müssen. Davon war aber auch
nicht die geringste Spur wahrzunehmen. Schon dieser Umstand sprach
gegen die traumatische Natur des Processes.
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Ueber einen Pall von genuiner acuter Pancreasentzündung etc.
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Die mikroskopische Untersuchung ergab ausgebreitete Nekrose
des Pankreas und zwar in solcher Ausdehnung, dass dieselbe binnen
*20 Stunden sich nur durch ein plötzliches, den Hauptstamm der Ar-
teria pancreatico-duodenalis oder die Arteria mesaraica superior be¬
treffendes Circulationshinderniss hätte erklären lassen. Ein solches
war jedoch ebenfalls nicht vorhanden gewesen.
Berücksichtigen wir schliesslich unsere bisherigen Erfahrungen
über die Nekrose dor Bauchspeicheldrüse an der Hand der von Chiari
in klinischer, wie anatomischer Beziehung eingehend beschriebenen
Fälle, ganz abgesehen von der gerado in dieser Hinsicht nicht wesent¬
lich in’s Gewicht fallenden vollständigen Sequestration des Organs,
so finden wir, dass der Beginn der Erkrankung auf verhältnissmässig
lange Zeit vor der Ausstossung des nekrotischen Pankreas, beziehungs¬
weise vor dem Exitus letalis, zurückreicht.
Auch im vorliegenden Falle waren, wie nachträgliche Erhebungen
ergaben, bereis vier Wochen vor dem Tode Krankheitssymptome auf¬
getreten, welche für eine längere Dauer des Proccsses sprachen; ja
es muss aber sogar dahingestellt bleiben, ob nicht auch schon früher
Symptome vorhanden gewesen waren, die sich mit der Erkrankung
des Pankreas hätten in Einklang bringen lassen.
Schon jedes einzelne der genannten Momente spricht entschieden
gegen den traumatischen Ursprung der Pankrcasblutung, alle zusammen-
genomroen beseitigen jeden Zweifel hierüber.
Der anatomische Befund deutet vielmehr mit Bestimmtheit darauf
hin, dass wir es hier mit einer nicht traumatischen Blutung zu thun
haben, welche die directe Folge eines durch den Entzündungsprocess
bewirkten Zerfalles der Wandungen der Blutgefässe ist.
Was das ätiologische Moment der Entzündung des Pankreas
anbelangt, so kann ich hierüber hinsichtlich meines Falles ebensowenig
eine bestimmte Aufklärung geben wie andero Autoren. Die meisten
derselben haben diese Frage überhaupt gar nicht berührt. Nur
Klebs 1 ) spricht sich dahin aus, dass die Ursache der Erkrankung
vielleicht in einer corrodirendon Wirkung des Pankreassecretes zu
suchen sei.
Mein Fall bietet keine Anhaltspunkte für die Klarlegung der
Aetiologie desselben. Doch möchte ich immerhin andeuten, dass nach
unseren heutigen Kenntnissen die Möglichkeit eines mykotischen Ur-
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*) L c. S. 556.
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UMIVERSITY OF IOWA
56
Dr. Dittrich,
Sprungs des Erkrankungsprocesses wohl nicht wird völlig ausgeschlossen
werden können. Man müsste dann in meinem Falle von primärer
Pancreatitis an eine Invasion pathogener Mikroorganismen vom Darme
auf dem Wege der Ausführungsgänge der Bauchspeicheldrüse denken,
da die Veränderungen in den centralen Partien des Organs, also
weiter gegen den Hauptstamm des Ductus pancreaticus hin im Bereiche
des Pankreaskopfes, in welchem noch die Vertheilung der verschie¬
denen Stadien des Processes erkannt werden konnte, am weitesten
vorgeschritten waren.
Wenn es mir nun auch nicht gelungen ist, in dem fast voll¬
ständig nekrotisch zerfallenen Organe Mikroorganismen mikroskopisch
nachzuweisen, so sei wenigstens auf eine von Hanau 1 ) in jüngster
Zeit gemachte analoge Beobachtung in der Ohrspeicheldrüse kurz hin¬
gewiesen. Hanau ist es nämlich gelungen, in fünf Fällen durch die
mikroskopische Untersuchung festzustellen, dass die Speicheldrüsen¬
entzündung durch Eindringen von Mikrokokken in die Speichelgänge
von der Mundhöhle aus hervorgerufen worden ist.
Im vorliegenden Falle fand man im Becken etwas Flüssigkeit
vor, welche ebenso aussah, wie diejenige, welche bei Druck auf das
Gewebe des Pankreaskopfes hervorquoll. Ich möchte diese Flüssig¬
keit keineswegs lediglich als ein Product der Peritonitis ansehen, son¬
dern möchte eher glauben, dass vielleicht eine Berstung der Oberfläche
des entzündeten Pankreas erfolgt war, in deren Anschlüsse sich etwas
von der das Pankreas infiltrirenden Flüssigkeit in die freie Bauch¬
höhle entleert hatte, und dass diese Flüssigkeit ihrerseits erst Anlass
zu der bei der Section noch in einem frühen Stadium befindlichen
Entzündung des Peritoneums gegeben hatte.
Der Tod war im Collaps, der durch die Peritonitis und die AII-
gemeininfection, welch’ letztere anatomisch ganz besonders durch den
wenn auch nicht sehr bedeutenden acuten Milztumor gekennzeichnet
war, seine Erklärung fand, eingetreten.
Eine Veränderung des Plexus coeliacus konnte in diesem Falle
nicht wahrgenommen werden. Uebrigens konnte ja eigentlich auch in
meinem Falle von einem plötzlichen Tode nicht die Rede sein, indem
das betreffende Individuum nach dem Auftreten der stürmischen Er¬
scheinungen noch 8 Stunden lang gelebt hatte.
l ) A. Hanau: Ueber die Entstehung der eiterigen Entzündung der Speichel¬
drüsen. Beiträge zur pathol. Anatomie und zur allgemeinen Pathologie. 1S89.
Bd. IV. S. 487.
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lieber einen Fall von genuiner acuter Pancreasentzüudung eto.
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Reubold 1 ), auf dessen Ausführungen ich hierhinweisen möchte,
hat bereits in eingehender Weise die forensischo Bedeutung der Pan¬
kreasblutungen kritisch beleuchtet.
Wenn auch nicht von vornherein die Bedeutung des Plexus coe¬
liacus bei plötzlichen Todesfällen absolut ausgeschlossen werden darf,
ein solcher vielmehr für manche Fälle als erwiesen angesehen worden
muss, so muss man zum mindesten behaupten, dass ein derartiger Zu¬
sammenhang bei den spontanen Pancreasblutungen nach den bisherigen
Untersuchungen und entsprechend dem zumeist keineswegs einwurfs¬
freien Untersuchungsmaterial nur als hypothetisch, sonach vorläufig
für den Gerichtsarzt als belanglos hingestellt werden muss.
Prag, im Juli 1889.
3.
Feber die Sklerose der Kranzartcriea des Herzeas als Ursache
plötzlichen Todes.
Von
o
Dr. Algot Key-Aberg in Stockholm.
(Schluss.)
Hiermit gehe ich schliesslich zu der Untersuchung eiucr Gruppe
von drei Fällen (No. 11 —13) über, die sich unläugbar in Bezug auf
die Form des Auftretens der arteriosclerotischen Veränderungen in
den Kranzarterien nicht unwesentlich von den bisher angeführten
unterscheiden.
Pall XI.
E. B.. Gewerbtreibender, 30 Jahre alt, Wien; starb, von einer längeren
Reise zuriiekgekehrt. plötzlich kurz nach der Einnahme einer Mahlzeit. Ver-
mulhete Syphilis. Obducirt 1 */ 2 Tag nach dem Tode.
Von mittlerer Grösse, kräftig gebaut, gut genährt.
Die Aorta zeigt nur unbedeutende Veränderungen. In den Sinus Val-
salvae und vorzugsweise an der oberen Grenze derselben finden sich eine Menge
') Reubold: Ueber Pancrcasblutung vom gerichtsärzüichen Standpunkte.
(Festschrift. Albert v. Kölliker zur Feier seines 70. Geburtstages gewidmet
von seinen Schülern. Leipzig. Verlag von Wilhelm Engelmanu. 1887.)
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58
O
Dr. Key-Aberg,
unbedeutende, weiche, schwach gelbweisse, etwas erhabene, nur die Intima inter-
essirende, punktförmige Flecke. Sonst ist die Ascendens sowie auch der Arcus
frei von Veränderungen. Im Isthmus, theils der Mündung des obliterirten Ductus
arteriosus entsprechend, theils etwas unterhalb derselben, ist die Intima an der
unteren Wand gleichsam zusammengeschnürt, und dort kommen einige zusammen-
geflosseno, gelbweisso, weiche, erhabene Flecke vor. In der Aorta thoracica kom¬
men an der hinteren Wand zwei längsgehende, mit einander beinahe parallele
und aus kleinen Punkten, ähnlich den im Sinus beobachteten, bestehende,
schmale Bänder vor, von denen ein jedes eine Reihe von den Mündungen der
Intercostalarterien umfasst. In der Bauchaorta sind diese Flecko etwas zahl¬
reicher. Der Umkreis der Aorta ist unmittelbar über den Klappen 7.0, an der Mitte
des Arcus 7.0, gleich jenseits der Subclavia sin. 6,4, etwas unterhalb der Mün¬
dung des Duotus arteriosus 5,5. gleich darauf 5,7, hierauf eine allmähliche
Verschmälerung des Gefasses bis in die Höhe der Coeliaca, wo das Maass
5,2 cm ist.
Andere Arterien: In den Halsgefässen und den Subclaviae zerstreute,
weiche, gelbweisse Flecken, welche nur die Intima interessiren. Die Arteria basi-
laris und die Aeste derselben ohne Veränderungen. Die Arleriae cerebri mediae
an mehreren, ziemlich weit von einander entfernten Stellen durch in der Wand
befindliche gelbweisse, sehnig feste, längliche Einlagerungen verengt. Die Haupt¬
stämme der Baucharterien nur im Anfangslheil unbedeutend gelbflammig, in den
feineren Zweigen unverändert. Die Untersuchung der peripheren Arterien der
Extremitäten war nicht zugelassen.
Die Mündungen der Kranzarterien des Herzens sind von einer An¬
zahl gelblicher, erhabener, punktförmiger Flecken von der oben beschriebenen
Art umgeben, zeigen aber keine anmerkungswerthe Verengung.
Die beiden Kranzarterien sind von ihrem Anfang an, soweit ihre
Aeste in der Musculatur sich verfolgen lassen, und zwar die linke Arterie viel¬
leicht in einem noch etwas höheren Grade als die rechte, über grosse Strecken,
welche oft den ganzen Umkreis des Gefasses umfassen, stark verdickt, gelbweiss
und an mehreren Stellen verkalkt und, diesen Veränderungen entsprechend, in
hohem Grade verengt. Zwischen solchen Panien können hier und da. Vorzugs
weise aber in den grösseren Aesten. kleinere Gebiete Vorkommen, wo die Innen-
soite des Gefasses relativ unverändert aussiebt und das Lumen etwas weiter ist.
Das Herz ohne abnorme Fettbelegung, schlaff; in der rechten Hälfte dun¬
kles, flüssiges Blut und lockere Coageln, in der linken dunkles, flüssiges Blut.
Maass des Herzens: die Breite über der Basis in der Kranzfurche 9 cm, die
Länge von dem rechten und dem linken Rande der Wurzel der Arteria pulrno-
nalis resp. 8,5 und 9 cm. Die Spitze wird nur von der linken Kammer gebildet.
Die rechte Kammer hat die gewöhnliche Weite; die Musculatur misst bis an die
Trabekel nirgends mehr als 3 mm und variirt zwischen 2—3. Der linke Vorhof
ist von gewöhnlicher Weite. Die linke Kammer gegen die Spitze abgerundet.
Die Musculatur misst bis an die Balkenmuskeln auf einem parallel mit und am
Septum gemachten Schnitt an der Grenze zwischen dem oberen und dem mitt¬
leren Drittel des Schnittes 12, zwischen dem mittleren und dem unteren Drittel
desselben 10 mm und nimmt dann gegen die Spitze hin stark an Dicke ab. Auf
einem durch den linken Rand des Herzens gelegten Sohnitt erhält man an den
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Sklerose der Kranzarterien des Herzens als Ursache plötzlichen Todes. 59
entsprechenden Stellen dieselben Maasse. Balken- und Papillarmnskeln nicht
hypertrophisch. Das Endocardium nicht verdickt. Die Aortaklappe der Mi¬
tralis und die unteren Partien der Aortaklappen nur unbedeutend fleckig ver¬
dickt. Die Ostia des linken Herzens ohne Anmerkung. Die Pulmonalisklappen,
die Tricuspidalis und die Arteria pulmonalis gesund. Die Herzmusculatur
schmutzig rothbraun und zähe. In der linken Kammerwand, besonders gegen die
Spitze hin, hier und da einige feine, sehnige Bindegewebsstriche.
Mikro skopische Untersuchung der Musculatur. Ausserordentlich
starke Pigmentirung und ausgedehnte parenchymatöse Trübung in den im All¬
gemeinen dünnen Muskelfasern; nirgends im Herzen eine Fettdegeneration.
Uebrige bemerkenswerthe Verhältnisse: Die harte Gehirnhaut ver¬
dickt und sehr fest an den Schädel anhaftend. Die weiche Gehirnhaut verdickt,
stark serös infiltrirt. Das Gehirn bleich, ziemlich stark ödematös. Massig starkes
Lungenödem. Nieren, Milz und Leber sehr blutreich und ohne chronische Ver¬
änderungen. Kein Hydrops. Im Magen eine reiohliche Menge undigerirter
Nahrung.
Pall XII.
M. L.. Frau eines Arbeiters, 62 Jahre alt, Wien. Nachdem dieselbe den
ganzen Tag hindurch gesund gewesen war und gearbeitet hatte, fühlte sie sich
am Abend plötzlich unwohl und klagte über Engbrüstigkeit. Kurz darauf ein
röchelnder Laut aus der Brust und so der Tod. Obducirt 2 l /j Tage nach
dem Tode.
Von mittlerer Grösse; sehr fett.
Aorta. In den Böden der Sinus Valsalvae und gleich oberhalb der Aorta¬
klappen eine unbedeutende, weissgelbe Fleckigkeit, im Uebrigen die Ascendens
ohne bemerkbare Veränderungen. Im Arcus hinwieder beginnt ein durch die
ganze Aorta bis zur Bifurcation hinab sich fortsetzender, hochgradig atheromatöser
Process in der Form von zahlreichen und confluirenden, erhabenen, weichen,
sehr ulcerirten gelben Flecken mit unbedeutender Kalkablagerung. In den Uiacae
hören diese Veränderungen allmählich auf. Umkreis des Gefässes: unmittelbar
oberhalb der Klappen 6,8 cm, an der Mitte des Arcus 7,8, im Isthmus 5,8,
gleich darauf 6,0 cm die ganze Brustaorta hindurch. Die Baucbaorta erweitert.
Andere Arterien. Die grossen Hals- und die oberen Extremitätsarterien
stellenweise weich gelbfleckig. Die grösseren Arterien des Gehirns und mehrere
Aeste derselben stark diffas-rigid. Die Arterien der Beine zeigen in den Aesten
nach den Füssen einige gelbliche, stecknadelknopfgrosse, weiche Flecke. Die
Arteriae radiales, renales und die Arteria lienalis ohne Veränderungen.
Die Mündungen der Kranzarterien des Herzens ohne Verändeungen.
Die Kranzarterien von ungefähr gewöhnlicher Weite, beide aber bis in
ihre feinsten, in der Musculatur verfolgbaren Verzweigungen in einem ungefähr
gleich hohen Grade, sehr stark gelbweiss gefleckt und an vielen Stellen sehr
rigide.
Das Herz. Massige Fettbekleidung; etwas schlaff; in beiden Abtheilungen
dunkles, dünnflüssiges Blut; die Spitze ausschliesslich von der linken Herz¬
kammer gebildet. Maass des Herzens: die Breite über der Basis in der Kranz¬
furche 10 cm, die Abstände von dem rechten und dem linken Rande der Wurzel
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60
Dr. Key-Aberg,
der Art. pulmonalis zu den Spitzen der respeciiven Kammern 8,5 und 9,5 cm.
Die rechte Kammer von gewöhnlicher Weite und gewöhnlicher Dicke der Muscu-
lalur, in welcher sich keine Fettinfiltration zeigt. Der linke Vorhof ohne Ver¬
änderung. Die linke Kammer ziemlich stark dilatirt, gegen die Spitze stark ge¬
rundet. Die Musculatur dieser Kammer auf einem mit dem Septum parallelen
und an demselben gelegten Schnitt an der Grenze zwischen dem oberen und dem
mittleren Drittel desselben 16 und zwischen dem mittleren und dem unteren
Drittel 13 mm. Das Endocardium in der linken Kammer oben etwas verdickt.
Die Klappen in dem linken Herzen unbedeutend fleckig verdickt und vollständig
functionsfähig. Die Ostia ohne Veränderung. Die Arteria pulmonalis und die
Klappen im rechten Herzen gesund. Die Herzmusculatur ziemlich fest und von
einer bleichen, etwas unreinen braunrothen Farbe.
Mikroskopische Untersuchung der Musculatur. Hier und da, beson¬
ders aber in den inneren Muskelschichten der linken Kammer, eine feine Körnig¬
keit, welche bei Zusatz von Essigsäure verschwindet; überall eine äusserst starke
Pigmentirung, nirgends aber eine Fettdegeneration der Muskelfasern.
Uebrige bemerkenswerthe Verhältnisse: Die weiche Gehirnhaut auf
der Convexität etwas verdickt, serös infiltrirt. Das Gehirn bleich, ödematös; die
Seitenventrikel desselben ziemlich stark erweitert. Etwas senil atrophische
Organe. Starkes Lungenödem. Kein Hydrops.
fall XIII.
E. R., Doctor der Rechte, 39 Jahre alt, Wien. Von einem Spaziergang
augenscheinlich vollkommen gesund zurückgekehrt, fühlte er sich plötzlich un¬
wohl und starb nach einigen Augenblicken. Soll stets oine gute Gesundheit ge¬
habt und nur hin und wieder an Congestionen nach dem Kopfe gelitten haben.
Obducirt 1 */ 4 Tage nach dem Tode. Von mittlerer Grösse, starkem Körper¬
bau, fett.
Aorta. An der oberen Grenze der Sinus Valsalvae und die Coronarostia
umfassend ein ungefähr 1 cm breiter, circulärer Gürtel, bestehend aus zahl¬
reichen, dicht an einander liegenden, zum Theil confluenten, stecknadelknopf¬
grossen und etwas grösseren weichen Flecken von im Allgemeinen kreideweisser.
nur hier und da etwas in’s Gelbe spielender Farbe, welche deutlich über das
Niveau der Gefässfläche erhaben sind. Etwas schräg über der linken Aortaklappe
und mit dem ebenerwähnten Gürtel zusammenhängend, ein Gebiet von ungefähr
der Grösse eines Dreipfennigstückes ebenfalls von weissen, hier im Allgemeinen
etwas grösseren, scharf abgerundeten und erhabenen kleinen Flecken übersäet.
Hin und wieder ein solcher Fleck auch in der Ascendens. Im Arcus mehrere un¬
gefähr die Grösse eines Fünfpfennigstückes zeigende, runde Flecken mit weissen,
wallförmig erhabenen Rändern und vertieften, hellgraurothen Centren. An der
Mündung des obliterirten Ductus arteriosus zeigt sich ein circular um das Gofäss
gehender Gürtel, zusammengesetztaus 3 breiten, hoch erhabenen, knorpelharten,
speckig aussehenden, grauweissen Flecken. In der Aorta thoracica zahlreiche,
hauptsächlich in der Längsrichtung des Gefässes sich ausdehnende, bis zu 6 mm
breite, theilweise gelbliche, theilweise graugelatinöse erhabene Flecken. In der
Bauchaorta grosse unregelmässige Unebenheiten derselben Art. Ein Theil der
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Sklerose der Kranzarterien des Herzens als Ursaohe plötzlichen Todes. 61
beschriebenen Veränderungen bezieht sich nur auf die Intima (so) die kleinen Flecken
in der Ascendens und im Arcus), ein anderer die Intima und die Media. Die
Aorta nicht erweitert.
Andere Arterien: Inden Ilauplslämmen von den Arcus aortae längs¬
gehende weiche, gelbweisse Streifen. Die Arteriae radiales unverändert. Sowohl
in den Basalarterien des Gehirns, wie auch in den feineren Aesten derselben in
den Häuten und im Gehirn zerstreut liegendo grössere und kleinere, in den
grösseren Aesten bis zu erbsengrosse, flache, gelbweisse, knorpelharte Flecken,
denen entsprechend die Gefässe im Allgemeinen Zusammenschnürungen aufweisen.
Die Arterien der Nieren und der Milz, ebenso diejenigen der unteren Extremi¬
täten unverändert.
Die Mündungen der Kranzarterien des Herzens sind durch zahl¬
reiche. um sie herum gruppirte, kleine, erhabene Flecken etwas verengt.
Die Kranzarterien. Beide sind bis in die feinsten in der Musculatur
verfolgbaren Zweige sehr stark gelbweissfleckig und in entsprechendem Grade
steif in der Wand. Hier und da findet sich in den Flecken der Anfang einer
deutlichen Verkalkung, im Allgemeinen aber haben dieselben eine knorpelharte
Consistenz. Die Arterien sind in ihrem ganzen Verlaufe an keiner Stelle nennens¬
wert verengt und auf den zwischen den gelbweissen, harten Flecken sparsam
eingestreut liegenden kleinen Gebieten scheint die Gefässwand atrophisch zu sein,
auch ist sie taschenartig etwas ausgebuchtet.
Das Herz und der Herzsack sind ziemlich stark fettbelegt; das Herz
schlaff; in beiden Abtheilungen dunkles, dünnflüssiges Blut. Maasse des Herzens:
breit in der Kranzfurche über der Basis 11 cm. Die Abstände von dem rechten
und dem linken Rande der Wurzel der Artcria pulmonalis bis zu den Spitzen der
respectiven Kammern 10,8 und 10 cm. Die Spitze wird von der rechten und
der linken Kammer gebildet. Die rechte Kammor erweitert; die Musculatur der¬
selben misst vom Fettlager bis an die Trabekel oben 4 mm und gegen die Spitze
bin ist sie etwas an Dicke abnehmend. Die Trabekel etwas hypertrophisch. Der
linke Vorhof erweitert. Die linke Kammer erweitert, die Spitze gerundet. Die
Musculatur dieserKammer bis an die Trabekel auf einem am Septum und parallel
damit gelegten Schnitt an der Grenze des oberen und mittleren Drittels desselben
14 mm und an der Grenze des mittleren und unteren Drittels reichlich 12 mm;
auf einem durch den linken Rand geführten Schnitt an den entsprechenden
Stellen 15 und 13 mm. Das Endocardium* an den Gipfeln der Papillarmuskeln
verdickt. Die Aortaklappen nur in den basalen Partien etwas verdickt; das
Aortaostium unverändert. Auf der Aortaklappe der Biouspidalis ein paar klei¬
nere, etwas rigide, gelbweisse Flecken. Das linke Oslium atrio-ventriculare von
gewöhnlicher Weite. Die Arteria pulmonalis und die Klappen im rechten Herzen
gesund.
Die Herzmusculalur ist in beiden Abtheilungen schlaff und etwas
brüchig, sowie von einer schmutzig graurothen, eine deutliche Schattirung in’s
Braune zeigenden Farbe. In der äusseren Schicht der rechten Kammer finden
sich gelbe Sreifen von Fett, welche jedoch nur gegen dieSpitze hin einen wesent¬
licheren Theil der Wand bilden. In den grossen Papillarmuskeln der linken
Kammer in den Gipfeln einige sehnige Striche. Sonst keine Schwielenbildungen
im Herzen.
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*
Dr. Key- A berp.
Mikroskopische Untersuchung der Musculatur. Eine allgemeine
parenchymatöse Körnigkeit in den Muskelfasern, ebenso eine allgemeine, starke,
braune Pigmentirung derselben. In der rechten Kammer kommt nur in der einen
und der anderen Faser der äusseren Schichten zwischen den Fettstrichen eine
äusserst feinkörnige Fettdegeneration vor. In der linken Kammer zeigen nur die
Papillarmuskeln hier und da eine beginnende feinkörnige derartige Degeneration.
Uebrige bemerkenswerthe Verhältnisse: Starke Verdickung der
weichen Gehirnhaut, welche ausserdem massig serös infiltrirt ist. Das Gehirn
sehr blutreich, etwas ödematös; die Seitenventrikel etwas erweitert. Die linke
Lunge überall mittelst Bindegewebsadhärensen fest mit der Umgebung vereinigt.
Beide Lungen sehr blutreich. Kein Lungenödem. Feitlober mit mikroskopisch
nachweisbarer unbedeutender Atrophie der Centren der Acini. Vergrösserte
cyanotisch indurirte Nieren. Die Milz ziemlich gross, fest, rothbraun. Kein
Hydrops.
In dem ersten dieser Fälle (No. II) waren also beide Kranz¬
arterien bis in ihre feinsten, in der Musculatur verfolgbaren Aeste
stark sclerotisch verändert und gleichzeitig allgemein verengt. Par¬
tielle Stenosen oder Obliterationen, wie sie in den vorhergehenden
Fällen beobachtet worden sind, kamen in diesem Fall inzwischen
ebenso wenig vor als in den beiden folgenden. In diesen letzteren
waren die Arterien nicht einmal allgemein verengt, doch beide, wie
in dem ersten Fall, bis in die feineren Muskeläste hinaus stark scle¬
rotisch. Besonders in dem letzten Fall war ausserdem eine Atrophie
der zwischen den rigiden Gebieten liegenden Flecken der Gefässwand
augenscheinlich, wenn auch eine solche in den anderen Fällen nicht
gefehlt hat.
In dem einen wie in dem anderen dieser 3 Fälle erscheinen die
vorhandenen Gefässveränderungen im Vergleich zu denjenigen, welche
wir in den vorhergehenden Fällen kennen gelernt haben, unbestreit¬
bar relativ gering. Und doch hege ich in Anbetracht des allge¬
meinen Bildes, welches die Obduction in jedem dieser Fälle zeigte,
keine Zweifel darüber, dass nicht auch hier die fraglichen Gefäss¬
veränderungen die wirksame Ursache zum Tode durch Herzparalyse
gewesen sind. Die Erklärung eines solchen Verhältnisses scheint mir
wieder nicht gern in einem anderen Umstand gesucht werden zu
können als in der bedeutenden Verminderung, ja zum Theil voll¬
ständigen Verlust der Elasticität und Contractilität des ganzen arte¬
riellen Systems des Herzens, was mit seinen leicht cinzusehenden
Consequenzen die unmittelbare Folge einer auch über die feineren
Aeste dieses Systems ausgebreiteten Artcriosclerose, wie sie in diesen
Fällen aufgetreten, sein muss.
«'
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Sklerose der Kranzarterien de9 Herzens als Ursache plötzlichen Todes. 63
Die Herzrousculatur war in den beiden ersten dieser Fälle voll¬
ständig frei von Feltdegeneration, und nur in dem letzteren derselben
zeigte sieh eine feinkörnige derartige Degeneration zwischen den Fett¬
streifen in der rechten Kamraerwand und in den Papillarmuskeln der
linken Kammer. Albuminöse Trübung und starke Pigmentirung kamen
in ihnen allen vor.
Blicken wir nun auf das zurück, was die jetzt angeführten
13 Fälle in Bezug auf die Frage lehren, zu deren Beleuchtung sie in
erster Reihe dienen sollten, nämlich die Frage von dem Vorkommen
von Fettdegeneration in der Herzmusculatur in solchen Fällen
plötzlich eingetroffener Herzparalyse, wo die Paralysis allem Anschein
nach durch eine mit valvulären oder anderen selbstständigen
Veränderungen im Herzen uncomplicirte Arteriosclerose in den
Kranzarterien oder an den Mündungen derselben bedingt worden ist,
so finden wir Folgendes:
1. In vier Fällen (3, 5, 11, 12) haben sowohl Fettdegenoration
wie auch necrotische Erweichung der Herzmusculatur voll¬
ständig gefehlt.
2. In zwei Fällen (6, 8) von Myomalacia cordis hat die Mus-
culatur nur in dem einen Fall, und dann auch nur in der
nächsten Umgebung des erweichten Gebietes, eine Fettdegene¬
ration gezeigt.
3. ln zwei Fällen (2, 10) ist in einzelnen Balkenmuskeln der
linken Kammer und in dem einen dieser beiden Fälle, ausser¬
dem in dem einen Papillarmuskel derselben Abtheilung des
Herzens eine grobkörnige Fettdegeneration angetroffen worden.
4. ln drei Fällen (1, 9, 13) ist in dem ausserhalb der Balken¬
muskeln gelegenen Theil der rechten Kammerwand zwischen
daselbst befindlichen Strichen interstitiell abgelagerten Fettes
eine feinkörnige Fettdegeneration beobachtet worden, während
gleichzeitig in zwei Fällen kleinere, an noch auf andere Weise
veränderte Partien in der Musculatur der linken Kammer
grenzende Gebiete die fragliche Degeneration gezeigt haben
und in dem dritten Fall (13) die Papillarmuskeln der linken
Kammer feinkörnig fettdegenerirt gewesen sind.
5. Nur in zwei Fällen (4, 7) ist die Herzmusculatur in
einer grösseren und allgemeineren Ausbreitung fettdege¬
nerirt gewesen. In dem einen dieser Fälle war nämlich
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64
Dr. Key - A berg,
die Degeneration über das ganze Verzweigungsgebiet der lin¬
ken Kranzarterie ausgebreitet, und in dem anderen hatte sie
in einer sehr feinkörnigen Form das ganze Herz iuteressirt.
Es dürfte hieraus liervorgehen, dass die Fettdegeneration der
Hcrzmusculatur in Fällen der hier fraglichen Art nur relativ selten
in einer solchen Ausbreitung und Stärke vorkoramt, dass es berech¬
tigt sein kann, in ihr die nächste Ursache der Herzparalyse zu sehen.
Die beiden hier angeführten Fälle, wo die Annahme eines solchen
Ursachsverhältnisses unbestreitbar berechtigt erscheint, sind beide
durch das übrigens bei keinem andern der 13 Fälle beobachtete Ver¬
hältnis gekennzeichnet, dass die Herzparalyse in einem Augenblick
eingetreten ist, wo das schon vorher bis auf eine sehr geringe Weite
verengte Lumen des Hauptstammes (resp. der Mündung) der einen
Kranzarterie durch eine an der Gefässwand gleich neben der Ver¬
engung haftende Thrombe eine fernere und so bedeutende Verengung
erlitten hatte, dass es unmöglich erschien, an dem anatomischen
Präparat sicher zu entscheiden, inwiefern durch dieselbe während des
Lebens ein absolutes Hinderniss für den Durchgang des Blutes ent¬
standen war, oder ob nicht möglicherweise noch, wenn auch in ganz
minimalen Mengen, Blut unter der Diastole des Gefässes vorbei¬
gepresst werden konnte.
Die letztere dieser beiden Alternativen scheint mir inzwischen
das wahrscheinlichere zu sein, indem ich in den Fällen, wo un¬
bestreitbar eine GefässVerstopfung Vorgelegen, niemals eine aus-
gebreitetere Fettdegeneration wahrgenommen, sondern stets nur
necrotische oder von der Necrose herrührende Veränderungen beob¬
achtet habe.
Aber in welcher oder welchen Veränderungen im Herzen hat
man dann wohl in den Fällen, in denen keine ausgebreitetere Fett¬
degeneration vorkommt, den nächsten Anlass zu der Herzparalyse zu
suchen ?
Sagen wir gleich, dass die Antwort auf diese Frage öfters, wenn
es sich darum handelt, eine befriedigende Erklärung für das Eintreten
der Paralyse gerade in dem Zeitraomente, mit dem sie verbunden ge¬
wesen ist, zu geben sehr grosse und in gewissen Fällen unüberwind¬
liche Schwierigkeiten darbietet.
Relativ leicht in ihrer Ursache zu erklären scheint die Herz¬
paralyse zwar in denjenigen Fällen zu sein, wo im Herzen eine
mehr oder weniger ausgebreitete Necrose angetroffen wird. Die Er-
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Sklerose der Kranzarterien des Herzens als Ursache plötzlichen Todes. 65
fahrung spricht jedoch dafür, dass, wie ich im Obigen schon einmal
Gelegenheit gehabt habe, hervorzuheben, derartige Necrosen, selbst
ziemlich grosse, in überwiegender Anzahl „in Heilung übergehen“ und
dass der Verlust an Muskelsubstanz, den das Herz durch eine der¬
artige Necrose erleidet, nicht seiten durch eine vicariirende Muskel¬
hypertrophie ersetzt wird. Das Eintreten der Herzparalyse in zahl¬
reichen Fällen von Myomalacie muss also offenbar noch auf anderen
Umständen als dem necrotischen Process an und für sich beruhen.
Einen solchen, in verschiedenen Fällen allem Anschein nach sehr
wirksamen Umstand, bestehend in der Befindlichkeit mit der Necrose
gleichzeitiger und von der Sklerose bedingter wesentlicher Hindernisse
für die Blutcirculation in anderen Theilen des Herzens habe ich
bereits oben gelegentlich der Besprechung der beiden Fälle von
Myomalacia cordis betont'). Betreffs anderer solcher Umstände,
welche in einem gegebenen Fall sich wahrscheinlich geltend machen
zu können scheinen, kann ich aus eigener Erfahrung nur hervorheben,
dass, besonders aber dann, wenn die Necrose ein grösseres Gebiet
des Herzens interessirt, die Gefahr einer eintretenden Herzparalyse in
directem Verhältniss zu der Schnelligkeit zu stehen scheint, mit der
die Veränderungen im Gefässe, durch welche die Necrose hervor¬
gerufen worden ist, sich entwickelt haben.
ln der Mehrzahl der Fälle aber, wo im Herzen weder eine
Fettdegeneration in anmerkungswerthem Grade noch frische necro-
tische Veränderungen sich nach weisen lassen und wo, was am
häufigsten der Fall ist, die Kranzarterien ausserdem keine anderen als
offenbar schon seit längerer Zeit bestehenden Veränderungen zeigen,
muss man zugestehen, dass die anatomischen Verhältnisse im Herzen
genau genommen das plötzliche Eintreten der Herzparalyse nicht in zu¬
friedenstellender Weise erklären*), sowie auch, dass man in denselben
Verhältnissen das letzte Glied in der Kette der Beweise dafür ver¬
misst, dass die Paralyse in Wirklichkeit durch die arteriellen Gefäss-
veränderungen bedingt worden war.
Indessen zeugt die Erfahrung bestimmt dafür, dass die Formen,
unter denen die Kranzartcriensklerose auch unter den zuletzt erwähn¬
ten Verhältnissen im Stande ist, ganz plötzlich eine Lähmung des
Herzens zu verursachen, zahlreich und wechselnd sind. Ich muss
') LI. Bd., 1. Heft, S. 27.
*) Vergleiche L. Bd., 1. Heft, S 4 7.
Vierteljahmehr. f. gtr. Med. N. F. L1I. 1.
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Dr. Key • Aberg.
mich jedoch hier darauf beschränken, nur das hervorzuheben, was
ihnen allen gemeinsam zu sein scheint, nämlich die Erzeugung auf
ausgedehnte Gebiete des Herzens zurückwirkender Hindernisse
für die Circulation in des Organes eigenen Gefässen.
Mehrere von den Fällen, welche ich hier oben mitgetheilt habe,
ebenso viele aus der literarisch überlieferten Casuistik, bieten hin¬
sichtlich der Frage von der physiologischen Bedeutung mehr oder
weniger umfassende Unterbrechungen der Blutcirculation in den
Kranzarterien des Herzens sehr interessante Gesichtspunkte dar.
Dieses Interesse kann dadurch nur vermehrt werden, dass mehrere
der Bilder, welche sich uns hier darbieten, offenbar geeignet sind, sehr
starke Zweifel darüber aufkommen zu lassen, inwiefern die in wichtigen
Hinsichten übereinstimmenden physiologischen Experimente, mit denen
die Namen v. Bezold 1 ), Samuelson 3 ), Cohnheim und v. Schult-
hess-Rechberg*), Söe, Bochefontaine und Roussy 4 ) verknüpft
sind, für die menschliche Pathologie ihre volle Giltigkeit haben.
Möglicherweise dürften neue Experimente Klarheit in diese Frage
bringen.
*) v. Bezold, Von den Veränderungen des Herzschlages nach Verschliessung
der Coronararterien. Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium in
Würzburg, I, S. 256, 1867.
a ) B. Samuelson, Centralblatt f. d. med. Wissenschaften, Ko. 12, 1880.
Zeitschrift f. klin. Medicin, 2, 1880 und Virchow’s Archiv, Bd. 86, 1881.
3 ) Cohnheim und v. Schulthess - Rochberg, Ueber die Folgen der
Kranzarterienrerschliessung für das Herz. Virchow’s Archiv, Bd. 85, 1881.
*) G. Säe, Bochefontaine et Roussy, Arrdt rapide des contraotions
rythmiques des ventricules cardiaques sous l’influence de l’occlusion des artäres
coronaires. Comptes Rendus de l’aoademie des Sciences, Paris, Janv. 1881, und
B. Roussy, Thöse de Paris, S. 44 und folgende, 1881.
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4.
Zwei ■•tivirte CiUchtei Aber chronische Alkoholisten.
Von
Dr. Alfred Richter,
Oberarzt der Irrenanstalt der Stadt Berlin au Dalldorf.
Die nachfolgenden zwei Fälle von chronischem Alkoholismus, so
analog wie sie einander sein mögen, ergänzen sich dennoch. Da sie
den Bezug zwischen Epilepsie und chronischem Alkoholismus er¬
läutern, und Fälle der Art ein regelmässiges Contingent für Ex¬
plorationstermine bilden, so mögen sie als Typen zur Publication
gelangen.
Am 17. Mai 1888 fand in der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu
Dalldorf ein Explorationstermin statt, in welchem der gerichtliche
Physikus Herr Dr. M. und ich den Tischlergesollen Friedrich August
0. für unvermögend erklärten, die Folgen seiner Handlungen zu über¬
legen. Da der p. 0. indess bereits wiederholt in Anstalten gewesen,
auch gerichtlich explorirt war, so bedurfte es zur Begründung dieses
Gutachtens eines näheren Eingehens in die Krankheitsgeschichte und
der Einsicht des betreffenden Actenmaterials.
Der Tischlergeselle Friedrich August 0., evangelisch, ist ehelich geboren
den 2. April 1842 in E. Sein Vater, Postillon ebendaselbst, ist gestorben, seine
Mutter, eine geborne A., lebt daselbst als Wittwe. Sein Vater war nach Aussage
des Patienten Trinker; sonst sollen Nervenkrankheiten und Geistesstörungen in
der Familie des Provocaten nicht vorgekommen sein.
Seit 1866 lebte 0. ununterbrochen in Berlin. 1875 verheirathete er sich
mit Amalie K. und zeugte mit derselben drei Kinder. 1880 wurde er nach
eigener Angabe wegen strafbaren Eigennutzes verurlheilt. Seit 1883 lebt er ge¬
trennt von seiner Frau, ohne gerichtlich geschieden zu sein. Sonst ist über die
Vergangenheit des 0. Nichts bekannt.
Am 10. Juli 1883 kam 0. in die Irrenabtheilung der Königlichen Charitö.
Ein notorischer Säufer, war er in einem derartigen Erregungszustände, dass er
mit einem säbelartigen Instrument mehrfach unter Brüllen und Toben auf seine
Frau losging, die Fenster zerschlug, wobei er sich selbst beschädigte, naoh den
Kindern und der Frau mit verschiedenen Gegenständen warf und dabei unver¬
ständliche Dinge bervorbrachte, als sähe er Andere, die ihn verfolgten etc. Der
ganze Habitus desselben war der des Gewohnheitssäufers; das tiefrothe. gedun-
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Dr. Richter.
sene, mit verschiedenen Schnitt- und Risswunden bedeckte Gesicht, das Zittern
der Zunge und der Hände, die stammelnde Sprache, die stieren Augen, die grosse
Erregtheit, endlich das Ausweichen auf die ihm gestellten Fragen resp. deren
unsinnige Beantwortung, standen im Einklänge mit dem von den Nachbarn ge¬
schilderten Erregongszustande. Hiernacli erklärte ihn der betreffende Bezirks-
physikus als unter dem Einflüsse des chronischen Alkoholmissbrauches stehend
(Delirium tremens) und seine Ueberfülirung in ein Krankenhaus dringend er¬
forderlich. In die Charitd kam er leicht verwirrt mit deutlichem Tremor, hatte
mehrere Schrammen im Gesicht, die er von seiner Frau mit einem Plätteisen er¬
halten haben wollte. Potus: Korn 20 Pf.; keine Krämpfe. Er wurde bald klar
und geordnet, so dass er bereits am 14. Juli geheilt entlassen werden konnte.
Am 25. Februar 1884 kam 0. zum zweiten Male nach der Charite; oin
notorischer Säufer und arbeitsscheuer Mensch, hatte er sich durch Alkoholgenuss
wieder in eine derartige Aufregung versetzt, dass er auf seine Ehefrau mit einem
Hobeleisen los ging und, als er hieran von einer Aftermietherin gehindert wurde,
derselben eine tiefe Querwunde am linken Vorderarm beibrachte. Er wurde mit
der Stirne gegen ein Haus lehnend auf offener Strasse gefunden, scheinbar seiner
Sinne nicht mächtig. Er beantwortete die an ihn gestellten Fragen mit stam¬
melnder Sprache und grinsendem Lächeln ziemlich correct, war sich auch dessen
bewusst, dass er einer Mitbewohnerin seines Hauses eine Verletzung beigebracht,
wusste aber sonst von dem Tage der Untersuchung durch den Arzt und dem vor¬
her Nichts anzugeben. Sein sehr unstätes Wesen, sein ängstlicher Blick, deut¬
liches Gliederzittern und der Mangel der Erinnerung an die an diesem Tage mit
ihm vorgegangenen Dinge Hessen es, da Trunkenheit zur Zeit ausgeschlossen
war, unzweifelhaft erscheinen, dass bei demselben wiederum Delirium tremens in
der Entwicklung begriffen. Zur Charite gebracht, war er schon viel ruhiger ge¬
worden, schlief die erste Nacht ohne Medication und betrug sich auch sonst
ruhig. Dagegen zeigte or einen deutlichen Tremor der Hände und Zunge. Ueber
seine Verbringung nach der Charitö und die vorausgegangene ärztliche Unter¬
suchung war er orientirt; dagegen wollte er von Thätlichkeiten gegen seine Frau
Nichts wissen. Epileptische Antecedentien fehlten wiederum. Potus: Korn und
Bitterer 20 Pf. und darüber pro die. Am 4. März als geheilt entlassen. Auf die
Anfrage der Staatsanwaltschaft bei dem Königlichen Landgericht I. Berlin vom
4. März desselben Jahres, ob sich aus dem gegenwärtigen Zustande des 0.
scbliessen lasse, dass er bereits am 24. Februar, wo er sich einer vorsätzlichen
Körperverletzung mittelst eines Hobeleisens schuldig gemacht, geisteskrank und
dispositionsunfähig gewesen sei, wurde am 22. März erwidert, dass 0. bei sei¬
ner Aufnahme in die Charitd am 25. Februar d. J. an Delirium tremens gelitten
und dass aus dem Zustande desselben geschlossen werden könnte, dass er am
24. Februar geisteskrank und dispositionsunfähig war.
Am 24. April 1884 kam 0. zum dritten Male in die Charitö. Er hatte,
nachdem er die ganze Woche hindurch getrunken und Nichts gearbeitet, die
Familie insultirt. Er sollte sich auf die im Bette schlafenden kleinen Kinder ge¬
worfen und hieran verhindert alsdann dieEhefraa mit einem Stuhle attaquirt und
mit Fusstritten malträtirt haben. Den Tag darauf wurde er, vor sich hingrübelnd,
den Kopf zwischen die Kniee gesenkt, auf einem Stuhle sitzend vorgefunden,
sollte auch bereits am Tage vorher in der Werkstatt durch ähnliche Attitüden
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Zwei moti viele Gutachten über chronische Alkoholisten.
69
und durcti wildes Umherrennen und verwirrte Redensarten, „ich bin bestohlen
worden“, den Eindruck bestehender Geisteskrankheit hervorgerufen haben. Er
betrug sich bei der Untersuchung auf der Polizeiwache höchst stumpf und
gleichgiltig, stierte vor sich hin, gab zu getrunken zu haben, leugnete aber jede
Brutalität. Er schien sich der Dinge, die mit ihm vorgegangen und die er selbst
vollbracht, absolut nicht erinnern zu können. In der Charitö kam er in einem
Zustande stumpfer Gleichgiltigkeit an, verhielt sich ruhig, anfänglich stumpf,
nachher freier und geordnet. Von dem zu Hause Vorgefallenen hatte er, nach
seiner Angabe, durchaus keine Erinnerung. Da eine Wiederk >hr der Erregung
bei 0. nur durch Verhinderung neuen Alkoholmissbrauchs vermieden werden zu
können schien, so musste nach dem Verhalten des 0. als wahrscheinlich be¬
fürchtet werden, dass zu diesem Zwecke die Unterbringung desselben in eine
Arbeits- oder Irrenanstalt sich nothwendig zeigte. Der 0. wurde deshalb am
17. Mai 1884 nach dem Arbeitshaushospital zu Rummelsburg und zwar unge¬
teilt entlassen. Daselbst blieb er bis zum 16. Juli 1884. In der Verhandlung
am 25. Mai 1884 bezeichnete er sich daselbst als gemuthskrank. Den 6. Juni
kam er in Rummelsburg bereits betrunken nach Hause, so dass ihm der Ausgang
untersagt wurde. Von Rummelsburg aus wurde 0. zu seiner Ehefrau beurlaubt.
Am 23. December 1884 kehrte 0. von seinem Urlaub nach Rummelsburg zurück,
um am 18. Pebruar 1885 abermals einen Urlaub zu seiner Ehefrau anzutreten.
Am 19. Juni 1885 kam 0. zum vierten Male in die Charitd. Nach dem
Gutachten des Dr. R. vom 18. Juni war eine Geistestörung z. Z. an ihm nicht
□achzuweisen. auch nicht die imbecille Basis einer solchen, denn er beantwortete
alle möglichen Fragen mit Ueberlegung und durchweg treffend, dabei ein ziem¬
lich gutes Gedächtniss an den Tag legend. Ob Explorat an periodischem Wahn¬
sinn und gelegentlichen Tobsucbtsanfallen leide, dürfte jedoch nur durch fort¬
gesetzte Beobachtung festzustellen sein. In der Charite machte er den Eindruck
eines Potator strenuus und zeigte ein schwachsinniges Wesen; der körperliche
Zustand war leidlich. Er war in der Chnritd ruhig. Am 13. Juli wurde er unge¬
teilt nach Dalldorf entlassen. Von hier wurde am 29. Juli über ihn berichtet,
dass er sich vollkommen beruhigt habe und sich fleissig beschäftige; jedoch sei
durch den Alkoholmissbrauch sein Geist im Allgemeinen bereits so geschwächt,
dass er als blödsinnig zu bezeichnen sei.
Unter dem 26. Februar 1886 stellte nun die Frau des 0. den Antrag auf
Wahnsinnigkeitserklärung; in einem Termin am 16. März 1886 erklärte aber der
Sachverständige Herr Dr. S., dass sich 0. geistig gebessert habe. Bei seinen
Antecedentien aber und da er eine Abstumpfung seiner ethischen Fähigkeiten,
Einsichtslosigkeit und Energielosigkeit, nicht verkennen lasse, bis zu einem ge¬
wissen Grade auch die Intelligenz gelitten habe, glaubte der Herr Sachverstän¬
dige ein definitives Urtheil noch nicht abgeben zu dürfen und schlug Prorogation
auf 6 Monat vor.
Im Juni 1886 erbot sich die Schwester des 0. ihn aus der Irrenanstalt
Dalldorf zu sich zu nehmen, da sich seine Frau einen „Bräutigam“ angeschafft
und sie sich als Schwoster ihres Bruders annehmen werde. Derselben wurde or-
widert, dass Ü. nur dann die Möglichkeit, ausserhalb der Anstalt zu verbleiben,
böte, wenn er Aufsicht und Abhaltung von Spirituosengenuss fände. Darauf ver¬
blieb er noch vorläufig in Dalldorf.
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Dr. Richter.
Am 28. October 1886 fand abermals ein Termin statt, in welchem wiede¬
rum als Sachverständiger Herr Dr. S. fungirte. Nach ihm hatte sich nach dem
letzten Termin 0. in der Anstalt rnhig und verständig gehalten, sich in der
Tischlerwerkstatt fleissig beschäftigt und als tüchtiger Arbeiter gezeigt und in
keiner Weise zu Bemerkungen in der Krankheitsgeschichte Anlass gegeben. Er
war über die Ursache seiner Krankheitszustände orientirt, gab zu, dass er stark
getrunken hätte, und wenn er auch diesen seinen Fehler auf der einen Seite
duroh Aerger über die Frau zu motiviren suchte, so gab er doch zu, dass er auch
selbst (durch mangelnden Erwerb und durclr Trunksucht! seiner Frau Anlass zu
Tadel gegeben habe. Er war überzeugt, dass seine Frau bis auf die letzte Zeit
ihm treu geblieben sei, und wenn er von den letzten Monaten das Gegentheil an-
nabm, so stützt er sich hierbei auf die Erzählungen seiner Schwester. Er wollte
aber, wenn er herauskäme, sich erst von der Wahrheit dieser Angaben über¬
zeugen und dann die legalen Schritte thun, um seine Rechte zu wahren, wobei
er hauptsächlich an die Kinder dachte. Diese Ideenfolge konnte nach Allem als
eine pathologische nicht betrachtet werden, und da er auch sonst zur Zeit Sym¬
ptome geistiger Störung nicht erkennen liess, mit Ausnahme vielleicht einer sehr
geringen Herabminderung des Willens, so konnte er z. Z. nicht für unfähig an¬
gesehen werden, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Es wurde deshalb
der Antrag der Ehefrau des 0. unter dem 10. November 1886 zurückgewiesen,
nachdem 0. am 7. November aus der Irrenanstalt zu Dalldorf zu seiner Schwester
entlassen war.
0. lebte nun bis zum 1. März 1887 bei dieser seiner Schwester. Trotz
dieser Trennung suchte er sich immer wieder seiner Ehefrau zu nähern und be¬
drohte bei diesen Versuchen dieselbe in der gefährlichsten Weise. Auf seinen
Geisteszustand untersucht, charakterisirte er sich sofort als ein äussorst schwach¬
sinniges Individuum mit grossem moralischen Defect. Gedächtniss und Intelli¬
genz hatten beide gleich sehr gelitten. Er konnte sein Vorleben nur in sehr
dürftiger Weise beschreiben, hatte von Zeitrechnung keine Vorstellung und von
den ihm obliegenden Pflichten als Ehemann und Familienvater einen äusserst
lückenhaften Begriff. Nach der Wahrnehmung des betreffenden Bezirksphysikus
litt 0. an Schwachsinn. Nach dem Charitd-Journal suchte er sich in der letzten
Zeit seiner Frau zu nähern, wurde, als er sie besuchen wollte, angeblich nicht
eingelassen, ging „einen trinken“ und machte, zurückgekehrt, groben Scandal,
so dass er polizeilich entfernt und nach der Charite geschafft wurde. Er zeigte
sich in der Charitd als ein schwachsinniges Individuum mit grossem moralischen
Defect. Die Schilderung seines Vorlebens war mangelhaft, ebenso das, was er
von Zeitrechnung wusste. Potus: 0,40 (früher), Pupillen gleich weit, reagirten
auf Lichteinfall, Zunge zitternd herausgestreckt, starker Tremor manuum. Knie¬
phänomen vorhanden, keine Sprachstörung. Am 1. März wurde er ungeheilt
nach Dalldorf entlassen.
Von hier aus wurde unter dem 10. März 1887 über ihn geschrieben, dass
er nachweisbar nicht die nothwendige Energie besässe, dem für ihn schädlichen
Alkoholgenuss zu entsagen, er werde infolge dessen voraussichtlich wieder in
Zustände krankhafter Art gerathen, in welchen er die Folgen seiner Handlungen
zu überlegen unfähig sei und müsse demnach für blödsinnig im Sinne des Ge¬
setzes erachtet werden. Und unter dem 1. August wurde über ihn berichtet,
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Zwei motivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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dass 0. jetzt natnrgemäss von schweren Krankheitszeichen frei sei, jedoch könne
nach dem bisherigen Verläufe eine Enthaltsamkeit von Spirituosen auf die Dauer
nicht mit Bestimmtheit vorausgesetzt werden. Dass der 0. alsdann in Zustände
erheblicher Störung verfalle, sei nach den früheren Beobachtungen erwiesen.
Unter dem 2. Februar 1888 schrieb nun der Unterzeichnete von hier aus
über ihn an die Staatsanwaltschaft bei dem Königlichen Landgericht I. in Berlin,
dass sich bei ihm allmälig die Folgen des chronischen Alkoholgenusses einge¬
stellt hätten; er gerathe nach geringen Mengen geistiger Getränke schnell in
krankhafte Reizbarkeit, werde gewaltthätig, verwirrt und behalte von den be¬
treffenden Vorfällen keine Erinnerung. Namentlich bringe sich seine krankhafte
Aufgeregtheit dann seiner Frau gegenüber zur Geltung. Aber auch sonst habe
er geistig gelitten und namentlich etbisoh; es sei ihm gleichgiltig, dass er sich
in der Irrenanstalt unter Irren befinde; er habe das Interesse an seiner Familie
verloren und ihm selbst liege nichts daran, wieder in Freiheit zu kommen. Sonst
spreche er im Zusammenhang, sein Gedächtniss sei nicht allzu schlecht und er
beschäftige sich; aber auch hier trete sofort seine Krankheit grell in den Vorder¬
grund, wenn er einmal Gelegenheit gehabt hätte, mehr als die ihm zukommende
Flasche Bier zu trinken. Er sei im Sinne des Gesetzes als blödsinnig zu be¬
zeichnen.
Darauf stellte der Erste Staatsanwalt bei dem Königlichen Landgericht I.
Berlin unter dem 3. März 1888 selbst den Antrag auf Entmündigung. Die in
dem Gesammlzustande des Patienten seither wieder eingetretenen alten wie hin-
zugetrelenen neuen Erscheinungen trügen einen entschieden psychopathischen
Charakter und verschafften unzweifelhaft die Ueberzeugung, dass nunmehr der¬
jenige Moment gekommen sei, welcher Abspreohung der bürgerlichen Handlungs¬
fähigkeit im Interesse des Provocaten selbst, wie der Gesellschaft für geboten er¬
scheinen lasse. Die Alkoholsucht vollführe an ihren Opfern ein langsames, aber
sicher fortschreitendes Zerstörungswerk, welches dieselben im Laufe der Jahre
allmälig zu den gefährlichsten Ausbrüchen der Tobsucht (Rabies) und zur Läh¬
mung des gesammten Gehirnapparates überführe. Diese graduelle Entwickelung
sei in vorliegendem Falle vorhanden und aus den seit dem ablehnenden Beschluss
vom 10. November 1886 abgegebenen ärztlichen Gutachten vom 20. März 1887
und 9. Februar 1888 ersichtlich. Darnach erscheine der Zustand des 0. in fort¬
schreitender Verschlimmerung begriffen. Bereits geringe Quantitäten geistiger
Getränke bestimmten eine bis zu Gewaltthätigkeiten gesteigerte Reizbarkeit,
welche in Verwirrung und Verlust der Erinnerungskraft d. h. der Fähigkeit, Vor¬
stellungen und Geschehnisse geistig festzuhalten, sich auflöse. In ethischer Rich¬
tung trete die Wirkung dieses Zustandes noch deutlicher hervor etc., und der Pro-
vocat erscheine nach obigen thatsächlichen Ausführungen als blödsinnig im Sinne
des Gesetzes.
Darauf wurde am 17. Mai 1888 in der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu
Dalldorf der bereits Eingangs erwähnte Termin abgebalten.
Ich habe im Vorhergehenden Alles, was über den Provokaten
seit seiner ersten Internirung in der Charite, im Jahre 1883, als
Geistesgestörten geschrieben worden ist, ausführlich wiedergegeben,
weil aus demselben, wie es übersichtlich an einander gereiht ist,
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Dr. Richler,
sich eigentlich von selbst der Schluss ergicbt, dass der Provokat
seit jenem Jahre ununterbrochen krank war, ununterbrochen gehirn¬
krank, zufolge chronischer Alkoholvergiftung und dass nur die
Aeusserungsweise dieser Erkrankung in ihrer Intensität schwankte.
Wenn es auch durchaus nicht nothwendig ist, dass ein gehirnkranker
Mensch auch geistesgestört ist, wiewohl er beständig in grosser Ge¬
fahr schwebt, es zu werden, so lehrt doch die Erfahrung, dass ein
Mensch, dessen Gehirn zufolge Alkoholgenusses, der eine gewisse
Reihe von Jahren auf dasselbe mit tJeberschreitung bestimmter
Grenzen einwirkte, afficirt wurde, selbst dann als geistesgestört be¬
zeichnet werden muss, wenn er es zufolge momentaner Aeusserungen
kaum zu sein scheint, sicher als geistesgestört, wenn auch nur ganz
geringe pathologische Symptome in den Zeiten, wo er es nicht zu
sein scheint, sich zeigen. Geistesgestörte brauchen durchaus nicht
verkehrtes Zeug zu sprechen und solche, die verständig reden,
brauchen durchaus nicht geistesgesund zu sein; über den Geistes¬
zustand eines Menschen kann nur die klinische Würdigung desselben
richtig urtheilen und kein Gesetzesparagraph schreibt vor, dass man
sich zur Beurtheilung des Zustandes eines Provokaten bloss an das
klammern müsste, was derselbe im Termin spricht. Alkoholisten
nun sind es gerade, welche, wenn sie sich eine Zeit lang des Alkohol¬
genusses enthielten, oft viel weniger krank erscheinen als sie es sind;
und den meisten wird es selbst überlassen, den Beweis ihrer Gestört¬
heit zu liefern, indem sie immer und immer wieder in die Anstalten
zurückkehren, aus denen man sie ihres guten äusseren Verhaltens
wegen entliess.
Diese Entlassungen sind auch geboten, denn nach den ersten
Attaquen des Deliriums erlangen jene Patienten der Regel nach ihre
frühere geistige Frische wieder; und erst allraälig tritt jener Zustand
des chronischen Alkoholismus ein, in dem anfänglich ihr psychisches
Verhalten ein labiles wird, bis die Intelligenz merklicher abgestumpft
erscheint auch in nüchternen Zeiten, weil ihre Grundlage, das Gehirn,
allraälig erkrankte.
Die ersten Symptome der dauernden Hirnerkrankung bei chro¬
nischer Alkoholintoxication, welche unter dem Bilde des labilen
psychischen Verhaltens verlaufen, sind vor Allem grössere Empfäng¬
lichkeit gegen auch geringe Quantitäten Alkohol. Wurden Trinker erst
nach grösseren Quantitäten betrunken, so werden sie es jetzt nach
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Zwei uioiivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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kleineren, wurden sie es erst nur nach Schnaps, so werden sic es
dann bereits nach Bier, und hatten sie erst im Trünke noch eine gewisse
Haltung, so verlieren sie dieselbe späterhin stets und vollkommen.
Sodann werden sie im Trünke reizbar; sie gerathen mit ihrer Kneip-
umgebung in Conflikt, und Unfug, Körperverletzung und Hausfriedens¬
bruch sind die beständig wiederkehrenden Strafregister der Alko¬
holisten. Dann stellt sich Arbeitsscheu ein; sie treiben sich umher,
und in ihrer Polizei-Akte finden wir die Sistirungen wegen Obdach¬
losigkeit, nächtlichen Umhertreibens und die ersten Correctionsstra-
fen. Hierauf schliesst sich die Eifersucht gegen ihre Frau an, mit
deren Eintreten sich häufig die erste Urtheilschwäche geltend macht.
Für das Zurückgehen ihrer wirthschaftlichen Verhältnisse geben sie nur
ungern sich selbst Schuld, sondern der Frau, welche mit dem Trinken
des Mannes anf eigene Thätigkeit angewiesen, wenn sie diese nicht
immer entfalten kann, der Faulheit geziehen wird; sucht sie Trost
bei der Umgebung, so ist für den Mann das Misstrauen in jeder
Beziehung, wie er meint, gerechtfertigt. Der häusliche Zwist wird
zur Tagesordnung, die Sorge um die Kinder verschlimmert die Ver¬
hältnisse, die Trinker fühlen sich selbst krank und unfähig, und die
Correlation zwischen Sorge und Trunk erscheint natürlich. Jetzt löst
sich die Ehe, sei es dass gerichtliche Scheidung stattfindet, oder dass
die Eheleute getrennt von einander leben: immer nähern sich die
Trinker triebartig der Frau, denn sie erscheint ihnen trotz Allem
doch vielleicht als der einzige Halt; aber bereits unvermögend den
Trunk zu lassen und zu arbeiten, belästigen sie dieselbe nur — und
diese, längst auf sich selbst angewiesen, lässt den Trinker sistiren;
so ist es die Frau, die das Unglück des Mannes nach seiner falschen
Auffassung verschuldet, und das Gefühl der Eifersucht vermischt sich
mit dem verwandten der Rache: schwere Misshandlungen und Ver¬
letzungen der Frau erfolgen häufig. Nun kommen die Trinker bereits
auf Jahre in die Anstalten. Unter dem Regime dieser bessern sic
sich und arbeiten in denselben fleissig, so dass ihre Leiter immer
wieder versucht werden, sie zu entlassen. Auf freiem Fussc wirkt zwar
das Regime der Anstalt noch eine Zeit nach; jedoch bald vermögen sie
dem Hang zum Alkohol nicht zu widerstehen, und das abermalige
Verbringen in die Anstalt wird erforderlich. Jetzt verzweifeln sie,
lebensüberdrüssig, an sich selbst; denn das Versprechen, den Alkohol
zu meiden und der Frau sich nicht wieder zu nähern, vermochten sic
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Dr. Richter.
nicht zu halten. Inzwischen haben ihre geistigen Leistungen so nach¬
gelassen, dass sie, angetrunken, überhaupt nicht mehr wissen, was sic
thun, oder an ihre Handlungen nur ganz dunkele Erinnerung haben,
oder die Erinnerung sehr schnell verlieren. Befragt, müssen sie die¬
selben, im besten Glauben, rundweg ableugnen, aber von der Gewalt
der Thatsachen überführt, beschönigen sie dieselben oder überlassen
sich trüber Apathie, geben dem sie untersuchenden Arzte nur noch
ausweichende Antworten und überlassen demselben in stumpfer Resig¬
nation das Urtheil über ihren Zustand. Nun hat auch das Gedächt¬
nis im Allgemeinen gelitten, die gesunden Lebensinteressen sind ver¬
loren gegangen, und jene geistige Trägheit stellt sich ein, welche jetzt
schon nach geringen Mengen Alkohol in Verwirrtheit und Aufgeregt¬
heit ausartet.
Und verlief die Sache etwa anders bei 0.? 1883/84 war er
zwei Mal wegen Delirium potatorum in der Charite und bei seiner
dritten Internirung in dem letzteren Jahre wurde er bereits als an
chronischem Alkoholismus leidend, bezeichnet; also die ersten zwei
Male wurde er geheilt, nach dem dritten Delirium zeigte sich bereits
die geistige Schwäche. Mag bei ihm, wie er im Colloquium vom
17. Mai d. J. sagt, wirthschaftlicher Rückgang und häuslicher Aerger
wirklich das Erste gewesen sein und den Trunk des 0. mit ver¬
anlasst haben, Arbeitsscheu stellte sich jedenfalls auch bei ihm ein.
Das gab er in dem Colloquium vom 18. October 1886 zu, sowie
er auch selbst gestand (nach seiner ersten Aufnahme), die Sucht und
den Hang zu trinken gehabt zu haben; die Frau aber äusserte in
demselben Termin, dass 0. schon in seiner Jugend getrunken hätte.
Dass er nach Genuss von Alkohol (für 20 Pf.) „sehr aufgeregt“ wurde
und sich darnach „angegriffen“ fühlte, gesteht er selbst zu. Dass er von
der üblichen Eifersucht der Trinker zum mindesten periodisch geplagt
gewesen sei, erwähnt seine Frau ebenfalls in diesem Termin; dies
war auch bestimmt der Fall, denn sie hatte gewiss die wenigste Veran¬
lassung, gerade eine solche Aeusserung (er hätte bereits 1882/83 er¬
klärt: die Kinder seien nicht seine Kinder) zu thun. Und hatte nicht auch
0. die Neigung, mit Bezug auf seine Verbringungen nach der Charite,
sich als unschuldig und seine Frau als schuldig hinzustellen (Kranken¬
geschichte 9. 12. 1888: „Er habe sich vor seiner letzten Internirung
wieder zu seiner Frau begeben, sei hingegangen, sie habe ihn nicht
eingelassen und, wio das so ist sei er wieder hierher geschafft worden.
Es könne möglich sein, dass er ihr eine boshafte Antwort gegeben,
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Zwei motivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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getrunken habe er damals nicht, wie es gesagt worden, ganz und
gar will er es nicht leugnen, nein, aber bloss ....“) während er sie
doch in der gefährlichsten Weise bedroht hatte? Sagte er nicht, er
wäre ira Juli 1883 von seiner Frau verletzt wordon, während er mit
einem säbelartigen Instrument auf sie losging? Und leugnet 0. nicht
im Termin vom 28. 10. 1886, sich gegen seine Frau und Kinder
gewaltthätig benommen zu haben, während dieses doch constatirt
war, oder litt er nicht an jener Erinnerungslosigkeit für seine Hand¬
lungen, die seine Sistirungen veranlassten? Hatte er nicht die Er¬
innerung daran verloren, dass er am 25. Februar 1884 auf der
Strasse gestanden hatte, mit der Stirn gegen ein Haus gelehnt,
dass er vor seiner zweiten Aufnahme in die Königl. Charite auf
seine Ehefrau mit einem Hobeleisen losgegangen war und dass er
vor seiner dritten Aufnahme seine Frau mit einem Stuhle attaquirt
und mit Fusstritten maltraitirt hatte? — Und auch in Dalldorf bestritt
er unter dem 14. 3. 1887 die Thatsache, dass er vor seiner fünften
Aufnahme in die Charitö seine Frau in der gefährlichsten Weise be¬
droht hatte. Mag man aber im Einzelfalle das Leugnen dieser Ge-
waltthätigkeiten und Bedrohungen oder ihr wirkliches Vergessensein
oder ihr unbewusstes Ausführen nicht immer auseinander halten
können, die Regelmässigkeit ihres Vorkommens bei Alkoholisten be¬
weist ihre zum Krankheitsbilde gehörige, vom Willen des Patienten
unabhänge Gesetzmässigkeit. Und stand man n\cht auch von 0.
im October 1886 ab, ihn trotz „vielleicht einer sehr geringen Her¬
abminderung der Willensenergie“ für blödsinnig im Sinne des Ge¬
setzes zu erklären, sondern entliess ihn aus Dalldorf, wohin er be¬
reits nach noch nicht vier Monaten zurückkehrt, nachdem er sich seiner
Ehefrau immer wieder zu nähern gesucht und dieselbe in der ge¬
fährlichsten Weise bedroht hatte? Uebernahra so 0. nicht selbst
den Beweis seiner Unzurechnungsfähigkeit? Und war denn 0. im
Stande, dem krankhaften Zuge nach dem Trinken Widerstand zu
leisten? Im Dalldorfer Krankenjournal vom Februar 1888 ist ro-
gistrirt, dass er auch hier manchmal mehr als die ihm zu¬
kommende eine Flasche Bier zu trinken scheine, und im April
1888 hatte er ,nach demselben Journal zwei Flaschen Schnaps bei
sich und zeigte sich aufgeregt. Wo bleiben da seine Versprechungen?
Und fiel nicht bereits bei seinem vierten Aufenthalt in der Charitö
1885 seiu schwachsinniges Wesen auf und ebenso als er am 1. März
1887 untersucht wurde? Und ist sein Gedächtniss nicht geschwächt?
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Dr. Richter,
weiss er doch nicht, ob er drei oder vior Male in der Charite wegen
seines Trinkens war, während es doch fünf Male gewesen sind! Ich
meine, diese Zeichen wären für ihn bemerkenswert!!, wenn er sie zu
merken vermöchte! Und ist ihm die Intelligenz nicht geschwächt,
wenn er nicht weiss, wie viel 17-}-3 ist und 17 + 2? Wird denn durch
den Umstand, dass 0. nicht unlogisch und unvernünftig spricht —
obwohl seine Ausdrucksweise unbeholfen genug und oft wenig zu¬
sammenhängend ist — der klinische Beweis seiner chronischen Ge¬
hirnerkrankung, seiner andauernden Geistesstörung resp. seiner Geistes¬
schwäche widerlegt? Gewiss nicht! —
Wissenschaftliche Diagnose: Alcoholismus chronicus. Dementia
alcoholica. Provokat ist infolge seiner Geistesgestörtheit unvermögend,
die Folgen seiner Handlungen zu überlegen und als blödsinnig im
Sinne des Gesetzes zu bezeichnen.
Am 23. Juni 1888 fand in der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu
Dalldorf in Sachen St. Entmündigung ein Termin statt, in welchem
ich den St. für unvermögend erachtete, die Folgen seiner Handlungen
zu überlegen. Da dieses Urtheil aber nicht allein durch das Proto¬
koll des Termins begründet werden konnte, es vielmehr dazu eines
genaueren Eingehens auf das Vorleben des Provokaten bedurfte, so
musste ich mir ein schriftliches motivirtes Gutachten Vorbehalten
und bat, mir zu diesem Zwecke die Akten zugehen zu lassen.
Der Paul Wilhelm August St., evangelisch, ist geboren ehelich am 15. No¬
vember 1853 zu Berlin. Sein Vater war nach Aussage des Provocaten Potator
und hat einmal an Krämpfen gelitten; ein Onkel mütterlicherseits wäre Selbst¬
mörder gewesen.
Provocat arbeitete nach seiner Einsegnung als Schreiber bei einem Rechts¬
anwalt. Von October 1871 bis October 1874 diente er bei der Unterofficiers-
schule in Potsdam. Seit October 1874 diente er bei dem 3. Pommerschen
Infanterie-Regiment No. 14. Gefreiter war er Juni 1874, Unterofficier November
1874 und Sergeant Juni 1877 geworden.
Von März 1875 bis Juni 1878, wo er wegen wiederholter Misshandlung
eines Untergebenen und Nichtbefolgung eines gegebenen Dienstbefehls mit einer
Gesammtstrafe von vier Wochen Mittelarrest bestraft wurde, hatte er sechs Dis-
oiplinarstrafen erhalten und wurde ihm im Mai 1878 in das Führungsattest ge¬
schrieben, dass er sich nicht immer gut geführt hätte.
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Zwei motivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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Bis zum Februar 1879, wo St. wegen vorsätzlichen Bestimmens eines
Untergebenen durch Missbrauch seiner dienstlichen Stellung zur Abstattung
eines falschen Rapports, wegen wiederholter vorsätzlicher Beschädigung König¬
licher Dienstgegenstände, Trunkenheit ausser Dienst, Ausbleibens aus dem Quar¬
tier ohne Urlaub nach Zapfenstreich und Verunreinigung einer Kasernenstube mit
Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes, Degradation zum Gemeinen
nnd 7 Monaten und 14 Tagen Gefängniss bestraft wurde, hatte er noch fernere
6 Disciplinarslrafen erhalten; und zwar im Juni 1878 wegen Trunkenheit ausser
Dienst, August 1878 weil er sich als Wachthabender duroh Trunkenheit zur Aus¬
übung seines Dienstes unfähig gemacht, October 1878 weil er unpünktlich zum
Antreten zur Arbeit erschien und November 1878 wegen Ausbleibens aus seinem
Quartier über die beurlaubte Zeit, Trunkenheit ausser Dienst und weil er ohne
jeden Grund in einem Bierlocal sein Seitengewehr mit der Aeusserung gezogen
hatte: * Jetzt kann’s losgehen I“; sodann December 1878 wegen grober Pflicht-
Vernachlässigung und Belügen eines Vorgesetzten auf Befragen in dienstlichen
Angelegenheiten und Januar 1879, weil er ohne Grund vom Dienste zurückge¬
blieben war. Hierbei sei bemerkt, dass in der Verhandlung vom 30. Januar 1879
ein Zeuge aussagte, dass St. sohon seit einiger Zeit den Eindruck mache, als
wenn er nie ganz nüchtern wäre.
Vom Februar bis September 1879 büsste er nun seine Strafe im Festungs-
gefängniss zu Spandau ab, und ergaben die daselbst über ihn geführten Acten
Nichts gegen ihn. Ehe er aus Spandau entlassen wurde, ward ihm von seinem
Regiment mitgetheilt, dass seine Dienstverpflichtung, zufolge seiner Eigenschaft
als Unterofficierschüler, zwar bis 1880 reiche, diese jedoch auf Antrag des Regi¬
ments aufgehoben und so seine Entlassung berbeigeführt werden sollte.
Nachdem Provocat in dieser unrühmlichen Weise seine militärische Lauf¬
bahn beendet, heirathete er 1880 und zeugte C Kinder, von denen zwei leben,
vier nickt ausgetragen starben; er nährte sich als Hausdiener, Portier, Ar¬
beiter etc.
Am 9.October 1885 kam nun Provocat zum ersten Male in die Irrenabthei¬
lung der Königlichen Charite. Das Attest des Bezirksphysikus sagt über ihn aus,
dass er an tobsüchtigen Aufäilen leide, in welchen er in hohem Grade aufgeregt,
laut und lärmend sei, sowie eine grosse Zerslörungssucht an den Tag lege. Heute
'9. October 1885) habe er in einem solchen Anfalle die Möbel in seiner Wohnung
zertrümmert und seine Ehefrau mit einem Beil angegriffen. Er habe schon in
früheren Zeiten Zeichen vorübergehenden Wahnsinns geäussert und sich einmal
zum Fenster seiner Wohnung hinaus aufgehängt. Auf eine Eingabe der Frau
des Patienten vom 26. October, nach der sie ihn wieder bei sich aufnebmen
wollte, weil er augenblicklich ganz gesund erscheine, wurde unter dem 29. er¬
widert. dass St. an pathologischen Rauschzuständen litte, in denen er allerlei
gemeingefährliche Handlungen beginge, die sich allerdings vorwiegend gegen die
eigene Frau richteten. Ausserdem zeige er nichts Besonderes. Bei der Kürze der
Behandlung sei eine Garantie, dass solche Zustände nicht wiederkehrten, natür¬
lich nicht vorhanden und es müsste der Frau jede Verantwortung für die even¬
tuellen Folgen aufgebürdet werden, wenn der Kranke entlassen würde.
Im Charite Journal war über'ihn notirt: »Einfache Seelenstörung. Patho¬
logische Rauschzustände. Nach Angabe der Frau trinkt Patient schon lange,
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f)r. Richter,
wenn auch massig, gerieth aber schon nach geringen Quantitäten regelmässig in
die heftigsten Aufregungssustände. Ganz unberechenbar herzt und bedroht er
mit dem Tode seine Kinder, schimpft die Frau in der gemeinsten Weise, bedroht
alle mit Todtstechen, zertrümmert alles, dessen er nur habhaft werden kann,
droht auch mit Selbstmord, hatte in der That sich einmal zum Fenster hinaus¬
gehenkt, ein anderes Mal sich zu erdrosseln versucht, ln diesen Anfällen soll er
sich überhaupt wie ein Wahnsinniger geberden, mit den Zähnen knirschen und
gelegentlich in einen starrkrampfähnlicben Zusland verfallen. Nachher ist er
sehr schlaff, schläft längere Zeit und will von dem ganzen Anfall nichts wissen.
Krämpfe fehlen, ln der lotzten Zeit sind die Anfälle häufiger und intensiver ge¬
worden. Patient kommt am 9. October wegen eines solchen Anfalles, in dem er
alles zertrümmerte und seine Frau mit einem Beil bedrohte, zur Anstatt, ist
ruhig, vollständig orientirt. zeigt keine motorischen Alkoholerscheinungen, stellt
die vorstehenden Angaben in Abrede, oder aber giebt sie zu, indem er sie zu
Bagatellen modificirt; die Selbstmordversuche erklärt er für Scherz. Patient ist
dauernd ruhig, ist anfangs ärgerlich über seine Delention, später aber gewinnt
er eine gewisse Krankheilseinsicht und giebt die Möglichkeit seiner Anfälle, die
er früher als erlogen bezeichnete, zu, schiebt dieselben auf Arbeitslosigkeit und
Schnaps. Am 5. November wird er auf intensives Drängen der Frau, welche
noch angiebt, dass er ausserhalb der Anstalt durchaus ruhig und verständig sei.
als nngeheilt entlassen.“ Unter dem 23. November wurde von der Charite aus
noch nachträglich über ihn berichtet, dass er an pathologischen Rauschzuständen
litte, die mit Rücksicht auf die dauernd wirksame Grundursache und die erheb¬
liche Neigung zu Recidiven als heilbar nicht bezeichnet werden könnten.
Unter dem 1. October 1886 brachte ihn ein Pbysikatsattest zum zweiten
Male in die Irrenabtheilung der Königlichen Charitö. Derselbe sei ein gewohn-
heitsmässiger Trinker, aber verfalle auch, ohne sichtlich betrunken zu sein, in
hochgradige Erregungszustände, in welchen er hauptsächlich seine Frau und
andere Personen der Umgebung misshandle und verfolge. Derartige Krankheits¬
zustände hätten sich in der letzten Zeit in anhaltender Weise gezeigt, so habe er
in tobsuchtsartiger Wuth Geräthe und Gegenstände in seiner Wohnung zertrüm¬
mert und sich wiederholt gegen seine Frau und seine Mutter vergriffen. Der Frau
des St. wurde auf ein Entlassungsgesuch vom 18. October geantwortet, dass sie
die volle Verantwortung für alle Handlungen des Mannes übernehmen müsse. Das
damals über ihn geführte Journal lautet: „Alcoholismus chronicus. 1. 10. 1886.
St. kommt ruhig zur Abtheilung, spricht etwas erregt und ladet die ganze Ver¬
antwortung seines Benehmens auf seine allzu heftige Frau ab, die ihn wegen
seines Schnapsgenusses überall hin verfolge. Trank in letzter Zeit pro die für
1 öPf. Schnaps (?). Wirkliche Tobsuchtsanfälle, wie sie im Attest erwähnt sind,
in denen er sich an anderen Personen vergriffen und Gegenstände zertrümmert
hat, zieht er entschieden in Abrede. Pupillen reagiren, Zunge zeigt mässigen
Tremor, Kniephänomen vorhanden. 5. 10. Patient ist ruhig, Stimmen hat er
nie gehört. 19. 10. dauernd ruhig, will sich den Schnapsgenuss bestimmt ab-
gewöhnen, gebessert entlassen.“ Auch unter dem 13. November 1886 wurde
über ihn nachträglich aus der Königlichen Charite berichtet, dass er an patho¬
logischen Rauschzuständen, infolge chronischen Alkoholmissbrauchs, leide, und
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Zwei motivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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dass bei der Grundlage seines Leidens dasselbe als heilbar nicht angesehen
werden könne.
Am 1. Deceniber 1886 kam St. zum dritten Male nach der Irrenabtheilung
der Königlichen Charite, nach dem Polizeibericht an Delirium tremens leidend.
Die Erwiderung auf ein Entlassungsgesuch der Frau vom 24. 12. lautet, dass
er sieb als Delirant in der Anstalt befinde und an pathologischen Rauschzuständen
leide. Da er sich in letzter Zeit ruhig und geordnet benommen, stände seiner
Entlassung etc. So wurde er am 27. 12. gebessert entlassen. Das über ihn ge¬
führte Journal lautet: „Alcoholismus chronicus. Pathologische Rauschzustände.
St. hat nach seiner kürzlichen Entlassung nur einen Tag keinen Schnaps ge¬
trunken. Er trank für wenigstens 20 Pf. täglich, manchmal für 50 Pf. Nord¬
häuser; 15 Pf. genügten schon, um ihn betrunken zu machen. Vom Nachmittage
an war er immer schon betrunken. Zu Hause wüthete er gegen Weib und Kind,
schimpfte und schlug dieselben, drückte die Frau in eine Glasthüre, bedrohte sie
mit dem Messer, warf ihr die Blumentopferde in das Gesicht, demolirte die Mö¬
bel, wollte die Kanarienvögel und Goldfische in der Stube schlachten etc., kam
in Strümpfen auf die Wache, als ihn die Polizei abholte. 1. 12. St. kommt
mit wüstem und verstörten Aussehen zur Anstalt. Er kann sich vieler Thaten
von Hause nicht mehr entsinnen, zieht vieles in Abrede. Keine Hallucinationen,
keine Delirien. Pupillenreaction prompt; Kniophänomen vorhanden; starker Tre¬
mor der Zunge und Hände. St. verhält sich in der Anstalt ruhig und geordnet.
Gebessert entlassen 27. 12. 1886.*
Am 3. Januar 1887 kam St. zum vierten Male in die Irrenabtbeilung der
Königlichen Charite. Erst vor wenigen Tagen aus derselben entlassen, sei er in
den letzten Tagen mehr oder weniger angetrunken gewesen und in diesem Zu¬
stande in einen pathologischen Rauschzustand gerathen. Er sei in einem tob¬
süchtigen Zustande gewesen, in welchem er wiederholt seine Frau mit schweren
Angriffen bedroht und dieselbe schon gemisshandelt hätte, wenn er nicht durch
andere Personen daran gehindert worden wäre. In diesen Wuthanfallen sei
namentlich seine Frau und seine eigene Mutter seinen Angriffen ausgesetzt. Das
damals über ihn geführte Charitö-Journal lautete folgendermaassen: „Einfache
Seelenstörung. Alcoholismus chronicus. 4. 1. Patient wurde zwei Tage nach
seiner Entlassung wieder thällich gegen seine Frau und Kinder, so dass von
Neuem seine Einlieferung erfolgen musste. Patient kam ruhig zur Anstalt; die
in dem Attest gemachten Angaben bestreitet er. Am Tage seiner Entlassung
will er ein Glas Glühwein, die folgenden Tage ein Glas Grog getrunken haben,
welche die Ursache seines Tobzustandes waren. Pupillenreaction und Kniephä¬
nomen vorhanden, keine Lähmung am Fascialisgebiet, Zunge wird gerade her-
ausgestreckt, zittert etwas. Tremor manuum vorhanden. St. ist über Zeit und
Ort orientirt, keine wesentlichen Intelligenzdefecte. 11. 1. St. fühlt sich wohl
und benimmt sich ruhig und geordnet, bestreitet aber immer noch die im Attest
und von seiner Frau gemachten Angaben. 17. 1. St. wird unheilbar nach Dall¬
dorf entlassen.“ Von hier wurde am 26. 1. über ihn an die Königliche Staats¬
anwaltschaft berichtet, dass er ein alter Säufer sei, und zwar trinke er schon seit
über zehn Jahren. In trunkenem Zustande bekomme er krankhafte Wuthzustände,
in denen er gewaltthätig werde, nicht wisse was er thue und keine Erinnerung
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Dr. Richter,
an das Gethane habe. Er sei im Allgemeinen etwas geistesschwach und sein Ge¬
dächtnis sei sehr unzuverlässig. Im Sinne des Gesetzes sei er als blödsinnig zu
bezeichnen und bedürfe der Anstaltspflege. Im Januar sagte hier die Frau vom
Patienten aus, dass er immer getrunken hätte und seit zwei Jahren nichts mehr
vertragen könne: schon nicht für 5 Pf. Er war dann immer furchtbar aufgeregt,
besonders gegen seir.e Frau, schimpfte sie io gemeinen Ausdrücken, misshandelte
sie und zerschlug Sachen. Ein solcher Zustand dauerte mitunter Tage lang. Kein
Delirium. In den Zwischenzeiten war Patient auch aufgeregt, zerstreut, in sei¬
nem Ideengang abspringend. Keine sexuellen Verdächtigungen der Frau. Trank
aus Gewohnheit, nicht ans Angst. Oft Kopfschmerzen, besonders wenn er ge¬
trunken hatte; dann fing er an zu toben. In der letzten Zeit schlaflos, keine
schweren körperlichen Krankheiten; von Lues keine Symptome. Vomitus matu-
tinus. Keine Krämpfe, schlechte Lebensverhältnisse.
Auf eine Entlassungsanfrage der Frau vom April wurde von hier aus ge¬
antwortet, dass Patient, vom Spiritusgenuss abgehalten, nicht störend sei und
dem Königlichen Polizeipräsidium wurde am 1. Mai geschrieben, dass St. oft
rückfällig geworden sei, dass der längere Anstaltsaufenthalt wohl Nutzen haben
würde, dass aber eine Beurlaubung, vorausgesetzt, dass die persönlichen Ver¬
hältnisse die Abhaltung von Spirituosen nicht zu sehr erschwerten, zulässig er¬
scheine. Darauf widersprach das Königliche Polizeipräsidium der Beurlaubung,
da die häuslichen Verhältnisse der Ehefrau die Aufnahme des Mannes nicht ge¬
statteten. Auf eine Entlassungsanfrage der Frau im Juni wurde von hier aus
geantwortet, dass der Zustand des St. an verändert geblieben sei und auf eine
zweite Eingabe der Frau in demselben Monat wurde an das KÖnigliohe Polizei¬
präsidium geschrieben, dass eine Beurlaubung des St., der hier ruhig und ge¬
ordnet gewesen, einmal auf kurze Zeit, bei Aussicht auf Vermeidung von Trink-
excessen, zu Bedenken Anlass nicht geben dürfte. Darauf wurde St. im Juli beur¬
laubt. In Dalldorf war er immer fleissig gewesen, zwei Male jedoch musste er von
der Feldarbeit zurück behalten werden; einmal weil er Scandal gemacht, ein
ander Mal weil er. einen Fluchtversuch angestellt hatte.
Bereits im November schrieb nun die Frau St. an die hiesige Direction,
dass sie ihren Mann unmöglich länger behalten könnte, dass sie seit einigen
Woohen schon nicht mehr des Lebens sicher wäre. Er drohe stets mit Halsab-
schneiden und habe sie auch schon zu wiederholten Malen zu würgen versucht.
St. wurde jedoch erst am 2. April 1888 der Anstalt Dalldorf wieder zugeführt.
Hier sagte er am 4. aus, dass er auf Veranlassung seiner Frau durch die
Polizei nach dem Revier und von dort durch einen Wärter nach Dalldort geholt
worden sei. Sie hätten sich wegen eines Mädchens, das seine Frau aufgenommen,
und das sich in seine Angelegenheiten hineingemischt hätte, veruneint. Er habe
sich im Winter mit Schneeschippen beschäftigt. Die Frau habe auch seinen Stief¬
sohn gegen ihn gehetzt: schlage doch dem Stiefvater mit dem Knüppel über den
Kopf. Er sei heftig, wenn er gereizt werde; aber auch seine Frau sei heftig und
beschimpfe ihn in Gegenwart fremder Personen „Dalldorfer Bruder“ etc. Alle
Augenblicke sei sie zu einem Schutzmann gelaufen, um ihn aufzufordern, hinauf
nach ihrer Wohnung zu gehen und den Mann zu ermahnen. Die Wuthanfälle, die
er früher gehabt, seien von seiner Frau übertrieben. Seine Frau habe ihn sogar
mit dem Schrubber geschlagen.
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Zwei motivirte Gutachten über chrouische Alkoholisten.
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Denselben Monat wurde von hier aus an die Königliche Staatsanwaltschaft
berichtet, dass St. ein chronischer Alkoholist sei. der zeitweilig, namentlich wenn
er getrunken. Wuthanfälle bekomme. In der Anstalt, wo er dem Einflüsse des
Alkohols und anderer erregender Momente entzogen sei. verhalte er sich ruhig.
Im Sinne des Gesetzes sei er als blödsinnig zu eraohten. Und im Mai besagt ein
Bericht an die Armendirection, dass St. an pathologischen Kausohzuständen
leide; in denselben sei er für die Folgen seiner Handlungen nicht verantwortlich
zu machen. Hier in der Anstalt führe er sich sehr gut und sei fleissig. Da dem
Trünke ergebene Menschen, wie St., unter ungünstigen äusseren Verhältnissen
sich ausserordentlich schnell und auffällig verschlimmerten, so sei der St. trotz
seiner momentanen guten Führung als dispositionsunfähig zu bezeichnen. In
demselben Monat (13. Mai) wurde hier noch einmal die Frau des St. vernommen.
Sie sagte, dass ihr Mann schon beim Militär immer so aufgeregt gewesen wäre,
sowie seit ihrer Verheirathung 1880. Schon 1880 hätte er immer gleich ge¬
sagt: ich stosse Dioh über den Hänfen. Er wisse nie von was, er möge thun,
was er wolle. Wenn sie sage: Mein Gott, Paul, was hast Du denn gestern wieder
gemacht, — sage er:ihr könnt mir gut was Vorreden; auch schon beim Militär
hätte er nicht gewusst, was er machte, und hätte gesagt, die Colleges redeten
ihm Etwas vor. Ein eigentlicher Trinker sei er nicht; wenn er für 10 Pf. Schnaps
wirklich trinke, dann sei er gleich aufgeregt bei der geringsten Kleinigkeit, der
Kopf werde ibm dann schwer, er setze sich hin und halte ihn, sehe anders aus
und das Auge stiere. Ja er sehe dann nicht nur verändert aus, sehe sich gar nicht
ähnlich. Ehe er im Ootober 1886 nach der Cbaritd kam, hätte er sich einge¬
schlossen und Niemanden mehr in die Wohnung bereingelasson. Da hätte es
der Wirth selbst beantragt, dass er nach der Charite käme, er hätte es ja ge¬
sehen, dass der Mann nicht betrunken war. Nachdem sie ihn damals wieder zu
sich genommen, sei es ein paar Wochen gegangen, dann hätte es wieder so an¬
gefangen. Als er im Decemherl886 des dritte Mal naoh der Charitö gekommen,
sei die Frau am Abend weggegangen, da er ganz ruhig war; als sie wieder naoh
Hause gekommen, hätte er ein Seidel genommen und gesagt: ich werde es Dir
an den Kopf schlagen, wenn Du herunter kommst (er wohnte als Portier im
Keller). Sie hätte ihm nichts getban gehabt. Hinterher bitte er, sie möchte es
nicht übel nehmen, er wolle es nicht wieder thun. Nach der Entlassung aus
Dalldorf im Juli 1887 sei die Geschichte regelmässig alle 4 Wochen wieder auf¬
getreten ; immer sei es den 26. jeden Monats. So wollten sie am 2. Weihnachts¬
feiertage (bei seiner 4. Aufnahme in die Königliche Charitö, 3. 1. 1887) in ein
Theater gehen; als sie nirgends Billets bekamen, sei der Mann so aufgeregt ge¬
worden und hätte gesagt: Ihr wollt mich wohl zum Besten haben, ich lasse mich
von keinem Menschen zum Besten haben und so sei er davon gerannt. Er hätte
die Frau sogar in der Friedrichstrasse schlagen wollen. Einen Monat sei es
übrigens schlimmer aufgetreten als den anderen. — Vor seiner 5. Aufnahme in
Dalldorf im April 1888 hättte er vom Montag an die Woche gewirthsohaftet, die
ganzen 8 Tage vor den Osterfeiertagen, dann komme und gehe der Mann, komme
und gebe; er esse den ganzen Tag nichts und trinke fortwährend Wasser. Kopf¬
schmerzen hätte er sonst weniger geäussert, aber an diesen Tagen stehe er stets
und reibe sich die Stirn. Im Laufe der Jahre sei überhaupt die Sache schlimmer
VfeTfUihffhT. I. gtr. M«d. K. F. LU. 1. g
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Dr. Richter,
geworden. Am 2;'). April d. .). hat Le er zur Frau gesagt, als sie ihn besuchte,
er wäre dieses Mal ganz allein nach Dalldorf gegangen, während er doch that-
sächlieh durch einen Wärter vom Polizeibureau geholt worden war. Nach dem
Polizeirevier sei er allerdings mit dem Schutzmann gutwillig gegangen. Am
ersten Osterfeiertag (den Tag vor seiner zweiten Aufnahme in Dalldorf) sei er
wieder fortgegangen und hätte sämmtliche Thüren aufgeschlossen; das hätte er
schon zum zweiten Male gemacht. Im Januar d. J. sei er daran gewesen, frei¬
willig mit nach Dalldorf zu kommen; er hätte gemeint, sie solle mit ihm Droschke
1. Classe hinausfahren; warum gerade I. Classe wisse sie auch nicht. Als sie ihn
bis zur Hausthüre hatte, sei er nicht mitgekommen. Ihr Mann sage, das sei ein
Erbfehler von ihm, sein Vater sei auch periodisch weggegangen und hätte Alle
verlassen. Die Mutter ihres Mannes hätte immer zu ihm gesagt: Dein Vater war
doch auch so wie Du, wenn auch ruhiger. Alle Schwestern ihres Mannes, ja die
ganze Familie klage über den Kopf; eine Schwester gebe immer nach der Nerven-
klinik. Seine letzte Strafe hätte ihn auch so mitgenommen, wenn er später einen
angestellten Collegen traf, einen Schutzmann oder Telegraphenbeamten, sei er
immer ausser sich gewesen und hätte sich nie über die Sache wegsetzen können.
Am 8. Mai d. J. wurde nun St. nach der Colonie verlegt. Er beschäftigte
sich daselbst fleissig. trank aber manchmal, wenn auch nicht übermässig Wenn
er getrunken hatte, lief er ohne Mütze ganz starr und ohne Bewusstsein im Hofe
umher. Dass er sich jeden Monat einmal in regelmässigerWeise verschlimmerte,
wurde nicht bemerkt ; Patient selbst sagt darüber, dass ihm dieses nicht bewusst
sei, er sei doch kein Frauenzimmer, das seine Periode hätte; er fühle wenigstens
nichts davon, dass es ihm jeden Monat zu einer bestimmten Zeit schlechter
gehen sollte.
Nachdem St. am 23. Juni c. den oben beregten Termin gehabt hatte,
ontwich er am 1. Juli. Am nächsten Tage erschien seine Mutter und erzählte,
dass er sich den Abend vorher bei seiner Schwester eingefunden hätte, sofort
wieder gegangen sei, jedoch ohne Freunde oder seine Frau aufzusuchen. Und
denselben Tag kam ein Brief von der Frau an, nach dem sie selbst nicht wisse,
was ihren Mann gestern mit einem Male so furchtbar erregt hätte (die Frau hatte
ihn in der Colonie besucht); er hätte sich in dem Local, in dem sie sassen, so
sonderbar betragen, dass sie ihm einen kleinen Vorwurf gemacht hätte; da sei er
gleich erregt gewesen und davon gelaufen.
Am 22. Juli c. sagte seine Frau hier aus, St. hätte ihr geschrieben, dass
er sich in Bremerhafen befände.
Wir haben es im Provokaten, wie die Erhebungen und Beob¬
achtungen ergeben, mit einem Säufer zu thun; Provokat trinkt nach
der Angabe, die er bei seiner ersten Aufnahme in Dalldorf machte,
seit 1873, nach der Angabe im Colloquium seit 1874 (in welchem
Jahr er Unterofficier, „Avaneilter“, wurde), den Akten zufolge seit
1878. Wie so oft bei Potatoren, so scheint bei ihm die Trunksucht
Folge eines krankhaften Triebes gewesen zu sein, denn Provokat
stammt aus einer zu Nervenkrankheiten disponirten Familie (sein
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Zwei motiviile Gutachten über chronische Alkoholisieu.
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Vater war ebenfalls Potator, seine Schwestern nervös und ein Onkel
mütterlicherseits ein Selbstmörder). Auch beim Provokaten begann
die Misöre damit, dass er sich durch den Trunk seine Lebensstel¬
lung verdarb. Dann sollte auch ihm der Alkohol ein Sorgenbrecher
seiu; doch wurde das Mittel, welches ihn zeitweise über seine traurige
Lage hinwegtäuschte, sein weiterer Verderb und brachte ihn bis zu
Selbstmordversuchen. Während er uun bereits vor seiner ersten Auf¬
nahme in die Königliche Charite (1885) pathologische Erregtheit be¬
reits nach geringen Quantitäten Alkohol zeigte, bot er doch „nüchtern“
während seiner ersten Detention „nichts Besonderes“ dar; hiermit
stimmt überein, dass bei ihm anfangs schwere motorische Erschei¬
nungen fehlten, und er auch eine gewisse Einsicht in seinen Zustand
hatte. Doch seine Entlassungen missglückten und sein Befinden war
bei den späteren Aufnahmen in die Königliche Charitö immer ein
schlechteres als bei den vorhergehenden.
Auch er litt, wie so viele Potatoren, an dem Unvermögen, sich
der Handlungen, welche er in seinen Erregtheitszustäuden begangen,
zu entsinnen. Dieses Unvermögen charakterisirt namentlich das
Krankheitsbild der Epilepsie, und in der That gehen die Aufgeregt¬
heilszustände der Epileptiker und Alkoholisten oft in einander über
resp. sind einander identisch, wie denn überhaupt der Alkoholismus
anerkanntermassen zur Epilepsie disponirt: dass Alkoholisten epilep¬
tische Anfälle bekommen, ist etwas Allgewöhnliches und letztere
kommen in Wegfall mit der Entziehung des Alkohols. St. litt aber
nicht nur au jenem epileptischen Erinnerungsunvermögen, er scheint auch
an Zuständen gelitten zu haben, welche epileptischen „Krämpfen"
sehr ähnlich waren; seine Frau sagte: er verfällt gelegentlich in
einen starrkraropfähnlichen Zustand, ist nachher ganz schlaff und
schläft läugere Zeit — eine ähnliche Schilderung entwarf sie auch, als
sich Provokat das zweite Mal iu Dalldorf befand. Selbst reine
Epileptiker bieten derartige Zustände nicht selten dar und der Um¬
stand, dass Provokat im Sommer 1886 an Schwarzwerden vor den
Augen litt, wie er Januar 1887 in Dalldorf aussagte, lässt ihn nur
noch mehr als einen Epileptiker erscheinen.
Bei jenem epileptischen Erinnerungsunvermögen sei übrigens noch
bemerkt, dass Alkoholisten allerdings aus Utilitälsrücksichten von
ihnen begangene, ihnen wohl bewusste Handlungen, oft beschönigen
oder zu verschiedenen Zeiten bewusst verschieden erzählen oder später
zufolge von Gedächtnisschwäche unbewusst verschieden erzählen oder
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Original frem
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Dr. Richter,
bewusst ganz ableugnen. Ino Einzelfalle ist es ja nicht immer leicht,
gctiuu zu entscheiden, wieviel hierbei auf ihre Willkür zu setzen ist,
die betreffende Handlung selbst aber, um die es sich dabei handelt,
wird meist straffrei sein, da sie nicht unter freier Willensentschliessung,
sondern im krankhaften Zustande vollbracht wurde. Fällt es übrigens
doch schon einem Geistesgesunden oft nicht leicht, sich aller Hand¬
lungen genau zu entsinnnn, welche er im Rausche beging — während
der Handlung selbst mag noch Ueberlegung genug vorhanden sein,
um sie eventuell strafbar erscheinen zu lassen —, um wieviel schwerer,
ja oft unmöglich, mag es einem chronischen Alkoholisten, also einem
Gchirnkranken sein, sich der in trunkener Erregtheit begangenen Hand¬
lungen zu entsinnen, selbst wenn sie nicht begangen wurden unter
completem Ausschluss aller Vorstellungen.
Ferner sei hier der einfältigen Handlungen gedacht, welche Pro-
vokat vornehmen wollte und welche Alkoholisten last typisch sind,
so hier das Schlachten der Goldfische und Kanarienvögel, das Laufen
nach der Wache in blossen Strümpfen etc. Sie erklären sich alle
aus dem geschwächten Ueberlegungsvermögen.
Dass ihm seine Frau untreu sei (das alte Klagelied der Alkoho¬
listen), hat Provokat nicht behauptet; dahingegen wähnt auch er von
seiner Frau verfolgt zu werden; er bedrohte sie und wurde
gewaltthätig gegen dieselbe. Auch an seiner Trunksucht war sie
schuld.
Sodann scheint Provokat vorübergehend an ebenfalls Säufern
typischen persecutorischen Sinnestäuschungen gelitten zu haben; denn
wenn er sich verschloss, hat er gewiss die Stimmen seiner Verfolger
gehört, mag er es nun vergessen haben oder leugnen. Die perio¬
dischen Verschlimmerungen, welche seine Fray beobachtet haben will,
die aber hier nicht zur Beobachtung kamen, mögen thatsächlich be¬
standen haben, wenn sie sich dem Provokaten auch nicht einprägten;
spricht doch der Volksmund in richtiger Beobachtung von Quartal¬
säufern.
Das ganze Krankheitsbild, wie es aus dem Geschilderten hervor¬
geht, ist typisch; bestimmte klinische Symptome, wie der zeit¬
weilige Kopfschmerz, die zeitweilige Appetitlosigkeit, die zeitweilige
Schlaflosigkeit, seine grosse Unsicherheit in Personalangelegenheiten,
also Gedächtnissschwäche und das Unvermögen zu rechnen (er war
ein alter Unterofficierschüler mit guter Schulbildung!), beweisen die
thatsächlicbe Hirnerkrankung des Provokaten.
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Zwei motivirte Gutachten über chronische Alkoholisten.
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Wissenschaftliche Diagnose: Epilepsia alcoholica.
Provokat ist zufolge der Geistesschwäche, welche sich bei ihm
bereits bemerklich macht und infolge jener Erregtheitszustände mit
ihren Folgen, die sich auch schon nach sehr geringen Quantitäten
Alkohol, oder sogar ohne dieselben, einzustellen pflegen, und wäh¬
rend deren er unter krankhaftem Ausschluss der Uebcrlogung han¬
delt, als blödsinnig im Sinne des Gesetzes zu erachten und als un¬
vermögend die Folgen seiner Handlungen zu übersehen.
5.
Gefotosstftmg aach Kopfverletzung.
Gutachten
aus Anlass der Unfallversicherung.
Von
Dr. Feteraaen-Bwratel,
II. Arst der ProTlniial-IrreDansUlt tu Banslau.
Da die durch Kopfverletzungen erzeugten Geisteskrankheiten in
neuerer Zeit in Folge der Unfallversicherung eine erhöhte Wichtigkeit
gewinnen, so dürfte das nachfolgende Gutachten über eine solche
Geisteskrankheit, die namentlich durch das längere Latenzstadium
nach der Verletzung auffällt, nicht ohne allgemeines Interesse sein.
G esohi oh tsor Zahlung.
Paul Lehmann aus Sagan, geboren den 7.Februar 1855, ist durch Erblich¬
keit nicht zu Seelenstörnngen disponirt. Sein Vater, ein Fabrikarbeiter, starb
58 Jahre alt an Wassersncht; seine Matter im 53. Lebensjahre an einer acut¬
entzündlichen Krankheit. Die Geschwister des Patienten sind sämmtlich geistig
und körperlich gesund. Bis zum 14. Lebensjahre besuchte Lehmann mit gutem
Erfolge die Schule, wechselte, nachdem er die Schule verlassen, zweimal die
Lehrstellung und wurde vom 17. Lebensjahre ab Fabrikarbeiter. Er soll leb¬
haften, bisweilen heftigen Charakters gewesen sein. Nachdem Patient drei .lahro
seiner Militärpflicht genügt hatte, vetheirathete er sich im Jahre 1880. Die Ehe.
die kioderlos blieb, war eine durobans glückliche. Im Anfang der Ehe soll Leh¬
mann nach Angaben seiner Ehefran etwas getrunken, diesem Laster aber auf die
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Dr. Peterssen-Borstel,
dringenden Vorstellungen seiner Frau hin kurze Zeit später völlig entsagt haben.
Die Frau schildert ihren Mann als einen immer gutwilligen und fleissigen, stets
freundlichen und gegen sie liebevollen Menschen.
Im Jahre 1883 ging Lehmann mit Einwilligung seiner Ehefrau nach Berlin,
um dort mehr Geld zu verdienen.
Derselbe war noch nicht ein halbes Jahr in Berlin, als er ganz abgerissen
und ohne alle Sachen zu seiner Frau zurückkehrte, die ihn dann wieder einklei¬
den musste. Er hat während dieses halben Jahres der Frau kein Geld geschickt,
soll in Berlin nur kurze Zeit gearbeitet haben, und dann „durch schlechte Men¬
schen arbeitslos geworden sein“. Weitere Angaben konnte die Ehefrau des p.
Lehmann über den Berliner Aufenthalt desselben nicht machen. Nach seiner
Rückkehr aus Berlin war Lehmann in seinem Verhalten völlig unverändert; viel¬
leicht war er noch etwas frommer geworden, wie früher, — er soll stets „sehr
fromm in Glaubenssachen“ gewesen sein. — Er bekam nach seiner Rückkehr aus
Berlin zuerst Arbeit in einem Kiesschacht, später in einer Saganer Fabrik. In
dieser Fabrik arbeitete Lehmann bis zum Jahre 1884 oder 1885, zu welchem
Zeitpunkte ihm gekündigt wurde. Er habe seine Arbeit nicht ausführen können,
soll ihm nach Angabe seiner Ehefrau als Grund der Kündigung angegeben wor¬
den sein. Im Jahre 1885 will Lehmann — nach seiner eigenen Angabe — in
der Fabrik bei einer Arbeit verunglückt sein, indem ihm ein Eisensplitter in die
Hand kam und ihn eine Zeitlang arbeitsunfähig machte. Als Lehmann die Fabrik
verliess, war die Ehefrau desselben kränklich, und daher beschlossen sie, um es
leichter zu haben, einen Hausirhandel anzufangen. Anfangs ging es mit dem
Handel ziemlich gut, aber bald kamen sie in Folge der massenhaften Concurrenz
in ihren Verhältnissen mehr und mehr zurück. Unter diesen Umständen zogen
sie es vor, den Handel aufzugeben, und sah sich der p. Lehmann wieder naoh
Arbeit um, die er in der Zwirnfabrik von J. D. Gruschwitz und Söhne zu Neu¬
salz a. 0. fand. Diese Firma schildert den p. Lehmann als einen ausserordentlioh
stillen und ruhigen Arbeiter, der äusserst sparsam war und sehr bescheiden in
seiner Ernährung lebte: eigentlich zu schlecht für die immerhin schwerere körper¬
liche Arbeit beim Flachsstapeln etc., die er zu verrichten hatte.
Nachdem Lehmann 9 Tage in der erwähnten Fabrik thätig gewesen war,
wurde er dort am Donnerstag den 10. März 1887 von einem Unfall betroffen. Er
war damit beschäftigt, für die Breclimaschinen passende Flachsbündel zu legen,
als von einer Höhe von ca. 8 Fuss herab durch ein Versehen des Schlossers ein
ca. 4,7 kg schwerer Winkelhebel herabfiel, welcher den Lehmann seitlings am
Hinterkopf traf und dort eine ca. 1 '/ 2 —2 Zoll grosse Wunde verursachte. Der
Verletzte blieb bei völligem Bewusstsein, ging selbst zur Pumpe hinaus, um sich
abzuwaschen, und Hess sich hierauf vom Hechelmeister Hilgner verbinden, dem
er selbst erklärte, dass ihm ganz wohl sei. Er wollte sich auch keinen Kranken¬
zettel geben lassen, sondern nahm seine Arbeit wieder ruhig auf und arbeitete
noch den ganzen Vormittag bis 12 Uhr. Der Kassenführer der Krankenkasse von
J. D. Gruschwitz und Söhne sandte den Patienten jedoch noch an demselben
Tage in das St. Johanniter-Krankenhaus zu Neusalz. Die auf der linken Seite
des Scheitels befindliche tiefe Wunde, die genäht wurde, soll nicht per primam
verheilt sein, sondern mehrere Wochen geeitert haben. Am 29. März verliess er
die Krankenanstalt wieder als „geheilt“ und nahm alsbald seine frühere Be-
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Geistesstörung naob Kopfverletzung.
87
sch&ftigung wieder auf. Die Ehefrau giebt au, sie habe in dem Charakter und
in dem Verhalten ihres Mannes nach der Verletzung bis zu dem später zu er¬
wähnenden Beginn seiner geistigen Erkrankung keine Veränderung gegen früher
bemerkt. Während ihr Mann in Neusalz arbeitete, wohnte sie in Peterswaldau;
alle 14 Tage, wenn Lohntag gewesen, kam er nach Peterswaldau, brachte seinen
Lohn mit und gab jeden Pfennig ab. Im Monat Juli 1887 bokam Lehmann zwei¬
mal „ Krampfzufälle“, von denen früher nie etwas bemerkt worden war. Seit
dieser Zeit wurde er nicht mehr im Maschinensaale, sondern im Flachsspeicher
beschäftigt. Lehmann erzählt selbst über diese Krampfanfälle, dass er eines Mon
tag Nachmittags im Juli plötzlich umgesunken und vielleicht 10 Minuten liegen
geblieben sei; vor diesem Anfulle habe er sich ganz wohl gefühlt, speciell weder
Kopfschmerz noch Schwindel gehabt; während dos Anfalles habe er Nichts von
sich gewusst. Nachdem er wieder zu sich gekommen, sei ihm so schlaff zu Muthe
gewesen, und ein paar Tage später sei der zweite Anfall auf die nämliche Weise
verlaufen. Hierzu erwähnt die Ehefrau, dass ihr Mann im Juli an einem Lohn¬
tage wie gewöhnlich nach Peterswaldau gekommen und sie ihm entgegengegangen
sei. Wie sie ihm entgegenkam, fand sie ihres Maones Aussehen gänzlich ver¬
ändert und sagte: „Du siehst aber schlecht aus“; hierauf habe Lehmann ihr er¬
widert. ich bin krank gewesen, ich habe die Krämpfe gehabt Ausser dem
schlechten Aussehen ihres Mannes ist der Ehefrau des Lehmann damals nichts
Krankhaftes an ihrem Manne aufgefallen. Dann hat p. Lehmann bis zum 8. Sep¬
tember wieder Fabrikarbeit gethan; an diesem Tage meldete er sich krank und
wurde in’s Johanniter-Krankenhaus zu Neusalz gesandt. Doch schon am näohsten
Tage wurde er aus dem Krankenhaus entlassen, weil es nach Angabe des Kran-
kenbausarztes „den Anschein hatte, als ob p. Lehmann geistesgestört sei“ und
Patienten mit dergleichen Krankheiten dort nicht aufgenommen werden dü fen.
Die Fabrikkrankenkasse beabsichtigte deshalb, ihn in dem Krankenhause der
Barmherzigen Brüder in Steinau a. 0. aufnehmen zu lassen; während hierüber
aber die Verhandlungen schwebten, war Patient spurlos verschwunden. Aus einem
Briefe der Fabrikkrankenkasse an die Armendirection Berlin erfahren wir noch
Einiges über das Verhalten des p. Lehmann im Beginn seiner Erkrankung: „Auf
uns machte sein Benehmen jedoch weniger den Eindruck eines wirklich Geistes¬
gestörten, sondern er erschien uns eher als ein schlauer SimulaDt. umsomehr, als
er durchblicken liess, dass er nun als Geisteskranker vollständig arbeitsunfähig
sei, und wegen einer Kopfverletzung, die er am 10. März a. er. bei uns erlitten
hatte, und die ihn nur ganz kurze Zeit arbeitsunfähig gemacht hatte, dauernd
Unterstützung zu beanspruchen habe. Als wir ihm erklärten, dass sich dies fin¬
den würde, für’s Erste wollten wir sehen, ihn zu seiner Heilung nach Steinau
a. 0. in das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder aufnehmon zu lassen, ent-
gegnete or, er wisse schon, was er thun würde. Er ging darauf ruhig nach Haus
in sein Quartier, hat auch wohl einmal den ihn behandelnden Arzt besucht, doch
•ils wir am 14. September die Genehmigung zu seiner Aufnahme in das Kranken¬
haus von den barmherzigen Brüdern erhielten, und wir ihn dorthin bringen woll¬
ten. war er spurlos verschwunden.“ Aus einem Briefe der Krankenkasse vom
12. September 1887 an den Convent der barmherzigen Brüder zu Steinau inter
essirt uns noch (Acten des Magistrats Sagau über den p. Lehmann): „Jetzt plötz¬
lich erklärt er (Lehmann) arbeitsunfähig zu sein und behauptet, dass seine
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Dr. Peterssen-Borstel,
Krämpfe and sein Unwohlsein von der Kopfwunde berrühre. Er beansprucht
eine lebenslängliche Unterstützung und scheint uns einen schwachsinnigen Men¬
schen simuliren zu wollen .... Er soll sich sehr schlecht genährt haben, and
glauben wir selbst, dass er wohl duroh schlechte Lebensweise ziemlich abge¬
schwächt ist.“
Ueber den Beginn der Geisteskrankheit ihres Mannes machte die p. Leh¬
mann zu uns folgende Angaben: Etwa 14 Tage bis 3Woohen, ehe Lehmann in’s
Krankenhaus zu Neusalz aufgenommen wurde, also am 8. September, habe sie
eine Veränderung in dem Verhalten ihres Mannes bemerkt; derselbe war stiller
wie sonst, als wenn er so „simulirte“, und sagte öfter: „es lange nicht mehr
zu“, trotzdem sie damals doch ihr Auskommen hatten; er liess sich aber immer
wieder von der Frau bereden. Ueber den Krankenbausaufenthalt ihres Mannes
weiss die Frau nur anzugeben, dass sie gehört habe, er sei daselbst sehr unruhig
gewesen, habe Bettstellen umgerissen, das Essen nachgesohmissen und sei des¬
halb wieder entlassen worden. Wie die Frau einige Tage später in die Fabrik
von J. D.Grusohwitz und Söhne ging, um sich nach ihrem Manne zu erkundigen,
war derselbe inzwischen bereits spurlos verschwanden. Am 14. September 1887
finden wir den Lehmann in Berlin wieder. Nach dem Gutachten des Arztes am
städtischen Krankenhause zu Sagan, Dr. Liebert, datirt vom 22. Januar 1888,
soll Lehmann in Berlin wegen geistiger Störung (Eindringen in das Königliche
Palais) am 15. September 1887 in die Neue Charitö gebracht worden sein. Hierzu
muss bemerkt werden, dass sich weder in dem Gutachten des Berliner Polizei¬
arztes, noch in den in der Charite und in Dalldorf über den p. Lehmann geführ¬
ten Acten eine Notiz darüber findet, dass der p. Lehmann in das Königliohe
Palais einzadringen versucht habe. Dr. R., der den Kranken in der Stadtvoigtei
untersucht hat, bekundet in seinem Gutachten vom 14. September 1887, dass
der p. Lehmann an Schwachsinn mit melancholischer Gemüthsverstimmung leide,
welche zeitweise und unter dem Einflüsse erregender Umstände sich zur krank¬
haften Aufregung steigere. In der Stadtvoigtei legte Patient Zeiohen allgemeiner
Verworrenheit in Handlangen und Aeusserungen an den Tag. Er rieb sich Stie¬
felschmiere in’s Gesicht und in’s Haupthaar, nahm einem anderen Gefangenen
den Wundverband ab und sagte, das wäre der seine, und erklärte, er wolle zum
Fenster hinausfliegen.
In dem Schluss des Gutachtens wird die Unterbringung des p. Lehmann in
eine Irrenanstalt wegen gemeingefährlicher Geistesstörung für um so mehr ge¬
boten erklärt, da derselbe ohne jegliche Aufsicht und ohne Obdaoh in Berlin
existire, und sich selbst überlassen bald wieder in einen aufgeregten Zustand ge-
rathen und zu gemeingefährlichen Handlungen Veranlassung geben würde. Am
15. September erfolgte die Aufnahme in die Irrenstation der Königlichen Charitä
zu Berlin. Bei der Aufnahme in die Charitd verhielt sich der Patient ruhig. Er
äusserte verschiedene Wahnideen meist religiösen Charakters; er sei von der
Stadtvoigtei in die Charitö gebracht, um Probe zu bestehen; er lebe von Luft und
Wasser: das sei eine Gnade von Jungfrau Maria; er habe augenblicklich kein
Blut; es sei ewiger Frühling, owige Wonne auf der Welt duroh ihn; er habe den
Teufel geschmissen; er wolle zum Kaiser. Diese Wahnideen verblassten bis Ende
September und zu diesem Zeitpunkte war bis auf eine mässige Dementia in dem
Verhalten des Patienten niohts Abnormes mehr zu bemerken. Anfang Ootober
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Geistesstörung nach Kopfverletzung.
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wurde Patient tobsüchtig, redete viel von mysteriösen Sachen, verglich sich mit
Christus, zerriss seine Sachen nnd sass nackend in der Zelle. Fliegen fütternd,
indem er behauptete, die Fliegen wären Teufel, die er bezwungen. Die Krank¬
heitsdiagnose lautete: Paranoia religiöse in Schüben. Dementia.
Am 24. October wurde Lehmann als ungeheilt in die Irrenanstalt Dalldorf
überführt. Die körperliche Untersuchung in Dalldorf ergab an Abnormitäten:
Ueber der Stirn eine strichförmige Narbe, ebenfalls über dem linken Scheitelbein;
dieselben schmerzen weder spontan noch beim Druck. Zunge zittert ein wenig.
Geringer Tremor digitorum. Schienbeine etwas nach aussen geschweift. Die Er¬
nährung des Patienten wird als mässig, seine Musculatur als stark bezeichnet.
Während seines Aufenthalts in Dalldorf äusserte Patient allerlei Grössenideen, er
wäre Branddirector, habe einen feuersicheren Kammgarnanzug von den Herren
Officieren. die bei der Feuerprobe waren, bekommen; sein Name Lehmann habe
sehr viel Werth; ans Lehm mache man Waohsfigurencabinette und Panoptikum.
Daneben bestanden hypochondrische Klagen; er bekomme nicht genug zu essen,
er habe Drücken im Magen und unangenehmes Gefühl im Unterleib. Er sammelte
viel, trug in der Tasobe eine alte Blechbüchse und einen alten Papierumschlag
mit sich herum, um etwas hineinthun zu können, trennte seine Strümpfe auf und
zerstörte eines Tages in der Badestube verschiedene Gegenstände. Sein Beneh¬
men wird als fortgesetzt grob und albern bezeichnet. Am 12. December klagt
Patient über Kopfschmerzen und Schwindel: die Arme seien ihm so matt. Er
macht in seinen Reden einen verworrenen Eindruck; am 29. December wurde
Lehmann in das städtische Krankenhaus zu Sagan überführt. Dort musste er in
den ersten 3 Wochen isolirt gehalten werden, weil er Decke und Leibwäsche zer¬
riss. Schüsseln zerschlug, Theile der Zelle zerstörte und in gefährlicher Weise
Aerzte nnd Wärter bedrohte. Seit dieser Zeit wurde der Patient zwar allmälig
ruhiger, äusserte jedoch noch allerlei Wahnideen: er sei in Dalldorf auf Bretter
gebunden und auf glühende Kohlen gelegt und vergiftet worden.
Mitunter fuhr er auf und sohrie: „Ach Gott, der Balken fällt mir auf den
Kopf u oder „jetzt kommen die Hunde schon wieder“. In der letzten Zeit vor
seiner Ueberführung nach Bunzlau verhielt er sioh vollkommen ruhig, schrieb
öfters Briefe an den Polizeiinspector, um seine goldene Freiheit wieder zu er¬
langen, machte auch Entschädigungsansprüche für seine im Dienste davongetra¬
genen Verletzungen geltend und bat um Untersuchung der Wunden. Aus dem
Gutachten des Dr. Liebert, Arztes am städtischen Krankenhause zu Sagan, vom
22. Januar 1888 ist noch hervorzuhebon: Lehmann redet jetzt spontan meist ge¬
ordnet selten abspringend. Hat Gefühl für Angehörige und Religion. Gedächt¬
nis fast intact, mit Ausnahme der Ereignisse, welche in Berlin seine Unterbrin¬
gung in die Irrenanstalt veranlassten. Auch sonst nooh nicht klare Einsicht in
seinen Krankheitszustand. Seine Umgebung beurtheilt er jetzt richtig und hat
keinerlei Sinnestäusohuugen.
Am 13. Februar 1888 wurde p. Lehmann in die Piovinzial-Irrenanstalt
Bunzlau überführt.
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Dr. Peterssen Börstel,
Befund und Krankenjournal.
Die körperliche Untersuchung des p. Lehmann in der hiesigen
Anstalt ergab an Abnormitäten: Auf der linken Seite des Scheitels
etwa in Handbreithöhe über der Ohrmusehel und ca. 2 cm rückwärts
von dieser eine 3—4 cm lange, sich von vorn nach hinten erstreckende,
weisse, nicht mit dem Knochen verwachsene, nicht druckempfindliche
und auch für stärkeres Klopfen nicht empfindliche Narbe; beiderseits
etwas angewachsene Ohrläppchen; mehrfach cariöse und defecte Zähne;
am linken Unterschenkel Varicen; eine kleine Narbe an der Innen¬
fläche der Basis der ersten Phalange des rechten vierten Fingers;
Beweglichkeit der Finger der rechten Hand weder activ noch passiv
behindert. In psychischer Beziehung zeigte Lehmann hier anfangs
Symptome, die man unter Berücksichtigung der voraufgegangenen
heftigen Aufregungszustände wohl am Einfachsten als ein nachfolgen¬
des Stadium der Erschöpfung bezeichnen kann. Trotz völlig ruhigen
und äusserlich geordneten Verhaltens konnte man doch bei näherer
Beobachtung in dem Gemüthszustande des Patienten eine gewisse De¬
pression nicht verkennen.
Er war still und einsilbig, in seinen Antworten wortkarg, ver¬
kehrte wenig mit seinen Mitkranken, ging, wenn er unbeschäftigt war,
viel für sich auf dem Corridor auf und nieder.
In Gesprächen beantwortete er zwar die an ihn gestellten Fragen
nach seinen persönlichen und nach allgemein bekannten Verhältnissen
richtig; sein Gedächtniss für die Vorgänge während der Krankheit
war jedoch recht lückenhaft, und schliesslich bestand völliger Mangel
an Krankheitseinsicht, indem er behauptete, sowohl jetzt wie früher
gesund gewesen zu sein, ohne angeben zu können, warum er denn
als gesunder Mensch in verschiedenen Irrenanstalten gewesen sei und
warum er hierher gekommen sei.
„Das Uebrige weiss ich nicht.“ Allmälig wurde Patient reger
und gesprächiger, seine Bewegungen wurden frischer und lebendiger,
sein Mienenspiel lebhafter und es stellte sich wenigstens zum Theil
Krankheitseinsicht ein. Er macht ■ jetzt über den Ausbruch seiner
Krankheit folgende Angaben: Er habe an dem Tage, ehe er in das
Neusalzer Krankenhaus aufgenommen sei, so einen schlechten Kaffee
von seiner Wirthin bekommen, er habe dann so einen Groll in sich
gehabt, weil die Wirthin tüchtig gezankt habe, ihm sei dann die
Galle in’s Blut übergetreten und er sei kränklich und elend geworden,
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Geistesstörung nach Kopfverletzung.
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habe sich einen Krankenzettel geben lassen und sei in’s Krankenhaus
gegangen. Nachdem er aus demselben nach einem Tage wieder ent¬
lassen sei, habe er seine in Berlin dienende Schwester, die er lange
nicht gesehen habe, einmal besuchen wollen und sei deshalb nach
Berlin gereist. In Berlin habe er die Schwester nicht finden können
und sei durch das Umhcrlaufen ganz schwach und elend geworden,
so dass er kaum mehr habe fortkönnen. Die Nächte habe er auf
Bänken zugebracht; da er fast gar nicht mehr fortkonnte, sei er
schliesslich auf’s Polizeirevier gegangen und habe sich dort gemeldet;
vom Polizeirevier sei or in die Hausvoigtei geführt, dort untersucht
und dann in einem grünen Wagen nach der Charite gebracht worden.
Er sei in die Charite gekommen, weil man ihn doch für geisteskrank
gehalten haben müsse. Für die Vorgänge in der Charitö und in Dall¬
dorf hat Patient nur eine undeutliche Erinnerung. Er erinnert sich
zwar, dass er dort aufgeregt gewesen ist, will jedoch nur bösartig ge¬
worden sein, weil er von den Wärtern gemisshandelt und in eine
Zelle gesperrt sei. Von den geäusserten Wahnvorstellungen weiss er
nichts mehr. Für die Vorgänge in Sagan hat Patient deutlichere Er¬
innerung. Er motivirt jedoch seinen tobsüchtigen Erregungszustand
damit, dass Niemand zu ihm gekommen sei, deshalb habe er Wirt¬
schaft gemacht; die Decken habe er zerrissen und die Schüsseln zer¬
schlagen. um was vorzuhaben. Hierher sei er gekommen, damit die
Sache hier, nachdem er gesund geworden sei, zu Ende geführt werde.
Die Ursache seiner Krankheit will er selbst in der ertittenen Kopf¬
verletzung suchen, da er früher nie krank gewesen sei.
Lehmann, der jetzt bis auf die eben beschriebene undeutliche Er¬
innerung an mannigfache Vorgänge während seiner Krankheit und bis
auf einen theilweisen Mangel an Krankheitseinsicht ein völlig normales
Verhalten zeigt, ist am 2. Juni 1888 nach Sagan entlassen worden.
Er hat in der oben genannten Fabrik wieder Arbeit gefunden, sorgt
für seine Familie und befindet sich völlig wohl.
Rückblick und Gutachten.
Recapituliren wir nochmals kurz die wichtigsten Punkte dieser
Krankengeschichte, so sehen wir den p. Lehmann am 10. März 1887
in der Fabrik von J. D. Gruschwitz und Söhne durch einen aus be¬
trächtlicher Höhe herabfallenden Winkelheber eine Kopfverletzung er¬
leiden. Die Kopfverletzung hinterlässt, nachdem die Wunde in etwa
drei Wochen verheilt ist, scheinbar keinerlei Folgen für den Patienten»
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92
l)r. Peterssen- Börstel,
indem derselbe seine Arbeit in gewohnter Weise wieder aufnimmt und
sich ganz wohl fühlt. Dann treten plötzlich im Juli desselben Jahres
zweimal epileptiforme Anfälle auf, und am 8. September wird im
städtischen Krankenhause zu Sagau eine Seelenstörung constatirt,
deren Beginn wenigstens 14 Tage bis 3 Wochen vor diesem Termine
zu verlegen sein dürfte, da seit jenem Zeitpunkte die Frau bei ihrem
Manne Charakter Veränderung und hypochondrisch-melancholische Wahn¬
ideen bemerkt hat.
Gehen wir nunmehr zu der Frage über, ob die Geisteskrankheit
des p. Lehmann mit dessen Verletzung vom März vorigen Jahres in
einem ursächlichen Zusammenhänge steht, so haben wir zunächst zu
prüfen:
Ob schon vor der eventuell als Ursache anzunehmenden Kopf¬
verletzung eine psychische Störung beim Lehmann vorhanden
gewesen ist, —
zweitens, ob eine Prädisposition zu Geisteskrankheiten beim Leh¬
mann stattfindet und —
drittens, ob ausser der Kopfverletzung in dem Vorleben des
Lehmann ursächliche Momente aufzufinden sind, welche Seelen¬
störungen hervorzurufen vermögen.
Die erste Frage muss entschieden verneint werden. In der gau-
zen Vorgeschichte des Patienten ist kein Punkt aufzufinden, der daran
denken liesse, dass Lehmann vor der Kopfverletzung geistesgestört
gewesen sei. Die Frau schildert ihren Mann als einen immer gut¬
willigen, stets freundlichen und gegen sie unverändert liebevollen
Menschen, und die Firma J. D. Grüschwitz und Söhne stellt ihm das
Zeuguiss eines ausserordentlich stillen und ruhigen Arbeiters aus, der
äusserst sparsam war und sehr bescheiden lebte.
Ferner ist p. Lehmann durch Erblichkeit nicht zu Seelenstörun¬
gen disponirt, wie aus dem Gutachten des Herrn Dr. Liebert vom
22. Januar 1888 erhellt. Wohl aber ist eine individuelle Disposition
nicht ganz von der Hand zu weisen. Im Vorleben des Lehmann be¬
finden sich zwei dunkle Punkte, die für ein labiles Gleichgewicht in
seiner psychischen Anlage sprechen. Der eine ist die halbjährige Ver¬
schollenheit in Berlin 1883, wo er durch schlechte Menschen arbeits¬
los geworden sein will und von wo er ganz abgerissen zu seiner Frau
zurückkommt. Der andere ist die Neigung zum Trunk, die sich in
der ersten Zeit der Ehe, also etwa 1881, gezeigt hat, von der er
dann aber nach übereinstimmendem Zeugniss seiner Ehefrau und
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Geistesstörung nach Kopfverletzung.
‘J3
der Arbeitgeber gelassen hat. Beide Umstände sprechen dafür, dass
Lehmann wohl eine gewisse verminderte Widerstandskraft, folglich
eine leichte individuelle Prädisposition besitzt.
Bei der dritten Frage, betretfend andere ursächliche Momente,
müssen wir nochmals auf die Thatsache, dass Patient früher getrun¬
ken haben soll, eingehen, und auch den Punkt erörtern, der von
der Firma J. D. Gruschwitz und Söhne als Ursache der Geistesstö¬
rung betrachtet zu werden scheint: die schlechte Ernährung des
Patienten. Als directo Ursache der Seelenstörung kann der Alkoho¬
lismus beim p. Lehmann mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Ab¬
gesehen davon, dass durch Alkohol hervorgerufene Krankheitsbilder
ein ganz anderes Gepräge zu haben pflegen, wie das bei dem p. Leh¬
mann beobachtete, ist es wohl ausgeschlossen, dass ein Mensch, der
7 Jahre vorher „etwas“ getrunken haben soll, nachdem er 7 Jahre
völlig solide gelebt und ein durchaus normales Verhalten gezeigt,
plötzlich an alkoholistischer Geistesstörung erkranke. Auch die
schlechte Ernährung ist als Ursache der Geistesstörung beim p. Leh¬
mann auszuschliessen. Es ist zwar constatirt, dass körperliche Krank¬
heiten, welcho die Ernährung schwer beeinträchtigen, dass wiederholte
Blutverluste, Inanition das Auftreten geistiger Krankheiten zu be¬
günstigen, resp. dieselben hervorzurufen vermögen. Diese Seelcn-
störungen pflegen aber zunächst eine Erhöhung der nervösen Erreg¬
barkeit und schliesslich Gemüthsstumpfheit und Auftreten völliger
Apathie zu bewirken (Kraepelin). Dies Krankheitsbild deckt sich
also in keiner Weise mit dem beim p. Lehmann beobachteten; ferner
pflegen durch chronische Ernährungsstörungen keine epiieptiformen
Anfälle zu entstehen, und schliesslich kann man überhaupt doch nicht
bei einem Arbeiter von einer schweren Beeinträchtigung der körper¬
lichen Ernährung sprechen, wenn derselbe bis zu seinem Verfall in
Geisteskrankheit schwere körperliche Arbeit und zwar, wie man an¬
nehmen muss, zur Zufriedenheit geleistet hat; da sonst doch ent¬
schieden in dem Zeugniss des Fabrikherrn, das ihn als einen ausser¬
ordentlich ruhigen und stillen Arbeiter hinstellt, der Thatsache, dass
er seiner Arbeit nicht mehr habe genügen können, Erwähnung gethan
wäre. Auch hat, wie oben erwähnt, die Ehefrau den p. Lehmann erst
nach den erlittenen Krampfanfällen schlechter aussehend gefunden.
Es bleibt somit von ursächlichen Momenten im Vorleben des
Patienten, die eine Geisteskrankheit hervorzurufen vermögen, nur übrig
die erlittene Kopfverletzung.
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Dr. Poterssen-Börstel.
Dass durch Kopfverletzungen Geistesstörungen hervorgerufen wer¬
den können, ist eine wissenschaftlich feststehende Thatsache, und zwar
verdient ausdrücklich hervorgehoben zu werden, dass auch Kopfbeschä¬
digungen, die entweder gar keine oder nur sehr geringe äussere Ver¬
letzungen setzten, wie wissenschaftlich feststeht, Seelenstörungen im
Gefolge haben können.
Hiernach betrachtet, ist es eo ipso nicht nur möglich, sondern
sogar wahrscheinlich, dass — bei dem Mangel sonstiger ätiologischer
Momente — die Ursache der Seelenstörung des p. Lehmann in der
erlittenen Kopfverletzung zu suchen ist.
Man pflegt meistens die nach einer Verletzung entstehenden
Seelenstörungen einzutheilen in primär-traumatisches und in secundär-
traumatisches Irresein. Da im Falle Lehmann die Geistesstörung nicht
direct im Anschluss an die Kopfverletzung entstanden ist, kann sie
nicht zur Gruppe des primär-traumatischen Irreseins gehören. Bei den
spät nach einer Verletzung auftretenden Seelenstörungen sind, fast
regelmässig in der Zeit, die zwischen der Kopfverletzung und dem
Ausbruche der eigentlichen Geistesstörung liegt, sogenannte Prodromal¬
erscheinungen vorhanden, vornehmlich Geraüthsveränderungen, Schwin¬
del, Kopfschmerzen, subjective Sinneserapfindungen und so weiter.
Diese Prodromalersoheinungen sind bei der Beurtheilung des even¬
tuellen Zusammenhanges einer Geistesstörung mit einer Kopfverletzung
um so wichtiger, da sie gleichsam die Brücke bilden, welche von der
Kopfverletzung zur Seelenstörung führt, und da sie uns sonach sichere
Schlüsse auf den Zusammenhang der Geistesstörung mit der Kopfver¬
letzung gestatten.
Im Falle Lehmann fehlen monatelang alle derartigen Prodromal¬
erscheinungen. Deswegen ist aber der Zusammenhang mit einer er¬
littenen Kopfverletzung nicht auszuschliessen, weil es »einige wohl
constatirte Fälle giebt, in denen nach einem wirklich psychisch freien
Intervall die Geistesstörung ohne ein occasionelles Moment auftrat,
und auch durch die Section der Zusammenhang zwischen ihr und einer
früher vorhandenen Kopfverletzung bewiesen werden konute“ (Guder).
Zwischen die Kopfverletzung und das Auftreten der eigentlichen
Geistesstörung mitten hinein fallen die beiden epileptiformen Anfälle.
Sie geben uns den ersten Beweis von einer Schädigung des Central-
norvensystems durch die Kopfverletzung und sind somit als Prodro-
raalerscheinung der nachfolgenden Psychose zu betrachten. Auch
sprechen sie zu Gunsten der Annahme eines Zusammenhangs der
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Geistesstörung nach Kopfverletzung.
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Geistesstörung des p. Lehmann mit der erlittenen Kopfverletzung, da
nach wissenschaftlichen Erfahrungen gerade epileptische Anfälle nicht
selten nach und in Folge von Kopfverletzungen zur Beobachtung ge¬
langen und man durchaus berechtigt ist, dieselben beim Mangel son¬
stiger ätiologischer, die Epilepsie begünstigender Momente mit höch¬
ster Wahrscheinlichkeit auf die erlittene Kopfverletzung zurückzu-
fuhren; auch spricht hierfür, dass Lehmann weder früher jemals an
epileptischen Anfällen gelitten hat, noch diese Anfälle seitdem jemals
wiedergekehrt sind.
Aus der Form der Geistesstörung selbst lassen sich zwar nach
Angabe verschiedener Autoren keine absolut sicheren Schlüsse ziehen»
da „die nach Kopfverletzungen folgenden Geistesstörungen keineswegs
eine scharf charakterisirte Species bilden, sondern den verschiedensten
Psychosen angehören, die in Verlauf und Ausgang wesentlich diffe-
riren“ (Guder).
Immerhin werden doch allgemeine Züge der nach Kopfverletzun¬
gen entstehenden Psychosen erwähnt; so ein das psychische Krank¬
heitsbild durchsetzender schwachsinniger Zug, eine grosse gemüthliche
Reizbarkeit, Neigung zu Schwindelanfällen, subjective Empfindungen,
eigenthümliche Gefühle in den Gliedern, im Unterleib, in der Brust,
Kopfschmerzen (Guder). Prüfen wir nunmehr das Krankheitsbild des
p. Lehmann auf diese gemeinsamen Züge hin, so finden wir darin
fast alle angeführten Symptome in ausgeprägtem Maasse wieder. Der
das psychische Krankheitsbild durchsetzende schwachsinnige Zug tritt
beim p. Lehmann markant hervor, wie aus dem Gutachten des Dr. R.
vom 14. September 1887, „Schwachsinn mit melancholischer Gemüths-
verstimmung“, ferner aus der während der Beobachtung des p. Leh¬
mann in der Irrenstation der Charite dort gestellten Diagnose: Para¬
noia reiigiosa, Dementia. — evident hervorgeht, und auch in den im
Dalldorfer Journal fixirten schwachsinnigen Grössenideen und in dem
dort beobachteten lebhaften Sammeltrieb weitere Bestätigung findet.
Mit -der grossen gemüthliehen Reizbarkeit“ kann man wohl das im
Dalldorfer Krankenberichte journalisirte grobe und alberne Benehmen,
das entschieden für Reizbarkeit des Gemüths spricht, in Parallele
setzen. Die Neigung zu Schwindelanfällen finden wir im Dalldorfer
Journal vom 12. December 1887 fixirt; auch über Kopfschmerzen
klagt der Patient nach demselben Journal, und sehr charakteristisch
und auffallend ist endlich die Uebereinstimmung zwischen „den eigen-
thümlichen Gefühlen in den Gliedern, im Unterleib, in der Brust“
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Dr. I'et erssen- Börstel.
und den Aufzeichnungen des Dalldorfer Journals: „Klagt über Drücken im
Magen und unangenehmes Gefühl im Unterleib, die Arme seien ihm so matt,
äussert fortgesetzt hypochondrische Klagen.“ Sonach zeigt das Krank¬
heitsbild, das der p. Lehmann geboten, in seinen Symptoraon vielfach
eine hochgradige Uebereinstimmung mit denjenigen Zeichen, die als
gemeinsame Züge der nach Kopfverletzungen entstehenden Psychosen
angeführt werden, wodurch noch die Wahrscheinlichkeit wächst, dass
die Seelenstörung des p. Lehmann auf die erlittene Kopfverletzung
zurückgeführt werden muss. Unter Berücksichtigung der vorstehenden
Ausführungen müssen wir demnach zu dem Schlüsse kommen, dass
bei dem Mangel jedes anderen ursächlichen Momentes, bei dem Auf¬
treten von epileptiformen Anfällen und bei der Form der Seelen¬
störung des p. Lehmann, die in ihren Symptomen hochgradige Ueber-
einstiramung mit denjenigen Zeichen zeigt, die als gemeinsame Züge
der nach Kopfverletzungen entstehenden Seelenstörungen aufgeführt
werden, es als höchst wahrscheinlich zu erachten ist, dass die Geistes¬
krankheit des p. Lehmann mit dessen Verletzung vom März vorigen
Jahres in einem ursächlichen Zusammenhänge steht.
Die leichte individuelle Prädisposition, die wir oben erwähnt
haben, kann dabei nur als ganz allgemeine Basis für die Entwick¬
lung der Psychose betrachtet werden und vermindert die Wichtigkeit
einer bestimmten Ge 1 egenheitsUrsache in keiner Weise.
Mit absoluter Sicherheit hätte sich das Abhängigkeitsverhältniss
zwischen Kopfverletzung und Seelenstörung im Falle Lehmann be¬
weisen lassen, wenn im baldigen Anschluss an die Kopfverletzung be¬
stimmte Symptome von Geistesstörung aufgetreten wären; da aber
eine längere angeblich geistig normale Zwischenzeit zwischen der Kopf¬
verletzung und dem Ausbruche der Geisteskrankheit liegt, müssen wir
unser Gutachten dahin abgeben, dass cs mit höchster Wahrscheinlich¬
keit anzunohmen ist, dass die Geisteskrankheit des p. Lehmann mit
dessen Verletzung vom März vorigen Jahres in einem ursächlichen
Zusammenhänge stehe.
Für die gütige Erlaubniss zur Veröffentlichung vorstehenden Gut¬
achtens gestatte ich mir, meinem hochverehrten Chef, Herrn Director
Dr. Sioli, meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
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6 .
Der lypaetisMs ii ftreasiseher Besiehaag.
Von
Dr. A. Sehnita in Bonn a./Rh.
'Nach einem auf der 61. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu
Köln a./Rb. in der Section für gerichtliche Uedioin gehaltenen Vortrage.)
Karze Zeit, nachdem Mesmer im Jahre 1778 dem „andank¬
baren“ Wien den Rücken gekehrt and den Schauplatz seiner Wunder-
thaten nach Paris verlegt hatte, verbreitete sich in der Seinestadt das
Gerächt, in dem Hause des Herrn Mesmer kämen bei den magne¬
tischen Proceduren Anstand und gute Sitte arg in’s Gedränge. Dem
»on dit“ folgte auf dem Fasse eine Denunciation bei Hofe, so dass
König Ludwig XVI. sich veranlasst sah, eine besondere Commission
mit dieser Angelegenheit zu betrauen. Der mit der Untersuchung be¬
auftragte Polizeilieutenant stellte an Deslou, den Helfershelfer Mes-
mer’s, unter anderen verschiedene Fragen, welche sich auf den
sexuellen Missbrauch der magnetisirten Personen bezogen. Die Ant¬
wort fiel bejahend aus, d. h. Deslou sagte und gab zu, dass eine
magnetische oder in Krise befindliche Frau leicht missbraucht werden
könne. Der Zeuge ging weiter und folgerte, dass deshalb nur Aerzte,
welche durch ihren Stand zur Ehrenhaftigkeit verpflichtet seien, das
Recht und Vorrecht haben dürften, den Magnetismus auszuüben’).
Um mich mit dem Leser und besonders den älteren Herren Collegen
zu verständigen, so nehme ich an — und dieses ist doch wohl
die allgemein ärztliche Ansicht —, dass der vor, durch und nach
Mesmer cultivirte animalische Magnetismus und der moderne Hypno¬
tismus identisch sind. So sagt auch M. Crocq*): „. . . il est övident
que ces deux choses — le magnötisme animal et l’hypnotisme — se
confondent. Ce qu’on nomme aujourd’hui hypnotisroe c’est ce que...
*; ofr. Gilles de la Tourette, Der Hypnotismus und die verwandten
Zustände vom Standpunkte der gerichtlichen Medioin. Autoris. deutsche Ueber-
setzong. 1889. S. 9.
*) Bulletin de 1’acaddmie royale de medecine de Belgique. IV. Serie. —
Tome 11. No. 7. Anode 1888. S. 585.
V|«n«ljahni6br. f. |«r. Mid. N. F. L*1I. 1.
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98 Dr. Schm itz,
on appelait le magnötisme animal. Ce sont choses absolument iden-
tiques. “
Sowohl aus der eben mitgetheilten Pariser Untersuchung und
nicht weniger aus den einschlägigen literarischen Arbeiten der da¬
maligen Zeit ersehen wir, dass gleich bei dem Emporblühen des ani¬
malischen Magnetismus auch auf die mit demselben verbundenen
Nachtheile aufmerksam gemacht wurde, es war bekannt, dass der¬
selbe in den Händen des erfahrenen Arztes ein Heilmittel für manche
Krankheitszustände darstelle, in den Händen des unerfahrenen, unge¬
bildeten und unwissenschaftlichen Amateurs oder Charlatans ein ebenso
gefährliches, die Gesundheit des Geistes und des Körpers bedrohendes
und schädigendes Agens, dem leichtsinnigen oder böswilligen Unter¬
nehmer ein Mittel zur Erreichung seiner verbrecherischen Absichten
werden könne.
In der wissenschaftlichen Ergründung der magnetischen bez.
hypnotischen Erscheinungen sind die deutschen Forscher hinter den
Ausländern nicht zurückgeblieben und haben die Arbeiten der letz¬
teren aufmerksam verfolgt. Das zeigt sich gleich beim ersten Blick
in die betreffende Literatur. Von einer absichtlichen Vernachlässigung
des Auslandes, wie es uns vorgeworfen worden ist, kann gar keine
Rede sein. Aber auf der anderen Soite glaube ich sagen zu dürfen,
dass es bei uns heute noch gerade so ist, wie zur Zeit Mesmer’s,
dass unser Blut viel zu kalt ist und zu langsam rollt, um im ersten
Augenblick alles bona fide hinzunehmen, was als wissenschaftliches
Material zu importiren versucht wird, dass gerade die deutschen
Männer, Dank ihrer gründlichen und exacten Forschungen, viel zu
selbstständig sind, um sich vom Auslande imponiren zu lassen. Dieses
war mehr weniger in früheren Zeiten so, dadurch hat sich in unseren
Tagen die deutsche Wissenschaft so glänzend, wenn auch unter trau¬
rigen Verhältnissen bewährt und wir wollen hoffen, dass sie diesen
guten Ruf bewahren wird.
Unsere medicinischen Schulen gingen zu Anfang dieses Jahr¬
hunderts mit dem thierischen Magnetismus kritisch zu Werke und
wenn das Problem damals ebenso wenig wie heute vom rein ärzt¬
lichen Standpunkte gelöst werden konnte, so machten die tüchtigsten
Männer der Wissenschaft doch wenigstens den Versuch, die vielen un¬
antastbaren Phänomene zu ergründen und wissenschaftlich zu erklären.
Die besten ärztlichen, physiologischen und philosophischen Journale
öffneten gerne, zuweilen freilich zu leicht, ihre Spalten für Arbeiten
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung.
99
auf diesem Gebiet. Lesen wir Reil’s Archiv, durchblättern wir
Hufeiand’s Journal, studiren wir Schelling’s Jahrbücher, überall
finden wir das beste Zeugniss für das edle, rein wissenschaftliche
Streben vieler deutschen Aerzte und Naturforscher der damaligen Zeit,
den thierischen Magnetismus genauer zu erforschen. Den fremd¬
ländischen Auswüchsen und fränkischen Spielereien traten die ge-
achtetsten und namhaftesten Kliniker der deutschen Hochschulen ent¬
gegen. Unter den vielen will ich nur zwei mit Namen nennen: zuerst
Christian Friedrich Nasse, Professor und Director der medici-
nischen Klinik der Rheinischen Hochschule, welcher ebenso wie der
portugiesische Abb6 de Faria') die magnetischen Manipulationen,
das Bestreichen und Berühren des Mediums im Gegensatz zu Mes¬
mer und Anderen für völlig überflüssig erklärte und deu festen Willen
und die psychische Einwirkung des Magnetiseurs für allein ausreichend
hielt. Mehr wie einer suchte der Bonner Kliniker die an das Wunder¬
bare grenzenden psychologischen Erscheinungen physiologisch zu er¬
klären. ln seiner Abhandlung: „Ueber das Schauen in die Zukuuft
beim magnetischen Schlafwachen“ begrenzt er scharf dieses von ande¬
ren Experimentatoren so märchenhaft ausgedehnte Vermögen des Som¬
nambulismus. Von gleichem Ansehen als Forscher nach der Wahrheit
in der Wissenschaft nenne ich den Verfasser der Makrobiotik, den
unsterblichen Hufeland, welcher den Magoetiseurs scharf auf die
Finger sah und die Angaben über Hellsehen, die Clairvoyance der Ge¬
brüder Puysögur mit ihren phantastischen und abenteuerlichen Er¬
klärungen für Täuschung oder Betrug erklärte*). Das herrlichste und
beste Zeugniss stellte den deutschen Forschern aus Husson als
Vorsitzender des Ausschusses der Academie royale de mödecine in
seinem Berichte über den thierischen Magnetismus vom 13. December
1825*). Der Franzose schliesst mit einem Appell an das französische
Nationalgefühl: .Alle berühmten Männer des Nordens,“ sagt er,
.haben sich mit dem Magnetismus beschäftigt und ihre Meinung
darüber gebildet. Ist es nicht Ehrensache für die französischen Aerzte
nicht hinter den deutschen Aerzten zurückzubleiben in der Erforschung
dieser Erscheinungen. Dank diesen Forschungen hat man in jenen
') De la cause du sommeil luoide ou 6tode la nature de l’bomme. par
l’abbd de Faria. Paris 1819. Tome l, p. 41. Ref. Gilles de la Tourette,
A. a. 0. S. 19.
*) Haeser, Lebrboob der Gesohichteder Medioin. Jena 1881. II.Bd. S.788.
s ) Gilles de la Tourette, A. a. 0. S. 98.
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Dr. Schmitz
Ländern die Anwendung des Magnetismus gesetzlich regeln können.. . .
Ist nicht endlich die Zeit gekommen, wo die französische Medicin be¬
freit von Zwang . . . selbst zu untersuchen und zu beurtheilen anfangen
darf, was an Thatsarhen von Männern bezeugt wird, deren Wahrhaftig¬
keit, Unabhängigkeit und Talent die ganze Welt ihre Huldigung dar-
bringt! **
Einen neuen Aufschwung schien der thierische Magnetismus unter
dem Namen des Hypnotismus im Jahre 1841 zu nehmen durch den
englischen Forscher und Chirurgen James Braid in Manchester, zu¬
mal der hypnotische Zustand wegen seiner anästhesirenden Erschei¬
nungen geeignet erschien, in die Chirurgie eingeführt zu werden. In-
dess konnte Braid’s Hypnose nicht in die Schranken treten, mit dem
Chloroform, welches im Jahre 1846 zuerst von Simpson in Edin-
burg als Anaestheticum bei Operationen empfohlen wurde, mit einem
Mittel, bei dessen Anwendung die Herbeiführung des erwünschten
Schlafes von dem Chirurgen und nicht von der Disponibilität des
Patienten abhängig war.
Der schlummernde Magnetismus trat wieder auf die Weltbühne
im Jahre 1879 besonders in Folge der Schaustellungen des dänischen
Impresario Carl Hansen und Anderer, durch welche deutsche For¬
scher, unter ihnen an erster Stelle Rudolf Heidenhain, Professor
der Physiologie in Breslau, bewogen wurden, sich mit den Erschei¬
nungen des Hypnotismus wissenschaftlich zu beschäftigen und für die
Phänomene eine physiologische Erklärung zu suchen. In Heiden-
hain’s Fussstapfen traten Andere, welche ich hier nicht alle nennen
kann und will; und heute findet man von diesem oder jenem For¬
scher Mittheilungen fast in jedem ärztlichen Tageblatt. Also zurück¬
geblieben in der wissenschaftlichen Erforschung des Hypnotismus sind
wir keineswegs. Aber die von Liögeois angeregte Frage der Be¬
ziehungen des Hypnotismus zum Civil- und Kriminalrecht, welche
in den letzten 5 Jahren Gegenstand lebhafter Erörterung war, und an
deren Discussion sich als französische Vertreter des raedico-legalen
Standpunktes besonders Charcot, Brouardel, Mesnet und Gilles
de la Tourette betheiligten'), ist von anderen Forschern, besonders
solchen der Nancy er Schule, in falscher Weise beantwortet worden.
Deshalb dürfte es wohl der Mühe sich lohnen, offen Stellung zu dieser
') Alb. Freiherr von Schrenck-Notzing, Ein Beitrag zur therapeu¬
tischen Verwerthung des Hypnotismus. Leipzig 1888. S. 28.
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung. 101
Frage zu nehmen und den Hypnotismus gerade in forensischer Be¬
ziehung näher zu beleuchten.
Während de la Tourette die Hypnose als Therapeuticura nur
auf die Hysterie mit ihren mannigfachen Erscheinungen beschränkt,
ist sie von anderen Autoren zur Anwendung gekommen bei einer
grossen Zahl von Nervenkrankheiten mit den verschiedensten Sensi-
bilitäts- und Motilitätsstörungen: Ausser der Hysterie auch bei Epi¬
lepsie, Neurasthenie, Nervosität, Kopfschmerz, Migräne u. s. w.; dann
mit mehr oder weniger Erfolg bei chronischen Intoxicationen, bei Alko¬
holikern und Morphinisten, in der Chirurgie und Gcburtshülfe. Wenn
ich nun die Herbeiführung des hypnotischen Zustandes zu Heilzwecken
für zulässig erklären muss, so kann ich auf der anderen Seite nicht
unterlassen, auf die Gefahren bei der Anwendung des Hypnotismus
hinzuweisen. Möbius 1 ) sagt zwar, die Frage, ob durch das Hypno-
tisiren an den Versuchspersonen pathologische Veränderungen bewirkt
werden könnten, sei grundlos bejaht worden; alle vorurtheilsfreien
Beobachter stimmten darin überein, dass dauernde Schädigungen der
Versuchspersonen nie und nirgends beobachtet worden seien. Ver¬
fasser widerlegt sich aber solbst, wenn er kaum einige Zeilen weiter
schreibt: „Von vielen Personen wird nach der Hypnose über Be¬
nommenheit des Kopfes, von einigen über Kopfschmerz, Schwindel,
Uebelkeit geklagt. Diese Symptome können mehrere Stunden an-
halten; auch eine gewisse nervöse Reizbarkeit hinterlassen die Ver¬
suche bei empfindlichen Personen. Sonst nichts.“ Ist das denn nicht
genug, um mit gutem Gewissen von schädlichen Einflüssen und Ge¬
fahren für die Gesundheit durch Hypnotisirung zu sprechen?! Möbius
wird in seiner Darstellung der Ungefährlichkeit des hypnotischen Zu¬
standes secundirt von Bernheim 2 ). „Die Hypnose,” sagt letzterer
Autor, „ist kein krankhafter Zustand, sie schafft keine neuen Func¬
tionen oder aussergewöhnlichen Erscheinungen, sondern sie entwickelt
nur, was bereits im wachen Zustande vor sich geht, sie steigert ver¬
möge der mit ihr verbundenen psychischen Veränderung die Suggerir-
barkeit, die wir Alle normaler Weise bis zu einem gewissen Grade
besitzen. Sie verändert unseren psychischen Zustand nur in dem
*) P. Jol. Möbius, Ueber den Hypnotismus. Schmidt’s Jahrbücher Bd. 190,
Jahrg. 1881, No. 4, S. 87.
2 ) H. Bernheim, Die Suggestiou und ihre Heilwirkung. Autoris. deutsche
Ausgabe von Sigm. Freud. Leipzig 1888. S. 136.
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Dr. Schmitz,
Sinne, dass die nun anlangenden Eindrücke und Sinnesbilder sich mit
grösserer Lebhaftigkeit und grösserer Schärfe ausprägen.“ Indirect
gesteht der französische Forscher doch ein, dass die Hypnose kein
normaler, mithin ein abnormer Zustand ist mit gesteigerter Erregbar¬
keit der Psyche. Zwischen diesem und dem krankhaften wird auch
Herr Bernheim nicht immer die Grenze ziehen können. Gegen Ende
seines Werkes 1 ) kommt der Autor dann noch einmal auf die „Gefahren
des Hypnotismus“ zu sprechen und muss einräumen, dass der hyp¬
notische Zustand genug derselben in sich birgt, welche er theilweise
offen zugesteht, theilweise erst durch weitere Resultate constatirt
wissen will. Wiewohl ich nach meinen Erfahrungen in vielen Punkten
Bernheim's Ansichten widersprechen muss, so stimme ich doch darin
mit ihm überein, dass die eventuellen Schädlichkeiten eines Mittels
uns nicht abhalten können, von seinen guten Eigenschaften Gebrauch
zu machen. Was in dieser Hinsicht von Morphium, Alkohol 3 ) etc.
gilt, ist auch für den Hypnotismus zutreffend.
Den wenigen Forschern, welche die Schädlichkeiten des hypno¬
tischen Zustandes mehr oder weniger ableugnen, stehen viele gegenüber,
welche auf diese Gefahren hinweisen und Beispiele anführen. Ein
näheres Studium der Geschichte des thierischen Magnetismus belehrt
uns, dass schon die älteren Autoren wiederholt auf die Gefahren
durch denselben hingewiesen haben. So sagt, um nur ein Beispiel
anzuführen, bereits H. Schwarzschild 8 ): „Der Arzt, der vorsichtige
Arzt, muss sowohl den Charakter der Krankheit kennen als auch die
richtige Anwendung des thierischen Magnetismus. Er muss vor Allem
wissen, wann er zu beginnen und wann er aufzuhören hat. Zulange
fortgesetzte Behandlung erschlafft oder überreizt die Nerventhätigkeit.
Beides^hat seine schädlichen Folgen. Der Operateur versündigt sich
und vergeht sich gegen die Gesundheit seines Mitmenschen.“
Auch in der neueren Literatur haben sich Beispiele genug ange¬
sammelt, welche für die Gefährlichkeit des Hypnotismus hinreichend laut
reden. So theilte Finkelnburg 4 ) auf dem Congresse für innere
*) A. a. 0. S. 410.
3 ) A. Schmitz, Der Weingeist als Heilmittel. Prager medicin. Wooben-
sohrift 1878.
8 ) H. Scbwarzsohild, Magnetismus, Somnambulismus, Clairvoyance in
12 Vorlesungen. 2 Bde. Cassel 1853/54. II. Bd. S. 264.
4 ) Verhandlungen des Congrosses für innere Medioin. Wiesbaden 1882.
S. 141.
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Der Hypnotismus in forensisoher Beziehung.
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Medicin zu Wiesbaden 1882 einen Fall evidenter Gesundheitsschädi¬
gung durch hypnotisirende Einwirkung mit. Aehnliche Fälle habe
ich in meiner Praxis beobachtet und stimme ganz mit de la Tou¬
ret te‘) überein, wenn er schreibt: „Nichts ist geeigneter, Hysterie
zu erzeugen als der Hypnotismus. Bei Hysterischen selbst kann er
grosse Unzuträglichkeiten haben.“ Wenn hier und da in der Literatur
betont wird, häufig hypnotisirte Personen hätten die Gefährlichkeit
ihres Zustandes eingesehen, ihr Traumleben selbst geschildert, Ekel
davor empfunden und Heilung von einem solchen Zustande gesucht,
so kann ich die Zahl dieser Fälle um mehrere vergrössern. Nicht nur,
dass Kranke, an chronischem Alkoholismus oder Morphinismus lei¬
dend, bei mir Hülfe suchten, ich hatte auch Gelegenheit, Personen zu
behandeln, deren Nervensystem zerrüttet war, zum nicht geringsten
Theile durch daheim häufig, an einem Tage oft mehrmals, vorgenom¬
mene Hypnotisirung. Eine Dame verlangte von mir wiederholt in den
hypnotischen Zustand versetzt zu werden, weil sie in demselben allein
sich noch behaglich und wohl fühle, während desselben angenehme
Träume und woblthuende Empfindungen habe, ausserhalb des Traum¬
lebens sich aber selbst zur Last wäre. Ein Herr, Neurastheniker,
motivirte mit ähnlichen Klagen das Verlangen nach der Hypnose. Sie
litten neben ihrem Nervenleiden an „Hypnomanie“. Die Unheilstif¬
ter waren in diesen Fällen keine Aerzte, sondern Laien, sog. Heil¬
magnetiseure, welche die »Wunderkuren* ausführten und die Gesund¬
heit ihrer Mitmenschen auf diese Weise schädigten. Wir sehen also,
wohin es führt, wenn ein so gefährliches Medicament auf den Markt
geschleudert, von gewissenlosen oder unberufenen Personen verabreicht
wird. Deshalb wohl ist in allen neuoren Werken über Hypnotismus
auch nur von der Ausübung desselben durch Aerzte die Rede. So
sagt v. Schrenck 2 ): »Die Gefährlichkeit der Hypnose hängt in den
meisten Fällen von der Uebung des Arztes ab; und die Simulation
ist zweifelsohne, heute wenigstens, eine viel seltenere Erscheinung wie
Unkenntniss und mangelhafte Uebung der Aerzte den hypnotischen
Proceduren gegenüber.* Da der Hypnotismus auch in den Händen
des Arztes kein indifferentes Mittel ist, sollte man nur in solchen
Fällen zur Hypnose, zur Psychotherapeutik, seine Zuflucht nehmen,
in denen andere Behandlungsmethoden nichts nützen oder grössere
1 ) Q. de la Tourette, a. a. 0. S. 305.
*) Albert, Freiherr v. Sohrenok-Notzing, a. a. 0. S. 54.
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Dr. Schmitz,
Gefahren mit sich bringen. Deshalb mahnt auch M. Gluge 1 ) daran,
dass der Gebrauch des Hypnotismus nicht ohne Gefahr für die Kran¬
ken, noch für die gesunden Personen ist.
Wenn ich hoffen darf, die mit der Einleitung des hypnotischen
Zustandes für die Gesundheit verbundenen etwaigen Gefahren genügend
nachgewiesen zu haben, so ist die Staatsbehörde nicht nur berechtigt, son¬
dern verpflichtet, dem Laien die Vornahme dieser Proceduren zu untersagen.
Möbius hat inzwischen auch wohl seine Ansicht geändert und
wirft den Regierungen nicht mehr ein ungerechtes Verfahren gegen
die Wander- und Wundermagnetiseure vor, wie es an genannter Stelle
von ihm geschieht. (Jebrigens sind die von den verschiedensten Re¬
gierungen getroffenen Massregeln, betreffend die Vurnahme des thieri-
schen Magnetismus, nicht nur neuesten Datums. Soviel ich aus der
Literatur ersehen konnte, ging Preussen ziemlich zuerst vor. Unter
dem 7. Januar 1817 2 ) erschien eine Ordre von König Friedrich
Wilhelm III., in welcher sich der hohe Sinn für Kunst und freie Wissen¬
schaft, wie er unserem Herrscherhause stets eigen war und ist, zu er¬
kennen giebt: „Ich will mir,“ heisst es da, „über den Magnetismus
kein Urtheil gestatten, da Ich überhaupt der Meinung bin, dass die
Regierung über wissenschaftliche Gegenstände nicht entscheiden, diesen
den freiesten Spielraum lassen und nur die Hindernisse wegräumen
müsse, die sich ihnen etwa entgegensetzen.“ .... Jedoch heisst es
sub 3: „Damit einstweilen der Missbrauch möglichst verhütet werde,
soll nur gesetzlich approbirten Aerzten erlaubt sein, magnetische
Kuren vorzunehmen.“ Da nach der Gewerbeordnung für das deutsche
Reich das Kuriren und Heilen von Krankheiten freigegeben ist, so ist
damit auch die erwähnte preussischc Verordnung nicht mehr zu Recht
bestehend zu betrachten; schwer wird es halten, den Hypnotiseuren, Heil¬
magnetiseuren und den neuerdings erstandenen Magnetopathen von
Gesetzeswegen beizukommen. Nur dann werden sie, wie jeder Andere,
zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie sich gegen die
§§ 223 ff. des D. St.-G.-B. vergehen, wenn die für die Versuchsperson
stattgehabten schädlichen Folgen der Hypnotisirung, im Sinne des
Gesetzes Körperverletzungen, nachgewiesen werden. Um die durch
Hypnotisirung, sei es zu Heilzwecken oder zu Schaustellungen ge-
*) Bulletin de l’acadömie royale de mädecin de Belgique. IV. Serie.
Tome II. No. 8. A. 1888.
*) W. Horn, Das preussische Medicinalwesen. Berlin 1863. II. Theil.
S. 183.
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung.
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setzten und verursachten nachtheiligen Folgen für Körper und Geist
zu ahnden, bedarf es keiner neuen Strafparagraphen, indem die im
Strafgesetzbuche vorhandenen vollkommen ausreichen. In den wenig¬
sten Fällen werden die §§ 223—229 zur Anwendung kommen, indem
die vorsätzliche und beabsichtigte Körperverletzung kaum, und
nur die beabsichtigte Hervorrufung des hypnotischen Zustandes nach¬
gewiesen werden kann. Um so mehr werden die Aerzte und die
fahrenden Magnetiseure die §§ 230 und 232 zu beachten haben, von
denen der erstere lautet: „Wer durch Fahrlässi gk eit die Körper¬
verletzung eines Anderen verursacht, wird mit Geldstrafe bis zu
neunhundert Mark, oder mit Gefängniss bis zu zwei Jahren bestraft.“
„War der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus dem
Auge setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders
verpflichtet, so kann die Strafe auf drei Jahre Gefängniss erhöht
werden.“
Vielfach ist die Frage aufgeworfen worden, so von Ludwiger
in der Jahressitzung des Vereins der deutschen Irrenärzte im Jahre
1887 in Frankfurt a. M., dann von der Pariser und Nancy’er Schule,
ob Personen gegen ihren Willen in den hypnotischen Zustand ver¬
setzt werden könnten, ßernheim beantwortet diese Frage verneinend.
„Es giebt,“ sagt er, „keinen Magnetiseur und kein magnetisches Flui¬
dum. Weder Donato noch Hansen können sich besonderer hypno¬
tischer Kräfte rahmen, der provocirte Schlaf hängt nicht vom Hypno¬
tiseur, sondern vom Hypnotisirten ab; es ist sein eigener Glaube, der
ihn einschlafen macht, es kann auch Niemand gegen seinen
Willen hypnotisirt werden, welcher der Aufforderung widersteht.“
Die allgemeine Ansicht wendet sich gegen die Bernheim ’schen Doc-
trinen, die Forschung hat die Frage doch theilweise bejaht und zwar
für die Fälle, in denen es sieh um sensible, entweder schon mehrfach
hypnotisirte oder überhaupt leicht hypnotisirbare Individuen handelt.
Ich verweise hier schon auf den unten von Dr. Grützner mitgetheilten
Fall. Dr. v. Lilienthal 1 ) hat auch die Frage der Einwilligung zur
Hypnotisirung nicht unberücksichtigt gelassen. „Es fällt unter den
§ 239 St.-G.-B.,“ sagt er, „jede widerrechtliche, d. h jede Hypno-
tisirang, welche gegen den Willen des Hypnotisirten vorgenommen
wird, sofern nicht für den Hypnotisator ein besonderes Recht zum
Handeln besteht.“ Dieses Recht dürfte für den Arzt in den meisten
‘) t. Lilienthal, Der Hypnotismus und das Strafrecht. Zeitsohr. für die
gesammte Strafrechtswissenschaft. VII. Bd. Leipzig 1887. S. 373.
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Dr. Schmitz,
Fällen gegeben sein. Wenn aber v. Lilienthal nnr diejenigen
Hypnotisirungen zu Heilzwecken für straflos erklären möchte, welche
zwar nicht gegen, aber doch ohne den Willen des Individuums vor*
genommen werden, so halte ich diese Begrenzung für zu enge. Denn
ebenso wie ich den Patienten behufs Vornahme einer Operation auch
gegen seinen Willen mit Chloroform einschläfere, ohne mich gegen
die §§ 239 oder 240 zu verfehlen, ebenso werde ich auch in passen¬
den Fällen als Arzt straflos handeln müssen, wenn ich die Hypnose
zum Besten, aber gegen den Willen des Patienten ausführe. Denn
eine Gewaltanwendung im Sinne des St.-G.-B.’s würde nur vorliegen,
wenn die Einleitung der Hypnose zu verbrecherischen Zwecken beab¬
sichtigt wäre, ln diesem Falle würde, da durch die Versetzung in
den hypnotischen Zustand das Bewusstsein schwindet und häufig die
Willensherrschalt aufgehoben wird, die Versuchsperson nach § 239
St.-G.-B. des Gebrauchs der persönlichen Freiheit beraubt, beziehent¬
lich nach § 240 zu einer Handlung oder Duldung genöthigt.
Bereits sagte ich, dass die einzelnen Personen und unter diesen
besonders die zu Demonstrationen verwendeten Medien durch unvor¬
sichtige, unzweckmässige oder leichtsinnige Hypnotisirungen an ihrer
Gesundheit körperlich und geistig häufig geschädigt werden, dass das
Gefühl für Anstand und gute Sitte durch die öffentlichen Schaustel¬
lungen mit der Zeit verloren geht oder doch schwere Einbusse er¬
leidet. Diese Thatsachen lassen sich nicht wegleugnen. Aber nicht
nur für das betreffende Medium, sondern auch für die anwesenden
Personen bergen die öffentlichen Experimente, die Theater¬
vorstellungen, genug Gefahren. Bereits in dem zur Untersuchung des
Mesmerismus erschienenen Berichte der Socißte royale de mödecine,
welcher uns von Burdin und Dubois in der Histoire acadömique du
magn^tisme animal, Paris, 1841, p. 92—102 erhalten ist, wird ge¬
sagt, dass die öffentlich vollführten Kuren durch Behandlung mit
thierischem Magnetismus ausser den angezogenen Unträglichkeiten —
dieser Ausdruck bezieht sich auf § 177 des D. St.-G.-B.’s —, noch
die Gefahr haben, dass eine grosse Anzahl übrigens gesunder Menschen
der Gelegenheit ausgesetzt werde, in spasmodische und convulsivische
Zustände zu verfallen, die leicht die Quelle grösserer Leiden werden
können. De la Tourette') berichtet uns, dass nach den öffentlichen
Vorstellungen, die der Magnetiseur Donato im Winter 1880/81 in
') Gilles de la Tourette. A. a. 0. S. 345.
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Der Hypnotismus in forensisoher Beziehung.
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der französischen Schweiz gab, sich in den Hanptorten des Landes
wie in Breslau nach den Hansen'*sehen Sitzungen, ein wirkliches
.magnetisches Fieber“, Magnetismus-Wuth, besonders unter der Ju¬
gend, einstellte. Auf der 53. Versammlung der deutschen Natur¬
forscher and Aerzte zu Danzig im Jahre 1880 führte Dr. Grützner,
damals Assistent am Breslauer physiologischen Institut, vor einer
grossen Anzahl von Mitgliedern einige hypnotische Experimente vor
und theilte bei dieser Gelegenheit den Fall eines Artillerieoffiziers
mit, der für den Hypnotismus so stark empfänglich war, dass er
selbst als Zuschauer bei den Versuchen nicht zugegen sein konnte,
ohne Gefahr zu laufen, in Hypnose versetzt zu werden. Nicht arm
ist die Literatur an solchen Beispielen; nur würde es zu weit führen,
sie einzeln hier aufzuzählen.
Weil man die Gefahren der öffentlichen hypnotischen Vorstel¬
lungen erkannte, wurden dieselben in einigen Ländern neuerdings
verboten. Prof. Herrn. Friedberg behandelte in der juristisch¬
staatswissenschaftlichen Section der schlesischen Gesellschaft für vater¬
ländische Cultur in Breslau am 10. März 1880 die Frage des Hypno-
tisirens vom Standpunkte des Gerichtsarztes 1 ) und erklärte die Vor¬
nahme von hypnotischen Experimenten in öffentlichen Schaustellungen
mindestens für groben Unfug (§ 360, No. 11). Die Polizei sollte
solche Schaustellungen schon desshalb nicht gestatten, weil es den
Rücksichten auf die geistige und sittliche Ausbildung des Volkes
nicht entspräche, Proceduren zu zeigen, welche unbegreiflich erschienen
und Aberglauben zu erwecken geeignet wären, Menschen als bewusst-,
willen- und gefühllose Automaten vorzuführen, um durch den unheim¬
lichen Anblick io Staunen zu versetzen. Ausserdem entstände durch
jene Schaustellungen die Gefahr, dass manche Zuschauer das Hypno-
tisiren erst kennen lernten und es später missbrauchten. M. Gluge 2 )
kommt in der Discussion über den Hypnotismus zu folgendem Schlüsse:
,Pour moi, l’hypnose est un £tat d’ali£nation mentale artificielle,
dans les sens littöral du mot; et je suis d'avis, qu’il faut döfendre
les söances publiques d’hypnotisme, comme on defendrait l’exhibition
des ali£n£s, si un spöculateur s’avisait de l’entreprendre pour l’amuse-
ment du public. “ Entsprechend diesen Schlussfolgerungen erging in Oester¬
reich 1880 und in Italien 1886 das Verbot der öffentlichen Vorstellun-
*) Deutsche medic. Wochenschrift 1880. No. 21. S. 280.
*) Bulletin de l'ac&dlmie royale de medeoine de Belgique. Seance du
29. Sept. 1888.
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Dr. Schmitz,
gen 1 ). Durch die im Gefolge von Hansen’s Experimenten eingetretenen
Ungliicksfällc sah sich die Wiener Polizeibehörde am 12. Februar
1880 veranlasst, eine ärztliche Commission mit der Untersuchung
dieses Gegenstandes zu beauftragen, ln Folge des von dieser unter
Vorsitz E. Hofmann’s abgegebenen Gutachtens wurden die weiteren
Schaustellungen untersagt. In Italien, besonders in den Städten Mai¬
land und Turin, kam in Folge der durch die Vorstellungen des schon
genannten Magnetiseur D'hont, genannt Donato, hervorgerofenen
Unfälle die Frage nach der Schädlichkeit der hypnotischen Schau¬
stellungen vor den obersteu Gesundheitsrath in Rom, welcher nach
eingehender Prüfung in den Sitzungen vom 10., 11., 13. und 14. Juni
1886 den Beschluss fasste: „Die Schaustellung des Hypnotismus (Magne¬
tismus, Messmerismus, Fascination) in öffentlichen Versammlungen ist zu
verbieten.“ Auch in Preussen erging eine Verfügung an die Königliche
Regierung zu N. und abschriftlich an die übrigen Königlichen Regie¬
rungen resp. Regierungspräsidenten, die Untersagung der Veranstaltung
öffentlicher Vorstellungen der Magnetiseure betreffend, vom 12. Mai
1881, welche ich in der medicinischen Literatur nicht gefunden habe
und deshalb hier folgen lasse. Sie lautet: »Der an den damaligen
Herrn Minister des Innern erstattete Bericht der Königlichen Regie¬
rung vom 29. November v. J. hat Veranlassung gegeben, über die
Frage, ob dem sogenannten Magnetiseur H. aus K. in diesseitigem
Staatsgebiete die Veranstaltung öffentlicher Vorstellungen zu gestatten
sei, die gutachtliche Aeusserung der Königlichen Wissenschaftlichen
Deputation für das Medicinalwesen einzuholen.
Das in Folge dessen abgegebene Gutachten gelangt zu dem Re¬
sultate, dass es sich bei den gedachten Vorstellungen um physio¬
logische Experimente handele, welche die Möglichkeit einer Schädigung
der Gesundheit der dabei als sogenannte Medien benutzten Personen
mindestens sehr nahe legen.
Wir beauftragen unter diesen Umständen die Königliche Regie¬
rung, die Polizeibehörde Ihres Bezirks dahin anzuweisen, dass dem
etc. H. oder anderen sogenannten Magnetiseuren die Veranstaltung
öffentlicher Vorstellungen nicht ferner gestattet werde. Berlin, den
12. Mai 1881. Der Minister der geistl., Unterrichts- und Medicinal-
Angelegenheiten. Der Minister des Innern“ 3 ).
*) de la Toureite, a. a. 0. S. 494.
-) Minist.-Blaltf.d.ges. innere Verwaltung. 42. Jahrg. 1881.No. 11 l.S. 170.
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung.
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Nachdem wir den Hypnotismus in sanitätspolizeilicher Beziehung,
in seinen schädlichen Folgen für die Gesundheit des einzelnen Indi¬
viduums, also unter dem Gesichtspunkte der Körperverletzung und in
seinen Gefahren für die Gesellschaft kennen gelernt haben, kommen
wir zur Betrachtung desselben von der criminellen Seite. Dieser Theil
der Lehre des modernen Hypnotismus ist für den Gerichtsarzt der
wichtigste, weil in foro am häufigsten vorkommende, aber auch
schwierigste. Die ira hypnotischon Zustande befindlichen Personen
können in demselben geschändet werden entweder von dem Hypnoti¬
seur oder von einer dritten Person. An Thatsachen für diese Be¬
hauptung liefert die Geschichte des Magnetismus eine ganze Fülle;
und kein Arzt, der sich mit diesem Heilverfahren näher bekannt ge¬
macht hat, wird die Möglichkeit solcher Verbrechen an hypnotisirten
Frauen auch uur einen Augenblick in Zweifel ziehen können. Prof,
v. Lilienthal sagt in seiner genannten Abhandlung 1 ): „Dass Hyp-
nofisirte zum Opfer verbrecherischer Angriffe geworden sind, ist wieder¬
holt vorgekoramen — alle diese Fälle stellen sich als geschlechtliche
Vergewaltigungen dar, nur höchst selten, wie in dem von Du Potet
in seinem Trait£ complet de magnetismc (1821) mitgetheilten Falle,
kommt der Thatbestand der Entführung hinzu.® „Der eigentliche
strafrechtliche Kernpunkt,® heisst es an anderer Stelle 2 ) „aller hierher
gehörigen Erscheinungen liegt in dem Einflüsse, welchen die Hypnose
auf die Freiheit sowohl der Willensäusserung, als der Willensent-
schMessung auszuüben vermag. Dieser Einfluss besteht darin, dass
der Hypnotisirte entweder in körperliche Unfreiheit, in Katalepsie
oder Lethargie verfallt, oder im somnambulen Zustande den Befehlen
des Hypnotiseurs gehorcht und seinen Willen dem des letzteren unter¬
ordnet. “
Charcot und seine Schüler nehmen drei typische Grundzustände
des Hypnotismus an, welche ich an dieser Stelle zum leichteren Ver¬
ständnisse der in Rede stehenden Fragen im Gegensatz zu anderen
complicirten Eintheilungen des hypnotischen Zustandes auch zu Grunde
lege, indess in umgekehrter, der Wirklichkeit näher kommender
Reihenfolge. Diese Zustände sind der somnambulische, der kata-
leptische und der lethargische. Jeder von diesen hat seine besonderen
Gefahren. „Das Individuum in Katalepsie und besonders in Lethargie,"
A. a. 0. S. 351.
J ; A. a. 0. S. 360.
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Dr. Schmitz,
1 10
sagt de la Tourette 1 ), „kann sehr leicht der Lüsternheit des Magne¬
tiseurs zum Opfer fallen; der Somnambule kann in den Händen eines
Gewissenlosen zum unbewussten Werkzeug werden, das nicht zur Ver¬
antwortung gezogen und unter Umständen sehr gefährlich worden
kann; denn er ist leicht für die verschiedensten Befehle zugänglich."
Die Richtigkeit dieser Annahme einstweilen vorausgesetzt — wir wer¬
den weiter unten sehen, dass dieselbe doch nicht ganz den That-
sachen entspricht —, so stehen die Hypnotisirten mit Geist und
Körper zur Verfügung des Hypnotisirenden und stellenweise nicht nur
des letzteren, sondern dio in Hypnose versetzte Person ist während
der Katalepsie und Lethargie in Folge der Bewegungsunfähigkeit und
Empfindungslosigkeit den Angriffen eines Jeden ausgesetzt, welcher
sie in diesem Zustande missbrauchen will (v. Lilienthal, S. 360).
In einzelnen Lehrbüchern der gerichtlichen Medicin ist auch des Hyp¬
notismus mit Bezug auf die uns beschäftigende Frage gedacht worden.
So sagt Krafft-Ebing 2 ): „Wichtiger, als nämlich die Fälle von An¬
wendung roher Gewalt zur Erreichung der verbrecherischen Absicht,
sind die Zustände von Willen- resp. Bewusstlosigkeit, wo durch raffi-
nirte Mittel (Narcotica, Aether, Chloroform, Chloralhydrat, starke
Weine etc.) oder bei besonders Disponirten (meist Hysterische) durch
sogenannten Magnetismus, Hypnotismus etc. ein temporärer Zu¬
stand der Willen- und Bewusstlosigkeit herbeigeführt wurde.“ In spä¬
ter erschienenen deutschen Werken über gerichtliche Medicin suche ich
vergebens nach der Erwähnung der Verbrechen in hypnotischem Zu¬
stande. Ich will uur Johann Ludwig Casper’s Handbuch von C. Li man
anführen, welches auch in der neuen Auflage dieses Kapitel mit Still¬
schweigen übergeht. In der Casuistik über Nothzucht an Erwachsenen
werden in letztgenanntem Buche Fälle, z. B. No. 64 und 73 2 ), mit-
getheilt, welche in foro vielleicht einen anderen Verlauf genommen
haben würden, wenn die Sache von dem Standpunkte des Hypnotis¬
mus einmal aufgefasst und klargelegt worden wäre.
Bernheim 4 ) und de la Tourette theilen uns aus dem Ge-
') de la Tourette, a. a. 0. S. 328.
3 ) R. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtliohen Psychopathologie.
Stuttgart 1875. S. 290.
3 ) G. Li man, Handbuch der gerichtlichen Medicin. 7. Auflage. II Bde.
Berlin 1881/82. I. Bd. S. 143 u. 155.
4 ) H. Bernheim, - Die Suggestion und ihre Heilwirkung. Autorisirte
deutsche Ausgabe von S. Freud. Leipzig und Wien 1888.
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung. 1 1 1
richtssaale mehrere durch Schändung von Frauenspersonen in der
Hypnose begangene Verbrechen als traurige Beispiele mit, wohin solche
Mittel in den Händen Unberufener oder schlechter Individuen führen
können. An dieser Stelle kaun ich nicht umhin, mich gegen eine
Aeusserung v. Lilienthal’s zu wenden. Gr sagt 1 ): „Es ist der Arzt,
welcher eine Frauensperson zu wissenschaftlichen Versuchs- oder zu
Heilzwecken hypnotisirt hat und nun in einem Augenblick geschlecht¬
licher Erregung die Hypnotisirte missbraucht, nicht anders zu beur-
theilen, als ein hinzukommender Dritter, welcher sich diesen von ihm
nicht herbeigeführten Zustand zu nutze macht." Diesen juristischen
Anschauungen halte ich gegenüber die Gingangs dieser Arbeit citirte
Aussage Deslou’s. Wenn der § 174 des Strafgesetzbuchs für das
Deutsche Reich auch nur Anstaltsärzte mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren
bestraft, welche mit den in die Anstalt aufgenommenen Personen un¬
züchtige Handlungen vornehmen, so ist meines Grachtens ebenso straf¬
fällig der Arzt, welcher das Vertrauen des Kranken in so schnöder
Weise missbrauchen würde; seine Schuld ist grösser als die des Laien.
Freier Wille und Zustimmung auf der einen Seite, Zwang und Ver¬
gewaltigung auf der anderen Seite spielen bei den Gerichtsverhand¬
lungen wegen sexueller Vergehen immer eine grosse Rolle. Besonders
ist dieses bei den Processen der Fall gewesen, wo die Hypnotisirung
in Frage kam. Der der Nothzucht beschuldigte Angeklagte sagt
bestimmt aus, die betreffende Person habe sich ihm freiwillig hinge¬
geben, während die Gegenrede der Klägerin lautet, sie sei von dem
Thäter in einen willen- und bewusstlosen Zustand versetzt worden.
Schwierig sind diese Fälle nicht weniger für den Richter als für den
ärztlichen Sachverständigen. Wenn in solchen verworrenen Kriroinalfra-
gen des letzteren Hülfe in Anspruch genommen wird, kann ihm nur die
Aufgabe zufallen, nachzuweisen, ob Klägerin leicht hypnotisirbar ist,
vielleicht durch Berührung von sog. hypnogenen Zonen, ohne sich auf
den Nachweis einzulassen, dass zur Zeit der oft nicht bestrittenen
That ein willen- oder bewusstloser Zustand vorlag, oder dass Inculpat
sich des möglichen willenlosen Zustandes der gebrauchten Person be¬
wusst war.
Leichter wird für den Sachverständigen die Abgabe des Gutachtens
in den Fällen sein, in denen es sich um Feststellung des angeblichen Ver¬
brechens auf Grund der vorgenommenen Untersuchung der Genitalien
*) ▼. Lilienth&l, a. a. 0. S. 361.
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Dr. Schmitz.
handelt. Deshalb sagt v. Krafft-Ebi ng') mit Recht: «Von der
grössten Wichtigkeit ist aber auch die Constatirung des wirklich voll¬
zogenen Beischlafs“, weil solche Frauen, von der fälschlichen An¬
schuldigung ganz abgesehen, sehr häufig nervös und sexuell reizbar
sind und an Hallucinationcn leiden können, welche leicht den Cha¬
rakter einer vollzogenen Cohabitation zu erzeugen im Stande sind.
Der Zustand des Hymen, das Secret der Vagina, der Inhalt des Uterus
oder der mikroskopische Befund etwaiger Flecke der Leibwäsche und
Kleidungsstücke der Klägerin oder des Verklagten werden es dem Arzte
nicht schwer machen, sich eine bestimmte Ansicht zu bilden; wo dieses
aber nicht möglich ist, wird er nicht anstehen, dem Richter sein Un¬
vermögen zu gestehen.
Wir kommen jetzt zu einem nicht minder wichtigen Kapitel des
forensischen Hypnotismus; zu der Frage nach den Verbrechen
Hyp notisirter, welche in der Neuzeit so viel Staub aufgewirbelt
und die Gemüther nicht wenig beunruhigt hat. Dass in hypnotischem
Zustande befindliche Personen durch Vergehen mit der Sittenpolizei
in Conflict gerathen sind, dafür werden uns Beispiele in der Lite¬
ratur 2 ) mitgetheilt, aber etwas anderes ist es, ob Hypnotische durch
Suggestion zur Ausübung von Verbrechen veranlasst werden können.
„Unter Suggestion," sagt F. Maack 3 ), „versteht man eine wie immer
geartete Einwirkung auf das Vorsteilungsvermögen eines Menschen
durch einen anderen, wodurch in dem ersteren ein bestimmter Ge¬
dankengang erweckt wird, der entsprechende Handlungen zur Folge
haben kann.“ Auf diesem Wege lassen sich aber nicht nur Hand¬
lungen, sondern, wie A. Hü ekel 4 ) mit Recht sagt, in noch viel
höherem Grade Empfindungen und Gefühle induciren. Von einzelnen
Forschern wird die Suggestion als das eigentliche Princip der Hyp¬
nose hingestellt. So sagt Bernheim in der Vorrede zu seinem
Werke 3 ): «Der Schule von Nancy kommt das Verdienst zu, diese
Anwendung des Hypnotismus, seine nutzbringendste und fruchtbarste
geschaffen zu haben, indem sie die Hypnose auf ihre wirkliche Grund-
‘) v. Krafft-Ebing, a. a. 0. S. 291.
2 ) Vgl. de la Tourette, a. a. 0. S. 519.
3 ) Ferd. Maack, Zur Einführung in das Studium des Hypnotismus und
thierischen Magnetismus. Neuwied 1888. S. 5.
4 ) Arnaud Hückol, Die Rolle der Suggestion bei gewissen Erschei¬
nungen der Hysterie und des Hypnotismus. Jena 1888. S. 1.
8 ) H. Bernheim, a. a. 0. S. 17.
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UNIVERSUM OF IOWA
Der Hypnotismus in forensischor Beziehung.
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läge, auf die Suggestion zurückführtc.“ Auf der folgenden Seite
prophezeit er der suggestiven Therapie, dass sie von Allen ange¬
nommen und ausgeübt, die zeitgenössische Mediein als eine ihrer
werthvollsten Erwerbungen bereichern werde, v. Schrenck 1 ) kommt
in seinem vergleichenden Ueborblick über die Entwicklung der hyp¬
notischen Therapie in den verschiedenen Culturländern zum Schlüsse:
„Die zahlreichen, mit den neuen Heilverfahren in den verschiedenen
Ländern angestcllten und der überwiegenden Mehrzahl nach gelungenen
Versuche bestätigen im Allgemeinen die Grundzüge der Bernheim¬
sehen Suggestionslehre.” Dagegen kann er sich dem citirten Aus¬
spruche Bernheim’s mit Bezug auf die Suggestion als Allgemeingut der
ärztlichen Thätigkeit nicht anschliessen. Er verkennt keineswegs die
grossen Schwierigkeiten, „welche einer praktischen Durchführung im
Wege stehen und die hauptsächlich ihren Grund haben in dem beim
Publikum und in vielen ärztlichen Kreisen herrschenden Vorurtheil” 3 ).
Bernheira deutet auf die Wichtigkeit der Suggestion in foro hin, in¬
dem er schreibt: »Welche Fülle von Gesichtspunkten bietet das Stu¬
dium der Suggestion für den Juristen und Gerichtsarzt! Wer könnte
sich eiuer tiefen Erregung erwehren, wenn er eine Person sieht, die
freiwillig oder durch fremden Eingriff in das somnambule Leben ein¬
getreten ist und nun als gefügiges, willenloses Werkzeug in der Hand
eines Anderen alle Beeinflussungen annimmt, alle Befehle ausführt!”
Sehr willkommen sind ihm die Versuche seines Collegen, Herrn
Licgeois, Professor der Rechtswissenschaften an der Universität
Nancy, welche beweisen sollen, »dass es möglich sei, Verbrechen zu
suggeriren, welche die betreffenden Personen vollziehen, ohne das
wirkliche Motiv, das ihre Hand gelenkt hat, zu erkennen.” Es ist
mir leider hier nicht möglich, auf die Lehre von der Suggestion und
besonders ihre Cultivirung durch Bernheim näher einzugehen, nur in
wenigen Worten darf ich sagen, dass die Lehre des Nancyer Collegen
ihr Bedenkliches hat und seine Deductionen zu gewagt, stellenweise
unrichtig sind. Die Kriroinaljustiz weiss zwar bis jetzt nichts von
suggerirten Verbrechen, aber Bornheim und Licgeois, welche sich
in den Kopf gesetzt haben, um mit des Ersteren eigenen Worten zu
reden, die Wahrheit von dem zu erweisen., was sie glauben oder
wünschen, möchten allzugerne ihre Cabinetsresultatc auf die Gesell-
’) v. Schrenck-Notzing, a. a. 0. S. 55.
a ) Ä. a. 0. S. 77.
V$ertelJahr»Bchr. f. gor. Med. N. F. LU. 1.
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UNIVERSUM OF IOWA
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Dr. Schmitz,
scliaft und die Aussenwelt übertragen. Und hierbei verfallen sie, viel¬
leicht ohne es zu wissen, in einen grossen Fehler; das Unrecht, wel¬
ches sie gegen ihre Mitmenschen begehen durch Verkündigung dieser
Doctrincn, ist um so grösser, als sie ihr gebrechliches und leckes Fahr¬
zeug unter der Flagge der Wissenschaft segeln lassen. Denn die Labora¬
toriumsexperimente und Liegeois’ Versuche beweisen für das prak¬
tische Leben gar nichts. Wenn man aber die Arbeiten der genannten
Herren liest, findet man fortwährend die krassesten Widersprüche,
und kommt bei unbefangener Beurtheilung zu dem freilich traurigen,
aber richtigen Schlüsse, dass die französischen Autoren unbewusst an
Autosuggestion litten, dass sie in Folge gegenseitiger Suggerirung
Schreckgespenste skizziren, zu deren bildlicher Darstellung noch erst
die Farben erfunden werden müssen. Kurz, auf Grund eines eingehen¬
den Studiums der Literatur des Magnetismus in seiner Vergangenheit
und Gegenwart, auf Grund eines keineswegs oberflächlichen Studiums
der Kriminalistik und gestützt auf meine hypnotischen Erfahrungen,
schliesse ich mich ganz dem Ausspruche von de laTourette 1 ) an:
„Man hat mit der Suggestion soviel Missbrauch getrieben während
der letzten Jahre, dass die öffentliche Meinung dadurch erregt, er¬
schreckt ist und in Wirklichkeit ganz ohne Grund. Man hat eine ge¬
machte Bewegung erzeugt, Befürchtungen wachgerufen, die ebenso ge¬
fährlich wie grundlos sind, besonders jetzt, wo allgemein die Nervo¬
sität in höchster Blüthe steht. Der Hypnotismus,“ fährt er fort,
„kann grosse Dienste leisten, er kann Ursache oder vorgebliche Ur¬
sache grosser Gefahren sein, aber in der Suggestion liegen die
Gefahren bestimmt nicht.“
Da Bernheim ein concretes Beispiel eines suggerirten Ver¬
brechens nicht anführen kann und doch einen Scheinbeweis für seine
Hypothesen beibringen will, versteht er sich dazu, Rückschlüsse zu
machen und sich zum Anwälte der „durch suggerirte falsche Aus¬
sagen“ Beschuldigten von Tisza-Eslar aufzuwerfen. Dabei ergeht er
sich in Aeusserungen gegen die Untersuchungsrichter, welche nichts
weniger als meine Zustimmung finden. Zum ferneren Beweise der
Richtigkeit seiner Behauptung, dass der Hauptbelastungszeuge dieses
Processes unter dem Einflüsse von richterlichen Suggestionen falsche
Aussagen gemacht habe, führt er einen Dr. Motet vor, dessen An¬
sichten den seinigen entsprächen, der jedoch Bernheim’s Beobachtungen
*) de la Tourette, a. a. 0. S. 389.
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UNIVERSUM OF IOWA
Der Hypnotismus in forensischer Beziehung.
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ohne Zweifel nicht gekannt habe, da er sie nicht citire. Das kann für
einen Mann der Wissenschaft wie Bernheim doch kein wohlgemeinter
Beweis sein. Wo bleibt da der Ernst der Wissenschaft! Auf der
anderen Seite glaube ich keinen besseren Grund gegen die Stichhal¬
tigkeit der Bernheim’schen Lehre von der Möglichkeit der suggesti¬
ven Verbrechen bei Somnambulen anlühren zu können, als wenn ich
auf seine Darstellungen der Verwandlung der Persönlichkeit im som¬
nambulen Zustande (S. 56) verweise. Es heisst da: „Bei allen diesen
Verwandlungen der Persönlichkeit, die man bei vielen Somnambulen
erzeugen kann, macht sich doch der jeder Person eigcnthümliche Cha¬
rakter geltend." Und auf der folgenden Seite heisst es: „Ich muss
wiederholen, dass jeder Somnambule seine eigene Individualität be¬
wahrt; auch als Automat und durch einen fremden Willen getrieben,
arbeitet er mit seinen eigenen Mitteln und reagirt auf die Sug¬
gestionen so wie er sie versteht, wie er sie auslegt und insoweit er
darauf reagiren kann," und füge ich hinzu, roagireu will. Denn
andere Forscher, z. B. Gilles de la Tourette, stimmen mit mir
überein, dass der Somnambule sich zu keiner Handlung zwingen lässt,
deren Ausführung seinen moralischen oder ethischen Gefühlen wider¬
strebt. Gerade so wenig wie Bernheim einen linkischen oder wort¬
kargen Menschen zu einem gewandten Bonvivant oder beredten Ad-
vocaten umwandeln konnte, gerade so wenig wie es dem Arzte ge¬
lingen wird, ein somnambules sittenreines und sittenstrenges Mädchen
zu einer badenden Venus in seinem Cabinet durch Suggestion umzu¬
gestalten, ebenso wenig wird es gelingen, einem moralischen Indivi¬
duum ein Verbrechen zu suggeriren, welches wirklich zur Ausführung
käme. Um meinen Beweis zu vervollständigen, will ich Bernheim
weiter reden lassen. Er sagt nämlich an anderer Stelle seines Buches:
„Die Suggestion posthypnotischer Handlungen ist nicht unbedingter
Weise von Erfolg begleitet, sie kann bei manchen Personen auf Wider¬
stand stossen. Die Neigung, den Auftrag zu vollziehen, hat eben nur
eine gewisse Stärke, welche sich mit der Stärke des Widerstandes
misst.“ Halten wir diese Aeusserungen zusammen mit seiner Lehre
von den verbrecherischen suggestiven Handlungen. Ein sonderbares Ge¬
fühl beschleicht Einen, wenn man die Ausrufe desselben Verfassers
auf S. 105 liest: »Das giebt zu ernsten Erwägungen Anlass! Aber
ist das meine Schuld? Kann ich die Wahrheit unterdrücken?"
Wo ich eben von den Cabinetsversuchcn sprach, welche für das
praktische Leben absolut keine Gültigkeit haben, kann ich nicht um-
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Dr. Schmitz,
hin, gegen einzelne Versuche des sonst wohl verdienten Collegeu de
la Tourette und anderer französischen Forscher mich zu wenden.
Wenn man die Thierexperimente aus humanen Gründen eingeschränkt
wissen wollte, so sollte man doch auch nicht arme nervenkranke und
hysterische Weiber zu hypnotischen Versuchen missbrauchen; denn das
werden Pitres und de la Tourette doch nicht behaupten wollen,
dass die von letztgenanntem Autor auf S. 132, 138, 143 und 144 er¬
wähnten hypnotischen Suggestionsversuche noch einen wissenschaft¬
lichen Werth haben; sie tragen nur den Stempel des Lächerlichen
und Frivolen und zeigen, wohin die Erforschung tiefernster Fragen
ausarten kann. Den Anstaltsgeistlichen Abbö X, der sich auf Bitten
des Dr. Pitres in Bordeaux von einer Hysterica umarmen liess,
möchte ich einmal gerne sehen!
Es erübrigt noch im Zusammenhänge einiges Nothwendige über
die gerichtsärztliche Untersuchung und Begutachtung, ob zur Aus¬
führung eines Verbrechens oder zur Veranlassung eines Vergehens der
hypnotische Zustand missbraucht worden ist, zu sagen. Was zunächst
die angeblich durch Suggestion hervorgerufenen und begangenen Ver¬
brechen betrifft, so habe ich darüber mich deutlich genug ausge¬
sprochen, ich muss ihr Zustandekommen bestreiten und der Gerichts¬
arzt wird wohlthun, sich dieser Ansicht bis auf Weiteres anzuschliessen.
In der ganzen einschlägigen Literatur ist mir kein sicheres Factum
begegnet, es ist nicht bekannt geworden, dass ein Somnambuler wäh¬
rend des Zustandes oder nach dem Erwachen ein vollziehendes Werk¬
zeug von Racheplänen des Magnetiseurs geworden wäre. Die Gründe
für dieses Nichtzustandekommen habe ich oben mitgetheilt. Wenn
aber die französischen Forscher ihre Gabinetsversuche auf das prak¬
tische Leben übertragen wollen, so laden sie eine Schuld auf sich,
welche sie centnerschwer drücken wird; sie bereiten der Kriminalistik
und Kriminaljustiz grosse Verlegenheiten und bringen Recht und Ge¬
rechtigkeit, freien Willen und Verantwortlichkeit arg in’s Gedränge.
Wenn Bern heim unsere alltäglichen Handlungen für suggestiv er¬
klärt, wichtige Zeugenaussagen nachträglich als suggestiv verdächtigt,
weshalb sollte ein Heisssporn, ein zweiter Bernheim nicht dazu über¬
gehen, alle Crimina als Suggestionsfolgen zu deuten.
Dass an im hypnotischen Zustande befindlichen Frauen hier und da
Stupra vorgekoramen sind, habe ich bereits mitgetheilt. Indess sind
diese Vergehen gegenüber der heutigen Verbreitung des Hypnotismus,
wenigstens soweit sie bekannt geworden sind, doch selten. Bei den
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Der Hypnotismus in forensischer Beziehung.
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meisten deshalb geführten Processen und stattgefundenen Beschuldi¬
gungen handelte es sich meist um Aussagen schwachsinniger oder
hysterischer Personen, von Seiten der betreffenden Anverwandten um
Lögen und Entstellungen mit dem Hintergedanken der Erpressung.
Wenn, wie ich oben sagte, die Fraueh im lethargischen Zustande am
leichtesten ohne Gefahr für den Stuprator geschändet werden können,
so ist auch in diesen Fällen die Untersuchung schwer. Der Gerichts¬
arzt kann nicht wissen, in welchem Zustande der Hypnose sich die
Person befand, und ob nicht ein gewisser Grad der Einwilligung von
Seiten der stuprirten Person vorlag, welche solches später gerne aus
irgend einem Grunde in Abredo stellen möchte. De la Tourette
verlangt zur gerichtlichen Untersuchung, dass, wenn die Neurose, der
chronische Hypnotismus festgestellt werden solle, die klägerische
Person sich der Vornahme des Hypnotismus unterwerfen müsse. Auch
v. Lilienthal, der gerne zugesteht, dass die Feststellung der be¬
treffenden Thatsache, nicht die rechtliche Verwerthung der festge-
stcllten die schwerere Aufgabe sei, tritt für Vornahme der Hypnose
behufs Feststellung der Simulation ein. Doch da komme ich auf den
wundesten Punkt in der ganzen Hypnosenfrage. Denn die geschick¬
testen Meister sind bei Hervorrufung des hypnotischen Zustandes ge¬
täuscht worden. Sie glaubten es mit einem passenden Versuchsmedium
zu thun zu haben und mussten sich betrogen sehen. Auch heute noch
ist die Ansicht der Forscher über wirkliche, nachweisbare Symptome
des eingetretenen hypnotischen Zustandes getheilt. Die Einen sprechen
von nur rein psychischem Einflüsse des Hypnotiseurs, erkennen des¬
halb auch keine äusserlichen Merkmale an und leugnen consequent
mit Bernheim an der Spitze die nachtheiligen Folgen. Die Anderen,
unter denen in Frankreich ausser der Pariser Schule noch Fon tan
und Scgard in Toulon zu nennen sind und wozu die meisten deut¬
schen Forscher zählen, nehmen den Standpunkt ein, dass es phy¬
sische, physiologische Merkmale geben müsse, deren Kenntniss für
den Kliniker von differentiell diagnostischer Bedeutung sei. Solche
physikalische, der Hypnose eigenthümliche Phänomene erblicken sie
mit Charcot in der Contraction ganzer Muskelgruppen, in dem Spas¬
mus oculo-palpebralis, in dem Tremor der Augenlider, in der gestei¬
gerten Respirations- und erhöhten Herzthätigkeit. Indess muss ich
betonen, dass die Charcot’schen Zustände doch nicht bei allen Per¬
sonen in Hypnose auftreten und somit nur individuell verwerthet
werden dürfen. Bei anderen Personen, und es waren deren nicht
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UNIVERSUM OF IOWA
118
Dr. Sohmitz.
wenige, beobachtete ich allemal neben der leichten Hypnotisirbarkeit
Gefässneurosen, halbseitige Kopfcongestionen, welche nicht simulirt
werden können und wohl in foro einmal ausschlaggebend sein können.
Der erfahrene Gerichtsarzt wird nach weiteren, untrüglichen Merk¬
malen suchen, er wird sich seiner Stellung und Verantwortung stets
bewusst sein, nicht seine Wissenschaft zu einem Justizmorde leihen,
zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit strenge abwägen und den
Richter dementsprechend bescheiden.
Die heutige Lehre vom Hypnotismus in forensischer Beziehung
glaube ich auf Grund eigener Erfahrungen und gestützt auf die zu¬
verlässigste Literatur in folgenden Sätzen zusammenfassen zu können,
welche bereits in dem wissenschaftlichen Theile des Tageblattes der
61. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Köln S. 288
wiedergegeben sind:
1. Der Hypnotismus kann in den Händen des erfahrenen Arztes
ein Heilmittel, in den Stuben der Amateurs ein Gesundheit
und Leben, Moral und Sitten gefährdendes Werkzeug werden
und ist deshalb in den letzteren zu verbieten.
2. Die Schlussfolgerungen, welche von einzelnen, besonders fran¬
zösischen Forschern aus den Erscheinungen und Wirkungen
des Hypnotismus gezogen werden, sind zu gewagt, entsprechen
nicht Thatsachen und dürfen deshalb ohne Gefahr für Recht
und Moral nicht ihren Einzug in die Gerichtssäle halten.
3. Die Aufgabe, das Wesen des Hypnotismus in seinen einzelnen
Erscheinungen zu verfolgen und zu studiren, ist zwar eine
schwierige, für den Gerichtsarzt aber zur Aufdeckung von
Verbrechen, oder Betrug und Täuschung nothwendige.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
l.
Die Aichylostmei - Krankheit.
Von
Dr. Sehlegtendal,
Kreis-Physlkua za Lennep.
Die „Anchylostomen-Krankheit“ ist bedingt darob die Infeotion des Men¬
schen mit einem Parasiten, einem Eingeweidewurm, dem Anchylostoma duode¬
nale. Nach neueren Annahmen schon den alten Egyptern bekannt, wurde der¬
selbe doch eigentlich erst entdeckt von Dubini im Jahre 1838; er wird deshalb
auch mitunter Strongylus oder Dochmius Dubini genannt. Andere Synonyma
sind noch: Dochmius anchylostomum, Dochmius duodenalis. Sclerostoma duode¬
nale, Strongylus quadridentatus, Strongylus duodenalis und endlich, wenigstens
von Leichtenstern Torgeschlagen, Strongylus hominis intestinalis.
Die den Oxyuren verwandten Strongylidos gehören zur Ordnung der Nema¬
todes oder Spulwürmer und bilden eine Abtheilung der Nematelmia (Rund- oder
Fadenwürmer) und weiterhin der Klasse: Helmintha (Eingeweidewürmer). Als
menschlicher Parasit ist unter den Strongyliden noch der Strongylus bronchialis
bekannt.
Erkennungsmerkmale des Wurmes, seiner Eier und Larven.
Es hält nicht sehr schwer, ein sicheres Urtheil darüber zu gewinnen, ob
Würmer, die man etwa in den Fäces findet, Anchylostomen sind oder nicht. Be-
merkenswerther Weise wird die Differentialdiagnose dadurch sehr erleichtert,
dass speciell im menschlichen Darmcanal keine weitere Species dieser Art beob¬
achtet ist. Der Strongylus duodenalis besitzt dazu eine so charakteristische
Biegung des Kopfes nach der Rückenseite und gewinnt dadurch schon für das
unbewaffnete Auge ein so auffallendes Aussehen, dass eine Verwechselung mit
anderen Eingeweidewürmern kaum möglich erscheint.
Er ist von weissgelblicher, gelbrother oder direct röthlicher Farbe.
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120
Dr. Schlegtendal,
Die an Zahl etwa 2 1 /, mal häufigeren Weibchen sind grösser als die Männ¬
chen; sie messen nach Küchen mehster') 12 —18 mm, nach Leichten-
stern 2 ). dessen Angaben speciell die von Leuckart bestätigen, 7.0—16.5
(im Durchschnitt 11,48) mm. Demgegenüber betragen dio Maasse der Männchen
Dach Küchenmeister 6 -10. nach Leichtenstern 7—11.2 (im Durch¬
schnitt 8,3) mm. Die durchschnittliche Dicke der ersteren ($) beträgt 0,63 mm,
der letzteren ( ^) 0.46 mm. Die Männchen sind demnach kürzer und dünner.
Schon bei schwacher Vergrösserung finden sich weitere charakteristische
Merkmale des Anchylostoma duodenale. Während die. übrigens enorm selten be¬
obachteten Jugendformen der Ascariden eine ihrer ausgewachsenen Form ähn¬
liche Schlankheit besitzen (das Verhältniss von Dicke zu Länge beträgt bei An¬
chylostoma duodenale 1 :20. bei der Ascaris lumbricoides 1 :40 uod mehr); und
während die Oxyuren sich durch eine rein weisse Farbe, sowie durch ihr
Schwanzende auszeichnen, welches bei den Weibchen fast durchsichtig wird und
bei den Männchen eingerollt erscheint, und während die Anguillula intestinalis
endlich und die Ang. stercoralis durch ihre geringe Länge (1 bezw. 2,2 mm) gar
nicht in Vergleich gezogen werden können, bietet das Anchylostoma zur Erken¬
nung folgende sicheren Anhaltspunkte.
Die äussere Cuticula ist deutlich geringelt. Der an dem nach der Rücken¬
fläche umgebogenen Kopfende befindliche Mund ist weit und mit einer hornigen
Mundkapsel versehen. An seinem Eingänge befinden sich 6 Zähne, d. h. Chitin¬
vorsprünge. von denen 4 grössere, hakenförmige am Ventralrande, 2 kleinere am
Dorsalrande stehen. Ausserdem bestehen in der Tiefe der Mundkapsel, nahe der
Uebergangsstelle in das Pharyngealrohr, noch 2 dolchartige Chitinleisten, welche
wahrscheinlich den Zweck haben, die von den erstgenannten Zähnen erfasste
Darmschleimhaut anzubohren. — Auf den langgestreckten und dickwandigen,
d. i. musculösen Oesophagus folgt die Magenanschwellung, die in den nach ge¬
radlinigem Verlaufe am Hinterende mündenden, mit grossen Epithelien ausge¬
kleideten Darm führt.
Das Männchen besitzt an seinem Schwanzende die den Strongyliden eigene
glockenförmige Bursa copulatrix, die hier mehr breit als lang ist und von einer
Anzahl Rippen gestützt wird, welche am Rande in ebenso viele Papillen aus-
laufen. Auf dem Grunde der Bursa liegt ein kegelförmiges Organ, aus welchem
2 dünne Spicula hervorragen, welche beide etwa 2 mm lang sind. In die Bursa
mündet mit dem Darmcanal das Geschlechtsorgan, welches aus einem stark ge¬
wundenen Endtheil (Hoden und Samenleiter), einem dicht vor der Körpermitte
gelegenen ovalen Schlauch (Samenblase) und einem dicken Ductus ejaculatorius
besteht. Die Samendemente erscheinen als rundliche, ovale oder bimförmige
Körperchen.
Die weiblichen Geschlechtsorgane münden dicht hinter der Mitte des Kör¬
pers in einer Q.uerspalte. Auf die kurze einfache Vagina folgt centralwärts ein
zweibörniger Uterus, in den die vordere und die hintere Eiröhre auslaufen,
*) Küchenmeister und Zürn, Dio Parasiten des Menschen. S. 443.
2 ) Leichtenstern, Ueber Anchylost. duod. Deutsche med. Wochenschr.
1885. Ko. 28—30.
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UNiVERSUY OF IOWA
Die Anchylostomen-Krankheit.
121
welche sich bilden durch Vereinigung der überaus zahlreichen und den Körper
strotzend füllenden Ovarien und Eileiter.
Die Gestalt der Eier ist eine sehr charakteristische und leicht kenntliche.
Sie sind gleicbmässig oval, während die gleich grossen Eier von Oxyuris vermi-
cularis ein spitzes und ein stumpfes Ende haben. Die Dimensionen worden etwas
verschieden angegeben:
Lutz 1 ) (nach Leuokart). 0,05:0,028 mm
Küchenmeister u. Zü rn 2 ) 0.04—0,05 : 0,022—0,027 n
Menohe 8 ). 0,07:0,04 „
Leichtenstern 4 ) . . .0,056—0,063:0,036—0,04 „
Die feinkörnige, bräunlich gefärbte Dottermasse ist umgeben von einer
dünnhäutigen, glashellen Chitinhülle. Sahl i 5 ) giebt noch an, dass zwar die
Oxyureneier auf Zusatz von Essigsäure eine blasenartige Abhebung der äusseren
Lage des Chorion zeigen, dass dies aber bei den Eiern von Anchylostoma duode¬
nale nicht der Fall ist. Da die Eier noch innerhalb des mütterlichen Körpers
befruchtet werden und alsbald die Weiterentwicklung eingehcn, so findet man
dieselben in den Fäces nur im Stadium der Farchung; zumeist sind 2—4 — 8
Furchungskugeln ausgebildet. Da die Weibchen ausserordentlich fruchtbar sind
— Beobachter taxiren auf 6000 Eier pro Tag —, so sind die Fäces oft völlig
davon durchsetzt.
Oft schon innerhalb 48 Stunden, jedenfalls aber in 3 — 4 Tagen, ist die
Entwicklung der Eier so weit vorgeschritten und ist der Embryo so weit aus¬
gewachsen. dass derselbe die Eischale durchbohrt und in’s Freie tritt.
Diese Larve ist anfangs 0,2 mm lang und ca. 0,015 mm dick, um all-
mälig bis zu 0.7 — 0.8 mm Länge und 0,024—0 027 mm Dicke auszuwacbsen.
Das vordere Leibesende zeigt eine leichte Verjüngung, während das Hintertheil
in eine pfriemenförmige Spitze ausläuft. Die Mundöffnung führt in eine zwiebel-
oder birnenförmige Anschwellung, den sogenannten Pharyngealbulbus, in dessen
Grunde 3 Chitinzähne angebracht sind Der Darmcanal ist geradlinig und mün¬
det vor dem Schwänzende. Während nun Pharyngealbulbus und Darmcanal lang¬
sam wieder verschwinden, bildet sich einerseits innen die neutrale Geschlechts¬
anlage aus in Form eines kleinen linsenförmigen Körpers, andererseits aussen
eine Chitinhülle, welche allmälig immer stärker wird und schliesslich den Wurm,
der anfangs ausserordentlich lebhafte und allseilige Bewegungen ausführte, zur
fast völligen Ruhe verurtheilt. Früher wurde dieser Process als ein Stadium eines
Häutungsprocesses betrachtet; nach und nach hat sich aber die Meinung Per-
roncito’s Geltung verschafft, nach der wir es hier mit einer Art Einkapselung
zu thun haben.
') Lutz, Ueber Ankylostoma duod. und Anchylostomiasis. Klin. Vorträge
S 2302.
2 ) Küchenmeister und Zürn, a. a. 0. S. 444.
3 ; Manche, Anchyl. duod. bei d. Ziegelbrenneranämie. Zeitschr. f. klin.
Med. Bd. VI. S. 167.
4 ) Leichtenstern, a. a. 0.
5 j Sahli, Beiträge zur klin. Geschichte der Anämie. Deutsch. Archiv f.
klin. Med. XXXII. S. 423.
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122
Dr. Schlegtendal,
Leiohtenstern *) bat nämlich constatirt, dass sich zwar die äussere Haut
bei Neubildung einer inneren, secundären Haut and dnrch das Zwischentreten
einer glashellen Flüssigkeit zwischen die beiden abhebt, dass sie aber nicht ab¬
fällt. Vielmehr dient dieselbe in hervorragendem Maasse dazu, die nunmehr
ca. 0,5 mm lange Larve gegen Schädlichkeiten zu schützen.
In seltenen Fällen wird allerdings diese äussere Chitinhülle in der That
noch einmal abgestossen. Sie wird dann aber sofort neu gebildet. Weil nun
während dieses Processes der Neubildung der Gesammtorganismus in keiner Weise
weiter alterirt wird und insbesondere keine Spur von Generationswechsel beob¬
achtet wird, so liegt eben keine Häutung im gewöhnlichen Sinne vor, sondern
nur eine durch Zufälligkeiten bedingte jeweilige Unterbrechung und Wiederauf¬
nahme eines einfachen Einkapselungsprocesses.
Diese bewegliche, frei im Wasser lebende Larve ist nun die Form, welche
vom Menschen aufgenommen werden muss, wenn sich das Wesen weiter zum
Eingeweidewum wieder ausgestalten soll. Den Magen 3 ) passiren sie höchst wahr¬
scheinlich ohne Schaden; erst die alkalische Trypsinlösung des Dünndarmes löst
die Chitinschale. Hier im oberen Theile des Dünndarmes wird dieselbe gesprengt
und abgestossen, wodurch der Insasse frei wird und Gelegenheit findet, sich an
der Mucosa festzusetzen und seine Ausbildung zum ausgewachsenen und ge-
schlechtsreifen Strongylus durchzumachen.
Lebensweise and Lebensbedingungen des Anchylostoma duodenale
in seinen verschiedenen Entwicklungsphasen.
Nach der Infection pflegt beim Menschen eine klinisch latente Incubations-
zeit von mindestens 4 Wochen zu vergehen, währenddess die Larven langsam
zum Wurm heranreifen. Wahrscheinlich zur Zeit des Auftretens der ersten Be¬
schwerden für den Träger gehen die Thiete zum ersten Mal eine Copulation ein.
Vielleicht verlassen dieWürmer ihren gewohnten Platz überhaupt nur zum Zwecke
der Begattung; man muss annehmen, dass sie in der Regel ruhig sitzen. Sie
haften alsdann mit ihren vorderen Haftzähnen fest an der Schleimhaut, haben
dieselbe angestochen und entnehmen derselben durch Saugen das für sie erfor¬
derliche Blutquantum.
Die ausgewachsenen Thiere leben sioher eine lange Zeit.
Leichtenstern 3 ) hat auch über diese Frist die sichersten Angaben ver¬
öffentlicht. Mehrfach warschon festgestellt die Lebensdauer von mehreren (3—4)
Jahren; in einem Falle, wo 5 Jahre seit der Infection verstrichen waren, fand
Leichtenstern nur noch spärliche Parasiten, in einem solchen von 8jähriger
Dauer aber keine Exemplare mehr, obwohl nie Anthelmintica gereicht worden
waren. Danaoh würde »die natürliche Lebensdauer der Parasiten in maximo 5
Jahre erreichen können, jedenfalls aber nicht 8 Jahre überschreiten“.
') Leichtenstern, Einiges über Ankyl. duodenale. Deutsche medic.
Wochenschr. 1887. S. 646.
2 ) Derselbe, ebendort S. 670.
3 ) Leichtenstern, Weitere Beiträge zur Ank.-Frage. Deutsche medic.
Wochenschr. 1886. No. 11 —14.
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Die Anobylostomen-Krankheit.
123
Wir müssen deshalb annehmen, dass,während dieser Frist von höchstens
8 Jahren die Thiere entweder lebend, zufällig auf einer Wanderung begriiTon,
etwa gelegentlich einer Diarrhoe ausgeschwemmt werden, oder dass sie nach
Erreichung des Termines ihrer natürlichen Lebensdauer einfach zu Grunde gehen
und als Cadaver ausgestossen werden. Am ehesten schwinden die Weibchen, da
in den älteren Fällen das Verhältniss der Männchen zu den Weibchen (ursprüng¬
lich 1 : 2,4) sehr zu Gunsten der ersteren verändert ist.
Wie die specifiachen Abtreibungsmittel (Extr. filic. mar., Doliarin, Thy¬
mol etc.), so wirkt auch das Abkühlen des Körpers nach dem Tode des Menschen
auf die Darmparasiten lähmend bezw. allraälig vernichtend ein.
Uober die Bedingungen für die Entwicklung der Larven sind von Perron-
cito, Lutz und Leichtenstern genaue Beobachtungen angestellt. Dieselben
stimmen darin überein, dass die Ausbildung der Embryonen am sichersten vor
sich geht in den Fäcalmassen, welche bei einer möglichst gleichmässigen Tem¬
peratur von 25—30° C. eine mehr oder weniger constante Breiconsistenz be¬
wahren.
Setzt man den Fäces Lehm oder gar Garteoerde zu, so sollen nach
Leichtenstern *) relativ viele Larven verkümmern; andererseits hat Wucherer
in Brasilien die Thiere auch in feuchter Erde und Seifert 3 ) dieselben bei
Körpertemperatur in Lehm bis zur völligen Entwicklung der Larven gezüchtet.
Sind die Fäcalmassen zu flüssig, so verderben die Embryonen meist im Ei; ebenso
wenig gedeihen sie in harten, trockenen Massen.
Abkühlung vertragen die wachsenden Thiere gut, da sie nur eine verlang¬
samte Entwicklung oder höchstens einen vorübergehenden Stillstand in derselben
zeigen. Hitze dagegen ist wohl geeignet, ihnen ernstlich zu schaden. Bei einer
Hruttemperatur von 37—38°C. entwickelte sich zwar bei Leichtenstern eine
kleine Anzahl in sehr beschleunigtem Tempo, es gingen aber sehr viele Eier zu
Grunde. Ebenso tödtet nach Lutz 3 ) die Einwirkung directen Sonnnenlichtes
und nach Perroncito 4 ) eine Temperatur von 45—46° C.
Von direct tödtendem Einfluss auf die Larven sind ferner nach Lutz zu
intensive Fäulnissprocesse, sowie gewisse unorganische und organische Gifte, wie
geringe Mengen Jod, Extr. filic. mar., Thymol, Spiritus vini, Carbol, Sublimat
(Leichtenstern) etc.
Die Bedeutung der Parasiten für den Wirth.
Was nun die Schädigung anlangt, die der Organismus durch die Anwesen¬
heit dieser Parasiten im Darmcanale erleidet, so ist dieselbe eine sehr beträcht¬
liche. Wenn sich auch manohe Affection in mässigen Grenzen hält, und auch
•) Leichtenstern, Ueber Anch. duod. bei den Ziegelarbeitern. Deutsche
med. Wochenschr. 1885. No. 28—30.
2 ) Seifert u. Müller, Ueber das Vorkommen von Anch. duod. bei Würz¬
burg. Centralbl. f. klin. Med. 1885. S. 457.
•) Lutz, a. a. 0. S. 2307.
4 ) Concato et Perroncito, Sur l’anchylostomiase. Compt. rend. T. 90.
No. 11. S. 619.
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124
Dr. Schlegtendal,
manche Fälle von spontaner Ausheilung constatirt sind, so ist doch andererseits
jeder Befallene für eine lange Zeit seines Lebens mindestens in seiner Kraft und
Gesundheit auf’s Erheblichste beeinträchtigt. Viele tragen ein unheilbares Siech¬
thum davon, und sehr Viele sterben an den directen Folgen, so dass das Anchy-
lostoma duodenale unstreitig zu den unheilvollsten Eingeweidewürmern za rech*
nen ist.
Während die Initialsymptome nach Ablauf der ca. 4wöchigen Latenzperiode
vorwiegend gastrischer Natur sind und in Koliken, gestörter Verdauung und
blutigen Stuhlgängen bestehen, tritt allmälig das Symptom zu Tage, welches der
Anchylostomiasis im eigentlichen Sinne angehört, das der schweren Anämie mit
allen ihren Folgen. Mit fast absoluter Sicherheit kann ja jetzt angenommen
werden, dass „egyptische Chlorose“, „tropische Anämie“, „Anämie der Gott¬
hardttunnelarbeiter“, „Ziegelbrenner-Anämie“, „Bergcachexie“ und „Mineur-
Anämie“ allesammt nur durch bisherige Unkenntniss bedingt, nach jeweiligen
localen Rücksichten entstandene Namen der einen nämiichen Krankheit sind. Und
in allen diesen Namen liegt der Nachdruck auf der Blutarmuth beziehentlich ihren
Folgen.
Wenngleich die Portion Blut, die der einzelne Parasit in Anspruch nimmt,
trotz seines Luxusverbrauches eine kleine ist (man hat sie auf ca. 1 Tropfen in
24 Stunden berechnet), so kommt doch in Betracht: 1) dass zumeist die Würmer
nach Hunderten zählen. Ich finde bei Leichtenstern l ) eine Tabelle von 26
Fällen; unter diesen sind nur 9, in denen die Zahl 100 nicht erreicht ist; 9 ent¬
halten mehr denn 200, 3 mehr denn 500 und 1 über 1000. Ferner trieb Pa-
rona in einem Falle 1250 Stück auf einmal ab, Grassi fand deren sogar über
3000 in einer Leiche; und in seiner letzten Veröffentlichung erwähnt Leichten¬
stern 2 ) einen Fall, bei dem die Obduction 991 Würmer naobwies. Ernst*)
endlich zählte ebenfalls in einer Leiche 2763 Stück. Bei der Anwesenheit von
nur 500 Parasiten im Darm würde nun bei obiger Berechnung des Blutverlustes
immerhin schon eine Mengo von täglich 20—25 Gramm resultiren. Dazu kommt
aber, dass 2) dieser Verlust innerhalb jeder 24 Stunden ein gleich hoher ist und
bleibt, und zwar Monate, Jahre lang, so lange nicht eine Behandlung die Para¬
siten abtreibt resp. dieselben von selbst absterben. Diese Berechnung ist natür¬
lich auch vollauf geeignet, etwaige Einwände zu widerlegen, welche dem kleinen
Wurm eine so hohe Bedeutung abstreiten wollen. Vielmehr ist es charakteristisch,
wie gut sich die objectiven Symptome in ihrer langsamen Steigerung decken mit
den theoretischen Schlüssen, wenn man bedenkt, wie sich eine kräftige, gesunde
Mannesnatur einem ganz stetigen, dazu noch mit Störungen im Intestinaltractus
verbundenen Blutverlust gegenüber verhalten wird. Zuerst genügt noch eine ge¬
steigerte Action der hämatopoetiscben Organe zum Ausgleich, vielleicht aber auch
von vornherein nicht. Aber die Kräfte des Körpers sind in einer solchen Fülle
vorhanden, dass das Minus im circulirenden Blute nicht sogleich gespürt wird,
’) Leichtenstern, Weitere Beiträge. Deutsche med. Wochenschr. 1886.
2 ) Derselbe, Einiges über Anchyl. duodenale. Deutsche med. Wochen¬
schrift. 1887.
3 ) Ernst, Einige Fälle von Ankylostomiasis nebst Sectionsbefunden.
Deutsche med. Wochenschr. 1888. No. 15.
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Die Anchylostomen-Krankheit. 125
wenn auch schon das bleiche Colorit der Haut dem Auge die Verminderung der
Blutmenge anzeigt.
a Nach einigen Monaten führt dann aber die Anämie zum Erschlaffen und
schliesslich zum Verlust aller Kräfte. Die Kranken bieten alsdann in ihrem Aus¬
sehen und ihrem geschwächten Zustand vollständig das Bild hochgradigster,
sogenannter perniciöser Anämie dar. In der ersten Zeit ist natürlich noch Heilung
möglich; ja, das Krankheitsbild kann schon durch Auftreten von Hydrops und
Anasarka so bedrohlich geworden sein, dass ein Ausgleich nicht mehr möglich
erscheint, und doch kann eine kräftigeNatur wieder schnell gesunden, wie mittler¬
weile viele Beobachter gesehen haben, wenn nur der weitere Blutverlust durch
Abtreiben der Parasiten coupirt wird. Dieser Terminus ad quem ist natürlich bei
den einzelnen Individuen ein sehr verschiedener. Kinder, Frauen und irgendwie
hereditär oder durch voraufgegangene Krankheiten belastete Männer dürften re¬
lativ eher an diese Grenze kommen. Von grosser Bedeutung ist natürlich auch
die Frage, ob die Kranken in der Lage sind, eine gesunde und kräftige
Nahrung zu sich zu nehmen, ferner, ob sie anderweit in hygienisch günstigen
Verhältnissen leben.
Wird nun der Krankheit kein Stillstand geboten, so führt sie in den meisten
Fällen zum Tode. Nach verschiedenen Autoren lag bei der Section dann vor:
allgemeine Abmagerung, welke Musculatur, ausgedehnter Hydrops als Anasarka
und Höhlenhydrops; Herzinsufficienz und Lungenödem; Meningeal- uud Hirnödem
und verbreitete Amyloidentartung der inneren Organe. Dass in einem so marasti-
sehen Körper etwaige Complicationen doppelt schädigend wirken müssen und
einen ungemein empfänglichen Boden finden, liegt auf der Hand. Besonders
gilt dies von der Tuberculose. Leichtenstern führt aber auch einen Fall von
Endocarditis an, dessen Aetiologie er zum Theil mit in der Anämie der Anchylo-
stomiasis sucht.
Auf eine Wiedergabe der detaillirten Schilderung der klinischen und patho¬
logisch-anatomischen Befunde glauben wir verzichten zu können, weil diese Ka¬
pitel nicht in den engeren Rahmen unseres Themas zu gehören scheinen. Man
findet dieselben sehr gut bei Lutz in den „Klinischen Vorträgen“, No. 255, 256
u. 265.
Verbreitung der Anohylostomen-Krankheit.
Wir hätten nunmehr nach der Verbreitung und dem eigentlichen Gebiet der
Anchylostoma-Krankheit zu forschen. Während die Berichte aus Egypten und
den Tropen keine besonderen Beschäftigungsklassen der Bevölkerung als der
Anchylostomiasis vor Allem ausgesetzt angeben, und während sie auch in Italien
weniger an derartige Schranken gebunden zu sein scheint, sind es diesseits der
Alpen vorwiegend zweiGruppen von Arbeitern, bei denen dieser Parasit gefunden
ist. Einmal sind dies die Bergleute, denen wir die Tunnelarbeiter ohne Zwang
zurechnen dürfen, und sodann die Ziegelarbeiter, zu denen neuerdings noch Erd¬
arbeiter hinzugekommen sind, die dicht an Ziegelfeldern bei Fortificationsarbeiten
(Köln) beschäftigt waren. Gerade die Ziegelarbeiter haben nun durch die Ver¬
öffentlichungen Leichtenstern’s besondere Beachtung gefunden, und sie ver¬
dienen auch unsererseits ein besonderes Interesse, weil sich bei ihrem im offenen
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12G
Dr. Schlegtendal,
Tageslicht sich abspielenden Gewerbo am leichtesten und zugleich am sichersten
die Untersuchung nach dem Wege der Infection vornehmen Hisst.
Die Ziegler trennen sich in die Ziegelbrenner, welche sich lediglich mindern
Aufbau und dem Betriebe des Ofens beschäftigen, wozu sie nur schon fertig ge¬
formte und ausgetrocknete Ziegel erhalten, und in die eigentlichen Ziegelarbeiter,
-Verfertiger. Letztere, meist zu bestimmten Arbeitsverbänden (sogenannten
„Pflügen“) vereint, schaffen in streng geregelter Arbeitsteilung. Die Einen
hacken und schaufeln die lehmige Erde los, wobei sie den hohen Band des aus-
geziegolton und nunmehr tiefer gelegenen Arbeitsfeldos immer weiter auf dem
Terrain vorschieben. Die Anderen verarbeiten sodann diesen Lehm unter Wasser¬
zusatz zu einem dünneren, gut knetbaren Brei. Auf grösseren Ziegeleien giebt
es hierfür bestimmte Knetmaschinen mit Göpelwerk oder Dampfbetrieb, auf klei¬
neren geschieht dies aber noch durch Treten und Stampfen mit den entblössten
Füssen. Von hier gelangt der Brei auf Tische, an denen meist die weiblichen
und jüngeren Glieder (auch Kinder) beschäftigt sind. Sie pressen den Lehm in
Formen, stülpen dieselben um und bestreichen sodann die Ziegel aussen mit
etwas Sand oder trockenem Lehm. Die so weit fertigen, aber noch feuchten und
weichen Ziegel tragen nun andere Frauen und Kinder zuerst auf Strohunterlagen,
auf denen sie einige Tage ausgebreitet liegen, und sodann nach mauerartigen
Aufbauen hin, welche so lose zusammengesetzt und mit so weiten Lücken ver¬
sehen sind, dass die Luft gut durchstreichen kann, um die Ziegel zu trocknen.
Erst nach einiger Zeit werden sie von hier zu Oefen mit zwischengeschichteter
Kohle zusammengesetzt oder in die gemauerten Ringöfen transportirt zum Zweck
des Hartbrennens.
Sieht man nun die verschiedenen Arbeiter an, so fällt Einem sofort auf,
wie gegenüber den zwar von Kohle, Russ oder Erde beschmutzten, aber sonst
relativ properen „Brennern 4- die eigentlichen Lehmarbeiter nicht nur Hände und
Füsse dick mit Lehm überzogen haben, sondern wie auch ihre Kleider und ihr
Gesicht über und über mit Lehmkrusten beschmutzt sind. Es rührt dies daher,
dass sie sämmtlich mit dom nassen Lehm zu thun haben, der bei der ange¬
strengten und emsigen Arbeit um so leichter umherspritzt, als sie zumeist noch
Wasser zur Hand haben müssen, sei es, um ihn erst anzurühren und durchzu¬
kneten, sei es, um die Formen anzufeuchten und die ausfallenden Ziegel mit an¬
gefeuchteten Fingern glatt zu streichen. Es ist leider als selbstverständlich zu
betrachten, dass sie in diesem Schmutz der Hände und der Lippen auch ihre
Mahlzeiten zwischen der Arbeit einnehmen und somit natürlich auch eine Menge
Erdpartikelchen hinunterschlucken müssen. Leiohtenstern hat ja auch durch
Dekantiren mit Wasser den grossen Gehalt der Fäces dieser Leute an Sand nach¬
gewiesen.
Hierin dürfte aber auch die Möglichkeit der Infection mit Anchylostoma zu
suchen sein, denn es hat sich berausgestellt, dass nicht die Brenner, sondern
aussohliesslioh diese eigentlichen Lehm- und Ziegelarbeiter die Anchylostomen-
Krankheit acquiriren. Bei den primitiven, weil nur für die Sommercampagne im-
provisirten Wohn- und Lebeverhältnissen existiren nämlich an Ort und Stelle
keine Aborte. Diese, Tag und Nacht dicht zusammonlebenden Menschen ent¬
behren dieselben nicht aus etwaigem Schamgefühl, noch auch würden sie die¬
selben gern aufsuohen, wenn sie existirten und etwas entfernt vom jeweiligen
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Die Anchylostomen-Krankheit.
127
Arbeitsgebiet stehen würden. Statt dessen deponiren sie ihre Fäcos, soweit sie
während der Arbeit das Bedürfniss des Entleerens fühlen, allemal auf den noch
intacten, zumeist etwas grasbewachsenen Theil des Feldes und zwar unweit des
Randes. Einige Zeit lang sind die Fäces hier sich selbst überlassen, dann aber
rückt das Arbeitsgebiet an diese Stelle heran, und mit der dünnon Humusschicht
wird auch der Rest der Fäcalmassen in den Lehmbrei verarbeitet.
Kommt nun ein solcher Kothhaufen von einem mit Anchylostoma Inficirlen,
so haben die Eier, deren bei Anwesenheit von 200 Weibchen im Darm des be¬
treffenden Trägers schon jedesmal ca. 1 */ 2 Millionen vorhanden zu sein pflegen,
nach dem, was wir oben erörtert haben, die beste Gelegenheit, sich bei sommer¬
licher Wärme im unvermengten Stuhle zu enw'ckoln. Zwar ist die directe
Sonnenstrahlung und die Austrocknung allerdings schädlich. Aber wenn auch
die in den Aussenpartien ansässigen Eier und Embryonen verkümmern, so ist dies
nur dasselbe Schicksal, das sich allenthalben in der Natur vollzieht bei dem
Uebermaass von Keimen, die sie behufs möglichst sicherer Fortpflanzung der Art
erzeugt. Meist wird dafür im Centrum dos Haufens eine genügende Anzahl von
Embryonen die hinreichende Entwicklung durchmachen, um bei der alsbald er¬
folgenden Verarbeitung des Untergrundes und Vermengung mit dem nassen
Lehmbrei als resistentere Larven weiteren Fahrnissen gewachsen zu sein.
Leichtenstern ') hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch das Wasser
der Infectionsträger sein könne. Da zum Ziegeln viel Wasser benutzt wird, so
wird gewöhnlich eine ergiebige Wasserader oder das Grundwasser auf dem Ter¬
rain selbst angebobrt und hier eine Pumpe eingesetzt, die oft auf hohem Gerüst
angebracht wird, wenn behufs Erzielung des nöthigen Gefälles bis zu den Bot¬
tichen nächst der Arbeitsstelle bei einer längeren Leitung das Anfangstheil hoch
über dem Erdboden liegen muss. Diese Leitung ist nun von primitivster Art.
Bretter, mit den Kanten zu einom etwa 90° betragenden Winkel zusammenge¬
legt. bilden eine offene Rinno, deren Boden mit Lehm verschmiert und wasser¬
dicht gemacht wird. Solche Rinnen werden in genügender Zahl an einander ge¬
reiht, wobei auch die Verbindungsstellen und etwa anzubringende Winkel mit
Lehmballen verkittet werden, bis sie in grosse Bottiche münden, aus denen das
erforderliche Wasser zugleich zum Trinken und zum W'aschen und zur Verarbei¬
tung des Lehmes geschöpft wird. Hier ist aber stets ein Bodensatz vorhanden,
der zum Theil aus mitgerissenen Partikelchen aus den Rinnen, zum grössten
Theil aber von den mit Lehm beschmutzten Händen und Gefässen stammt, mit
denen das Wasser geschöpft wird. Da dieser Bodensatz nun leicht aufgerührt
wird, so können damit Anchylostomalarven auch in vorher reine Gefässe und in’s
jeweilige Trinkwasser gelangen. —
Einige Zeit hindurch war in Deutschland die Anchylostomiasis nur unter
Ziegelarbeitern bekannt. Es war aber anzunehmen, dass dieselbe überall da auf-
treten würde, wo Beschmutzung mit Lehm und Erde stattfindet, sobald eine ln-
ficirung der letzteren möglich war. Mit fast absoluter Gewissheit haben die Unter¬
suchungen Leichtenstern’s ergeben, dass der grösste Herd Deutschlands, die
Ziegeleien zunächst bei Köln, fortwährend und ausschliesslich durch W r allonen
*) Leiohtenstern, Ueber Anch. duod. bei den Ziegelarbeitern. Deutsche
med. Wochensohr. 1885.
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128
Dr. Schlegtendal,
inlicirt wird, und dass sich dieser Herd deshalb lange Zeit hindurch nicht auf
andere Arbeitsgebiete ausdehnte, weil die Wallonen ausschliesslich Ziegler sind,
und weil auch die hier einmal beschäftigten und möglicherweise inficirten Deut¬
schen nicht leicht eine andere Beschäftigung aufsuchen. Den glänzendsten Beweis
für die Richtigkeit dieser Beobachtung lieferte ein Pall, der anfangs anscheinend
eine Ausnahme von der Regel bildete. Dicht bei den Ziegeleien war das Gebiet
der bislang von Anchylostoma gänzlich verschont gebliebenen Befestigungs¬
arbeiter, welche in der nassen Erde nicht viel weniger mit Lehm etc. beschmutzt
werden als die Ziegler. Eines Tages stellte sich nun auch von diesem Arbeits¬
gebiete, auf dem keine Wallonen arbeiten, ein mit Anchylostoma Behafteter vor.
Nach vielen Mühen gelang es nun, den Weg, den diese Infection genommen, auf¬
zufinden. Der Betreffende hatte mit einem Anderen zusammengearbeitet, der
seinerseits früher als „Ziegler“ inficirt worden war. Unfähig, den dortigen
schweren Dienst bei seiner typischen Anämie zu verrichten, batte dieser versucht,
die etwas leichtere Arbeit bei der Forlification zu leisten. Er war angestellt wor¬
den und hatte nun die Infection auch auf diese bis dahin freigebliebenen Gebiete
übertragen. Es ist wohl nur ein glücklicher Zufall, dass die letztgenannten Ar¬
beiter bis dahin noch nicht von zahlreich angestellten Italienern inficirt worden
waren; denn den nahe liegenden Verdacht, dass die Italiener leicht den Parasiten
aus ihrem vielfach inficirten Vaterland einschleppen möchten, konnten Seifert
und Müller 1 ) stützen durch den Befund von Anchylostoma duodenale bei italie¬
nischen Ziegelarbeitern in oiner Ziegelei bei Würzburg.
Die bei Köln von März bis August beschäftigten Wallonen arbeiten nun
während der übrigen Monate in Bergwerken ihres Heimathlandes Belgien. Und
hier dürfte ein gleich constanter, wenn auch nicht so ausgebreiteter Dauerherd
zu suchen sein, wie ihn Oberitalien darstellt. Der erste Patient May er’s 2 ) in
Aachen z. B., von Geburt ein Westfale, hatte eine Zeit lang in Seraing bei Lüt¬
tich im Kohlenbergwerk gearbeitet und sich dort jedenfalls inficirt. Zwar ver¬
suchte Fahre 3 ) die Kohlendistricte an der Loire und im Norden Frankreichs
und in Belgien als frei von Anchylostoma duodenale darzustellen, aber nicht
allein Drousart 4 ) fand diesen Parasiten zwei Mal bei Untersuchung verdächti¬
ger Fälle, sondern es konnte sowohl Leichtenstern 5 ) hiergegen eine Mitthei¬
lung des Professor Firket in Lüttich von einem tödtlich verlaufenen Fall von
Anchylostoma duodenale citiren, als auch Masius et Francotte 6 ) diese letz¬
tere Angabe durch weitere thatsächliohe Beobachtungen erweitern und be¬
kräftigen. —
1 ) Seifert und Müller, a. a. 0.
2 ) Mayer, Ein zweiter Fall von Anch. duod. in der Rheinprovinz. Central¬
blatt f. klin. Med. 1885. S. 145.
3 ) Fahre, Les mineurs et l’anemie. Communicat. faite ä la soc. de l’ind.
minär. 1884.
4 ) Drousart, cf. Referat im Centralbl. f. klin. Med. 1885. S 362.
5 ) Leichtenstern, Ueber das Vorkommen von Anch. duod. Centralbl. f.
klin. Med. 1885. S. 197.
6 ) Masius et Francotte, L’Anchyl. duodönal. Extr. du Bull, de l’acad.
royal de mäd. de Belg. 3. ser. Tom. XIX.
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Die Anchylostomen-Krankheit.
129
Wenn wir hieran anschliessend die Verhältnisse der Bergleute betrachten,
so finden wir, dass hier kaum geringere Gelegenheit gogeben ist als bei den
Ziegelarbeitern, sowohl um eventuell die Infection zu vermitteln, als um den
aussermenschlichen Formen des Parasiten ihr Fortkommen zu ermöglichen. Auch
die Grubenarbeiter defäciren oft in den dunklen Stollen unweit der Arbeitsstätte.
Bei der Arbeit selbst und in den engen Gängen werden sie nicht minder allent¬
halben mit Wasser und Schmutz bespritzt und bedeckt. Meist ist in den Gruben
eher zu viel als zu wenig Wasser vorhanden; und bei der Benutzung des Wassers
zum Waschen von Händen und Gesicht und zum Ausspülen der Geschirre wird
oft nicht weiter gefragt, woher der betreffende Wasserlauf stammt. Eine zweite
Möglichkeit wäre die, dass sich Anchylostomakeime in den Tümpeln und Wasser¬
lachen ansammelten, welche sich auf dem Boden der dunklen und feuchten Gänge
befinden, und dass dieses Wasser entweder direct am Menschen emporspritzt oder
die Gerätschaften beschmutzt, von denen mittelbar die Einführung in den Mund
erfolgen könnte, ln diesem Sinne versuchte Sonderegger 1 ) die Infection eines
seiner Patienten zu erklären, eines Ingenieurs, der erst im 3. Jahre seiner Thätig-
keit am Gotthardtunnelbau erkrankt war und natürlich nie selbst im Tunnel ge¬
arbeitet hatte.
Wenn aber einmal eine Grube, die etwa in Bezug auf strömende Gewässer
nicht zu ungünstig veranlagt ist, inficirt worden ist, so kann dieselbe einen noch
viel schlimmeren Herd abgeben, als es Ziegelfelder sind. Während hier auf
dem freien Felde schon im Sommer die directe Sonnenstrahlung und die Aus¬
trocknung der Fäces viele Embryonen vernichtet, und der Winter mit Frost und
Eis wahrscheinlich meistens die letzten Spuren der Brut vernichtet, finden wir in
der gleichmässigen und dazu erhöhten Temperatur der Gruben (nach Völckers 2 )
28.0—30.5° C. in der Luft und 25,7° C. im Wasser), in der feuchten und fer¬
ner genügend sauerstoffhaltigen Luft der Gruben 2 Momente, welche unter Um¬
sländen in Nichts den Verhältnissen eines künstlichen Brütofens nachgeben.
Unter solchen Verhältnissen muss die in den Dejectionen verborgene Aussaat vor¬
trefflich gedeihen, um sich dann bei günstigen Umständen im Wasser und
Schmutze zu vertheilen und zu weiteren Ansteckungen Gelegenheit zu geben. —
Die Arbeit der Tunnelarbeiter gleicht zu sehr der der Bergleuto, als dass
sie einer gesonderten Besprechung bedürfte. Wir können es aber nicht unter¬
lassen, darauf hinzuweisen, wie gut sich mit unseren bisherigen Angaben und
Erörterungen eine früher etwas dunkel gebliebene Beobachtung vereinbaren lässt;
ich meine die, dass bei dem Bau des Gotthardtunnels die Epidemie nicht gleich
anfangs, sondern erst viel später so stark hervortrat. Hierfür lassen sich folgende
Gründe anführen:
1) Die wenigen Arbeiter, die von früher her inficirt waren, fielen nicht auf,
desgl. diejenigen nicht, welche bei Beginn der Arbeiten erkrankten.
2) In der ersten und in der nächstfolgenden Zeitspanne waren die Bedin-
') Sonderegger, Ankylostoma duoden.
1881. No. 20.
2 ) Völokers, Ueber die Anch.-Epidemie
klin. Wochenschr. 1885. S. 573.
Vi«rt*IJfthrt»«hr. I. ger.
Digitizer! by GOOgl
Med. N. F. LH. 1.
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Corresp. Bl. f. Schweiz. Aerzte.
bei Höngen bei Aachen. Berl.
9
Original from
UNIVERS1TY OF IOWA
Dr. Sc h I o g t o n d :i i,
130
gungon i’iir die Entwicklung d»*r Epidemie nu-di i;icht günstig, und vor Allem
waren die schon neu Inlicitien no*'h arh.-jLfähig.
l\) K?st in der weitiTer, und allerdings relativ längsten Periode fielen diese
Kranken endlich ah. Zuehdeti war der Tunnel seliori >*o tief geworden, dass die
Arbeiter viel nn-hr als th üli■*r in demselben seihst deläo.irien. Dazu kam dann
hoch, dass man lei dem tieferen Aul ehren des Berges aiimälig in den Bereich
der ei höhten Kiaitemperatnr ^«•kommen war. und die Hier zu ihrer Entwicklung
nunmehr die. so günstige Brut wärme genossen. Nachdem aher di.* Gewässer und
die Erde inlicirt waren, musste die Gefahr für die ganze Colonne der Arbeiter um
so grösser werden, je weiter das Arbeitsgebiet vorgeschoben wurde, je länger
und zeitraubender der Weg bis dahin war. und somit jeder Einzelne viel häufiger
uud längere Zeit den Gelegenheiten der Uebertragung ausgesetzt wurde.
Praktische Folgerungen — vom s a n i t ä t s p o 1 i z e i 1 i c h e n Standpunkt,
Ueberblicken wir noch einmal den Cyclus der Lebensformen des Parasiten,
so finden wir zwei scharf geschiedene Stadien der Entwicklung: das erste ist die
Zeit der Ausieifung des Eies bis zur Larve; dasselbe verläuft ausserhalb des
menschlichen Körpers; — das zweite ist die Frist, die das Individuum tbeils als
sich noch ausbildender, tbeils als geschlechtsreifer Parasit innerhalb des mensch¬
lichen Tractus intestinalis zubringt. Da das fertige Individuum mit der perpe-
tuirliclien und abundanten Eierproliferation die stete Ursache von neuen Entwick¬
lungsreihen ist, so beginnen wir zweckmässig mit diesem Stadium, wenn wir
untersuchen wollen, ob und inwiefern die Sanitätspolizei Veranlassung nehmen
muss, zur Anchylostomenkrankhoit Stellung zu nehmen.
Zunächst ist die Frag#', ob überhaupt Veranlassung dazu vorliegt, unbedingt
zu bejahen. An und für sich betrachtet, gehört diese Krankheit augenscheinlich
zu denen, welche eine hohe MortalitatsziITer haben. Leider existirt noch keine
Statistik, die über die Sterblichkeit der Befallenen authentische Auskunft er-
theilte. Einerseits sind aber im Laufe der Jahre so viele Sectioneri gemacht
worden, welche die Anchylostomiasis als Todesursache sicher gestellt haben,
andererseits finden sich in den verschiedenen Berichten so viele Hinweise auf
Erkrankte, welche nach tiefem Siechthum gestorben sind, ohne obducirt worden
zu sein, und endlich sind die Beobachtungen von ^tatsächlichen Spontanheilun¬
gen so ausserordentlich selten, dass dieses parasitäre Leiden ohne Zweifel eine
sehr infauste Prognose quoad vitam besitzt. Aber auch abgesehen von der Mor¬
talität würde schon die Rücksicht auf das meist mehrjährige Siechthum schwer¬
sten Grades mit Aufhebung jeglicher Arbeitsfälligkeit dazu zwingen, an kurative
und prophylaktische Maassnahmen zu denken.
Der Umstand, dass diese Krankheit bislang nur eine verhältnissmässig ge¬
ringe Ausbreitung gewonnen hat, kann natürlich nicht dagegen angeführt werden,
vielmehr muss dies nur um so mehr dazu bestimmen, den noch relativ kleinen
und übersichtlichen Infeetionsherd in den westlichen Gebieten Preussens baldigst
gründlich zu säubern und den Schutz gegen neue Infection anzustreben. Je weiter
erst einmal die eierführenden Fäces der inficirten Arbeiter deutschen Stammes
nach Osten zu die Aussaat vermittelt haben würden, desto schwieriger und
zweifelhafter würde der Kampf gegen den Parasiten werden.
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Die Anchylostomen Krank beit.
13 1
Durch die vielfachen Arbeiten Leie htenstern’s sind die Verhältnisse
und Beziehungen der Anchylostomenkrankheit innerhalb des Rayons der Kölner
Ziegelfelder so klar gestellt, dass es zweckmässig erscheint, die Principion der
sanilätspolizeilichen Maassnahmen aus den dort gemachten Erfahrungen herauszu¬
schöpfen und dieselben als Grundlage für weiter gültige Vorschriften zu be¬
nutzen. Denn mehr oder weniger ist jedes überhaupt noch nicht inficirte Gebiet
zu vergleichen den dortigen Ziegelfeldern vor dem Beginn einer jeden Sominer-
campagne.
Wenn wir absehen von der durch Leichtenstern urgirlen, von ihm selbst
aber als wahrscheinlich seilen bozeichneten Möglichkeit, dass einmal in einem
milden Winter eine Anzahl Larven an Ort und Stelle bis zum Wiedereintritt der
warmen Jahreszeit am Leben geblieben sein kann, sind die Ziegelfelder als rein
und keimfrei zu betrachten, bis die wallonischen Arbeiter einrücken, um die
Campagne zu eröffnen. Diese sind nach Leichtenstern zweifellos die Infec-
tionsträger. Die Männer arbeiten im Winter in belgischen Bergwerken und ac-
quiriren zu einem sehr hohen Procentsatz ihrer Zahl dort das Anchylostomum.
Ihre Fäcos, auf dem Ziegolfeld abgesetzt, enthalten die Eier und damit den Keim
lür weitere Infectionen unter ihren Familienangehörigen, Stammesgenossen und
unter ihren anderen Mitarbeitern.
Eine Erfolg versprechende prophylactische Thatigkeit müsste also schon vor
diesem Zeitpunkt eingreifen. Sämmtliche einrückenden Wallonen müssten, noch
bevor sie irgendwo ihr Heim aufschliigen, etwa für 2 Tage behufs Beobachtung
internirt werden. Da das äussere Aussehen die ersten Stadien der Krankheit
nicht erkennen lässt, die Diagnose sich vielmehr absolut sicher nur auf den Fund
der Eier stützt, so müssen die Vorkehrungen dahin getroffen werden, dass von
jedem Einzelnen während dieser Quarantänezeit mindestens 2 Stuhlgänge in
sachverständiger Weise untersucht werden. Diese Untersuchung ist so anzu¬
stellen. dass von dem Koth ein kleines Partikelchen mit Wasser zu einem dünnen
Brei angerührt, und hiervon behufs mikroskopischer Untersuchung auf einen Ob¬
jectträger gestrichen wird. Schon bei einer Vergrösserung von etwa 100 (linear)
sind die Eier vollkommen sicher zu erkennen. Zwar sind dieselben, als aus den
höchstgelegenen Darmpartien stammend, erfahrungsgeinass stets im Kothe sehr
gloiehmässig vertheilt. Gleichwohl muss gefordert werden, dass die jedesmalige
Untersuchung im Falle negativen Resultates sieh auf etwa 3—5 Partikel der
Kothmasse erstrecke. Diejenigen nun, die frei von Anchylostomum sind,
haben ein mit dem Datum der Untersuchung und mit der Unterschrift des Unter¬
suchenden versehenes Certificat zu erhalten, welches fortab für jeden Wallonen
überhaupt erforderlich sein müsste, wenn er die Erlaubniss zum Arbeiten inner¬
halb deutschen bezw. preussischen Gebietes haben soll.
Diejenigen Individuen aber, bei denen die Untersuchung Anchylostomum-
Eier nachweist, sind ungesäumt und zwangsweise so unterzubringen, dass einer¬
seits mit absoluter Sicherheit ihre Stuhlgänge behufs Desinfeelion gesammelt
werden können, und dass andererseits eine ärztliche Behandlung Platz greifen
kann. An und für sich ist selbstverständlich ein Krankenhaus der geeignetste Inter-
nirungsort. Wenn aber diese Maassregeln eine Ueberfiillung der vorhandenen
Räume verursachen sollten, so wäre für diese Kianken ein Local zu beschaffen,
in dem ein gesunder Aufenthalt bei Tag und Nacht möglich ist, und welcher
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Dr. Schlegtendal,
derartige Closeteinrichtungen hat, dass eine sichere Desinfection sämmllicher
Fiicalien statthaben kann. Als strenge Hansregel muss statuirt werden, dass die
Kranken das Haus überhaupt nicht verlassen, bevor sie nicht als geheilt mit
einem entsprechenden Attest entlassen werden können. Liegt dieses Haus nicht
dicht beim Krankenhause, so dass die Stuhlgänge nach dort zur Untersuchung
gebracht werden können, so muss ein Zimmer reservirt werden, in welchem mi¬
kroskopische Untersuchungen anzustellen sind.
Was nun die Orte betrifft, in welchen derartige Beobachtungsstationen zu
errichten wären, so kämen in Betracht solche, in deren Nähe grössore Ziegelfelder
gelegen sind und solche in der Nähe der belgisch holländischen Grenze. Unseres
Erachtens dürfte es in Anbetracht der auf eine relativ kurze Zeit beschränkten
Zusammenkunft grösserer Menschenmassen geeignet sein, sowohl in den erst¬
erwähnten Orten, als auch nahe der Grenze, und zwar dort wo nach anzustel¬
lenden Ermittelungen regelmässig die Züge wallonischer Arbeiter passiren, ent¬
sprechende Vorkehrungen zu treffen. Im ersten und zweiten Jahre dürfte aller¬
dings die Ausführung derartiger Maassregeln auf Schwierigkeiten stossen. Wenn
aber erst ein- oder zweimal streng darauf geachtet wird, dass nur solche Arbeiter
zum Ziegelfelde zugelassen werden, welche ein entsprechendes Gesundheitscerti-
ficat resp. Heilungsattest vorweisen können, so wird sich diese Maassregel ohne
Zweifel in den Kreisen der wallonischen Bevölkerung schnell herumspreohen,
und wenn dann noch etwa durch diplomatische Vermittlung eine Bekanntmachung
innerhalb des belgischen und holländischen Gebietes erlassen würde, welche die
betreffenden Stationen namentlich aufführt, so wird sich der Strom bald genü¬
gend vertheilen, um eine einigermaassen gleichmässige Besetzung der Stationen
und eine dadurch ermöglichte schnelle Untersuchung und Abfertigung herbeizu-
führen.
Wenn es nun auch praktisch wäre, der Wallonen halber diese Maassregeln
gleich an der Grenze vorznnehmen, so würde doch die Errichtung derartiger
Stationen innerhalb grösserer Ziegeleigebiete selbst nicht zu umgehen sein,
weil es:
1. unter Umständen erforderlich sein kann, etwa in der Mitte der Cam¬
pagne eine wiederholte, wenn auch kürzere ärztliche Inspicirung der Arbeiter
anzuordnen und die auf Anämie verdächtigen einer abermaligen gleichen Prüfung
zu unterziehen. Denn es liegt die Beobachtung vor, dass nach einer scheinbar
gelungenen Abtreibungskur nach einigen Wochen neue Eier in den Stühlen er¬
schienen, deren Produceuten seiner Zeit durch das gereichte Mittel nicht getödtet,
sondern nur vorübergehend gelähmt und geschädigt worden sein müssen. Ferner
entgehen der Diagnose an der Grenze alle die frischesten Infectionsfälle, bei
denen die Parasiten noch keine Copulation eingegangen sind, beziehentlich noch
keine Eier abgehen lassen.
2. Weil schon unter den deutschen Arbeitern die Ancbylostomenkrankheit
Boden gefasst hat. Es ist bekannt, dass die Arbeiter im Allgemeinen so lange
bei einer einmal gewählten Berufstätigkeit bleiben, als es ihre Kräfte gestatten
und als genügende und lohnende Beschäftigung zu finden ist. Wie die Wallonen
und die Lippeschen Ziegelarbeiter im Grossen, so kehrt auch in der Regel der
einzelne Erd- und Ziegelarbeiter jeden Sommer zum Ziegelfeld zurüok, nachdem
er im Winter als Bergmann oder in anderer, möglichst verwandter Thätigkeit
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Die Anchylostomen-Krankheit.
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seinen Verdienst gesucht hat. Andererseits aber zwingen die socialen Verhält¬
nisse doch den Arbeiter immerhin relativ häufig, da Arbeit anzunehmen, wo er
sie zuerst findet. In Folge dessen existirt auf einzelnen localen Arbeitsgebieten
von so periodischer Thätigkeit, wie es die Ziegelfelder und in anderen Gegenden
z. B. die Zuckerrübenfelder sind, kein ganz sicherer, stets wioderkehrender Stamm
von Arbeitern, zumal nicht in so bevölkerten und arbeitsregen Gegenden, wie es
die sind, wo mit Erfolg grosse Ziegeleien betrieben werden können.
Mit Rücksicht darauf also, dass die Inländer nicht so constant wie die
Wallonen Ziegelarbeiter bleiben, erscheint es mir nun nicht geboten, jeden ein¬
zelnen deutschen Arbeiter, der sich zum Ziegelarbeiter anmiethen lassen will, in
der gleichen Weise einer Quarantaine zu unterziehen wie die Wallonen und —
was auch ins Auge zu fassen wäre — die Italiener. Da wir innerhalb Deutsch¬
lands Grenzen noch keinen Winterherd kennen, wie solche bestimmt in den bel¬
gischen Bergwerken vorhanden sind, und da nach unseren bisherigen Erfahrungen
das Anchylostomum duodenale nur auf Ziegelfeldern Verbreitung gefunden hat
(die kölnischen Fortificationsarbeiter und der eine Bergmann bei Aachen bilden
die einzigen Ausnahmen), so ist einstweilen als sicher anzunehmen, dass im
Frühling, wenn die Ziegelcampagne angeht, bei den deutschen Arbeitern, falls
überhaupt, so doch zumeist nur eine ältere (das heisst vom vorigen Sommer da-
tirende und schon äusserlich manifeste) Infoction vorliegen kann. Voraussetzung
ist dabei allerdings, dass sie nicht im Winter etwa in einem belgischen Berg¬
werke gearbeitet haben.
Wenn nun auch bei den deutschen Arbeitern dasselbe Gesundheitszeugniss
erforderlich sein muss, wie wir es für die Wallonen forderten, so dürfte dessen
Beschaffung meines Erachtens etwa in der Art zu erleichtern sein, dass die Aerzte
sich im Allgemeinen mit einer Untersuchung auf Anämie und Digestionsstörungen
begnügen dürften und nur diejenigen zum Beziehen der Untersuchungsstationen
bestimmten, bei denen Anamnese (Belgien!) und einstweiliger Untersuchungs¬
befund den Bestand von Anchylostoma duodenale im Darme für möglich oder
wahrscheinlich erscheinen lassen.
Jedenfalls müssten also allein aus Rücksicht auf diese Arbeiter auch in der
Nähe von grösseren Ziegelfeldern entsprechende Untersuchungsstationen mit der
Möglichkeit, verdächtige Individuen mehrere Tage zu isoliren, beschafft werden.
In den Gegenden mit nur kleinem oder vereinzeltem Betriebe endlich würde
es genügen, wenn die Arbeiter ein Zeugniss vom betreffenden Kreismedicinal-
beamten beibringen, welch’ letzterem aber gleich den Aerzten der genannten
Untersuchungsstationen das Recht zukommen muss, die Ueberführung eines
etwaigen Verdächtigen oder Kranken in das nächste Krankenhaus beantragen
resp. veranlassen zu können.
Aus schon erörterten Gründen wäre es zuletzt rathsam, etwa im Juni oder
Juli eine ärztliche Visitation sämmtlicher Ziegelfelder vorzunehmen und hierbei
ein besonderes Augenmerk auf die Arbeiter zu richten, welche letzthin schon eine
— weil möglicherweise unvollständige — Abtreibungskur durchgomaeht haben,
oder bei denen bei der ersten Untersuchung die Möglichkeit vorlug, dass sie inner¬
halb der letzten 4—5 Wochen vorher eine Infection acquirirt hatten, die also
damals noch nicht erkennbar war. Ein besonderes Gowicht aber müsste darauf
gelegt werden, dass der Arbeitgeber dem inspicirenden Arzte alle Arbeiter ohne
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jede Ausnahme vorführt. Er ist dazu anzuhalten, eine Liste anzulegen, in die
er seine sämmtlichen Arbeitnehmer einträgt mit dem Vermerke des milgebrachten
Zeugnisses. An der Hand dieser Liste hätte der Arzt stets seine Visitation vor¬
zunehmen.
Wie wir schon sagten, ist es nicht nöthig, die ganzen Vorbeugungsmaass¬
regeln auf das ganze Gebiet der preussisc-hen Monarchie oder des deutschen
Reiches auszudehnen. Als allgemein durchzuführen halte ich nur den Vorweis
eines ärztlichen Zeugnisses für geboten; die Errichtung von Untersuchungsstatio¬
nen grösseren Maassstabes dürfte sich auf die Rheinlande beschränken lassen.
Betreffs anderer, dem Ziegeln verwandter Beschäftigungen liegen nun au¬
thentische Nachweise von Anchylostoina duodenale vor nur von Bergleuten im
Reg.-Bez. Aachen (Völckers a. a. 0.) und von einem Arbeiter an don Fortifi-
cationen bei Köln (Leichten stern).
Der erstgenannte Bezirk liegt hart an der belgischen Grenze, und die Er¬
mittelungen haben ergeben, dass die dortigen Arbeiter zuweilen auch in den be¬
nachbarten ausländischen Bergwerken Arbeit suchen. Es könnte deshalb wohl
in Erwägung gezogen werden, ob nicht jeder Arbeiter, der einmal innerhalb der
letzten 8 —10 Jahre jenseits der Grenze in einem Bergwerk beschäftigt gewesen
ist, und ebenso alle in Zukunft anzustellenden Arbeiter mit derselben Vergangen¬
heit einer genauen Untersuchung unterzogen werden sollen, einschliesslich Durch¬
forschung ihrer Fäces nach Anchylostomum-Eiern. und im Betretungsfalle einer
zwangsweisen Ueberführung in ein Krankenhaus.
Der Kölner Fall ist meines Wissens ganz isolirt geblieben. Auch dürften
mittlerweile die dortigen Festungsarbeiten ihren Abschluss gefunden haben. Wohl
aber könnte derselbe mahnen, bei don demnächst in Aussicht stehenden neuen
Fortificationsarboiten von Wesel ein besonderes Augenmerk auf die Vermeidung
einer Infection zu richten, sei es, dass sich jeder Arbeiter einer Untersuchung zu
unterziehen hätte, sei es, dass nur mit besonderer Strenge auf die Befolgung der
unten zu schildernden sanitätspolizeilichen Forderungen auf dem Arbeitsfelde
selbst gesehen würde.
Anlangend alle übrigen Bergwerke, Tunnelarbeiten u. dgl. würde vorzu¬
schlagen sein, dass eine officielle Bekanntmachung sämmtliche Arbeitgeber auf
die Gefahren der Ancbylostomenkrankheit aufmerksam mache und sie auffordere,
in ihrem eigenen Interesse und mit Rücksicht auf ihre Arbeiter und das ganze
Land bei Zeiten jeden durch Blutarmuth und Schwäche verdächtigen Mann dem
Arzte zur Untersuchung und eventuellen Krankenhausbehandlung zuzuführen.
Desgleichen würden die Kreisphysiker anzuhalten sein, auf das etwaige Vorkom¬
men von Anchylostoma in ihrem Kreise zu fahnden.
Endlich müssten die Aerzte, namentlich die zuständigen Kassenärzte, welche
mit Arbeitern der besprochenen Branchen zu thun haben, officiell darauf auf¬
merksam gemacht werden, betreffenden Falles an die Möglichkeit zu denken, dass
ihnen ein Anchylostomakranker vorliege, damit sie sofort denselben daraufhin
untersuchen und ihn zur Behandlung, was ohne Frage das weitaus zweckent¬
sprechendste sein dürfte, einem Krankenhaus zuweisen. Für angebracht, würde
ich auch die Verordnung halten, dass die Anchylostomiasis derselben Anzeige¬
pflicht unterliege, wie die übrigen Infectionskrankheiten, damit der Kreisphysikus
die näheren Umstände e* officio untersuche, nach etwaigen weiteren Inficirten
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Die Anchylostomen Krankheit.
135
forsche und darauf sehe, dass nachträglich, so gut es angelit. die durch den
Kranken gesetzten Infectionsmöglichkeiten unschädlich gemacht werden.
Sollte die Ausdehnung der Anzeigepllicht auf die Anehylostoinenkrankheit
nicht angewendet worden, so müsste die für (iie Aorzte bestimmte otticielle Be¬
kanntmachung einen Passus enthalten, der dieselben aufforderte, ihrerseits die
angedeuteten Schritte behufs Erkennung des Umfanges der Endemie und Beseiti¬
gung des Infectionsstoffes zu thun.
So sehr wir nun auch überzeugt sind, dass die genaue und umsichtige
Durchführung der erwähnten Maassregeln genügen könnte, weitere Einschlep¬
pungen des Anchylostoma duodenale auf deutsche Gebiete zu verhindern, sowie
die schon vorhandenen Infectionen wenigstens im Laufe einiger Jahre zu ver¬
nichten, so verhehlen wir uns doch nicht, dass dieselben bei dem Unterschied,
der sich stets zwischen Theorie und Praxis befindet, nicht genügen werden. Auch
müssen wir uns Vorhalten, dass besonders die Anlage der Quarantainestationen
nicht allein schwierig, sondern auch kostspielig sein wird, und dass deshalb
ihrer Einrichtung zu grosse reale Hindernisse entgegenstehen können. Endlich
erwägen wir, dass bei den derzeitigen Einrichtungen die Infection zu leicht weiter
greifen muss, wenn dennoch erst einmal durch einen Kranken auf einem Arbeits¬
gebiete eine Infeotionsquello entsteht. Es muss deshalb des Weiteren auf Besse¬
rung der sanitären Verhältnisse der Einrichtungen, wie sie zurZeit bestehen,
gesonnen werden.
Die derzeitigen mangelhaften Einrichtungen der Aborte auf den Ziegol-
feldern, soweit dieselben überhaupt existiren, verdanken ihr Dasein dem Umstande,
dass sie billig und leicht herzustellen sind, und dass an ihnen kein Schamgefühl
Anstoss nimmt. Meist werden aber noch die sich während des Tages meldenden
Bedürfnisse in nächster Nähe auf freiem Felde befriedigt. Aehnlich ist es bei
den anderen Erdarbeitern, bei den Bergleuten und bei den Tunnelarbeitern. Eben
hierin liegt ja aber die erste und grösste Gefahr, dass von den so frei deponirten
Fäces Theile mit ihren Eiern oder Larven in’s Wasser gelangen, mit demselben
verschleppt auf Kleider, Hände und das Gesicht gespritzt werden, in’s Trinkwasser
gerathen u. s. w., kurz: die Infection vermitteln.
Es muss deshalb durch obrigkeitliche Verordnungen den Arbeitgebern zur
Pflicht gemacht werden, dafür zu sorgen, dass unweit jedes Arbeitsgebietes ein
leicht erreichbarer Abort vorhanden sei, der zum mindesten dafür volle Gewähr
bietet, dass alle Fäcalion in irgend einem Gefässe oder abgeschlossenen Hohl-
raume (Grube in festem Erdboden) gesammelt werden. Eine Grube bietet, wenn
sie so placirt wird, dass sie nicht mehr innerhalb eines aufzuarbeitenden Kayons
liegt, den Vortheil. dass sie einfach mit Erde zugeschüttet worden kann, wenn
das vorgeschobene Arbeitsgebiet ein Nachnicken des Abortes erheischt. Auf der
anderen Seite kann ein Eimer tagtäglich nach Bedarf ausgeleert und sein Inhalt
ur schädlich gemacht worden, sei es durch die Hitze eines Ziegelofens oder eines
Dampfkessels, sei es durch Vergraben und Zuschütten mit Erde, sei es durch
Zusatz irgend welcher DosinfectionsmPtel.
ln Bergwerken mit ihren letzten engen Gängen und Verhauen dürfte eine
entsprechende Einrichtung kaum anders aufg»*stellt werden können als m den
nächsten grösseren Stollen, liier wäre natürlich unbedingt erforderlich, das
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136 Dr. Sohlegtendal,
Tonnensystem anzuwenden behufs regelmässiger und sicherer Beseitigung der
Fäces.
Bei den Tunnelarbeitern wäre wiederum eine grössere Annäherung an den
Arbeitsort möglich, da nur eine Wegstrecke angelegt wird und diese sofort so
breit angelegt wird, als die Breite des Tunnels betragen soll. Hier dürfte also
dicht hinter dem Arbeitsgebiet leicht Platz zu schaffen sein für einen transpor¬
tablen Abort mit oft auszuwechselndem Sammelgefäss.
Ueberall aber ist der Gebrauch dieser Einrichtungen auf die Weise obliga¬
torisch zu machen, dass eine anderweitige Defäcation (auf freiem Felde, inner¬
halb des Schachtes, des Tunnels etc.) bei Androhung von Strafe streng verboten
wird. Ich möchte vorschlagen, dass eine nachgewiesene Uebertretung dieser
Vorschrift durch die Reduction des Tageslohnes geahndet werde, deren Höhe im
Wiederholungsfälle gesteigert werden muss. Der zuständige „Steiger“, Schicht¬
meister, Vorarbeiter etc. hat darauf zu sehen, dass keine Zuwiderhandlungen
Vorkommen; er hat den Uebertreter anzuzeigen eventuell gegen Zusioherung einer
entsprechenden Quote der verfallenen Strafsumme. Desgleichen hat er anzuzei¬
gen, wenn er innerhalb seines Gebietes die Spuren einer stattgehabten Defäcation
äuffindet; ist der Thäter nioht zu eruiren, so soll die ganze „Rotte“ bezw. der
„Pflug“ haftbar gemacht werden; ferner hat er durch einen der Untergebenen
für gründliche Beseitigung und Unschädlichmachung der Fäces Sorge zu tragen.
Sollten aber derartige Spuren duroh einen höheren Vorgesetzten oder durch den
visitirenden Arzt gefunden werden, so ist auch der betreffende Vorarbeiter straf¬
fällig zu erachten.
Dem Vorschläge Leichtenstern’s, behufs Sicherung des Trinkwassers
die mit Lehm geschmierten brettemen Rinnen durch eiserne Röhren zu ersetzen,
würde ich im Principe nur beipflichten können. In der Praxis würde aber die
Durchführung auf zu grosse Schwierigkeiten stossen. Die Holzrinnen siod so
leicht herzustellen, hoch und niedrig zu machen, zu verschieben, in Winkeln auf-
zustellen, zu verlängern und zu verkürzen, wie es bei eisernen Röhren nie möglich
sein würde. Diese grosse Erschwerung des Betriebes würde aber mit einer relativ
bedeutenden Verteuerung Hand in Hand gehen, und schliesslich — wenn es
einmal nicht in Länge, Höhe oder Richtung mit den vorhandenen eisernen Röhren
passt — wird der Arbeiter doch wieder als Zwischen- oder Endglied eine Rinne aus
Brettern anlegen; denn eiserne Röhren in der Mannigfaltigkeit und Anzahl, dass
sie für jeden Wechsel der Aussenumstände genügen, werden allenfalls nur die
grössten Ziegeleien auf Lager führen können.
In diesem Punkte sehe ich einen besseren Griff darin, an der Ausmündungs¬
stelle der Wasserleitung allemal 2 Behälter aufstellen zu lassen, von denen der
zweite und grössere das Wasser erst erhält, nachdem es den ersteren und klei¬
neren durchlaufen hat. Wenn dann jener zweite nur zum Waschen und zum
Wassersohöpfen für Arbeitszwecke benutzt würde, der erste aber, welcher mit
einem nur eine relativ kleine Oeffnung besitzenden Deckel verschlossen werden
müsste, ausschliesslich das Trink- resp. Kochwasser lieferte, so würde meines Er¬
achtens eine genügende Sicherheit gegen Verbreitung des Anchylostoma duode¬
nale durch das Trinkwasser gegeben sein. Es könnte allenfalls noch dem Vor¬
arbeiter auferlegt werden, jeden Abend diesen ersteren Behälter eigenhändig aus-
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Die Anohylostomen-Krankheit. 137
zusohütten and für die Nachtzeit umzustülpen, am jedes Ansetzen eines Boden¬
satzes za vermeiden.
Wir haken zwar schon wiederholt betont, dass die verdächtigen Fäcalien
einer sicheren Desinfection za unterziehen sind. Gleichwohl sei zum Schlüsse
noch einmal auf diesen wichtigen Punkt hingewiesen. Da die Larven nicht sehr
widerstandsfähig sind, so ist dieser Zweck nicht schwer zu erreichen. Am
sichersten würde natürlich ihre Vernichtung im Feuer des Ofens, der Dampf¬
kessel etc. sein. Aber auch die anderen Mittel wirken bei gewissenhafter An¬
wendung sicher; so das Vergraben und Verschütten mit einer dicken Lage Erde
(da die Larven sehr sauerstoffbedürftig sind) oder das Uebergiessen mit Carbol-
säure, Thymol- oder Sublimatlösung, Aetzkalk oder Kalkmilch. Alle diese Stoffe
tödten die Embryonen and Larven selbst in starker Verdünnung sicher.
Das Schlassergebniss gestaltet sich demnach folgendermaassen:
1. Die Anchylostomenkrankheit ist in Deutschland nur als Gewerbekrank¬
heit bei Zieglern, Bergleuten und anderen Erdarbeitern bekannt.
2. Ihres gefährlichen Charakters wegen sind seitens der Sanitälspolizei
baldigst folgende Maassregeln zu treffen:
a) Einführung einer Gesundheitscontrole über die ausländischen und die
inländischen Ziegler;
b) Errichtung von Qaarantaine- und Untersochungsstationen;
c) zwangsweise Internirung der Kranken in entsprechenden Anstalten bis
zar erfolgten Heilung;
d) wiederholte Visitation aller Arbeiter, besonders auf den inficirten Zie¬
gelfeldern;
e) Qualificirung der Anchylostomiasis als einer der der Anzeigepflicht
unterliegenden Krankheit;
f) Erlassung von instruirenden Bekanntmachungen an Aerzte und Arbeit¬
geber;
g) Verbesserung der sanitären Verhältnisse auf den Arbeitsgebieten aller
Erdarbeiter, unter besonderer Berücksichtigung aller zum Sammeln und
zum Desinficiren der Fäcalien bestimmten Vorrichtungen.
3. Bei der bisherigen beschränkten Ausdehnung der Anchylostomenkrank¬
heit darf man von energischen Maassregeln einen sicheren Erfolg erwarten.
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Berichtigung. Centralbl. für klin. Med. 1886. No. 39. — 21) Leichtenstern,
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zig. — 23) Ernst, Einige Fälle von Ankylostomiasis nebst Sectionsbefunden.
Deutsche med. Wochenschr. 18S8. No. 15.
2 .
Das Ueba»menwf9fi in Kreise Zanch-Belzig — jetzt and
rer 25 Jahren.
Von
Dr. Gleltsmann,
Kroisphysikus in Belzitf.
Die Verwaltung des Hebammenwesens bildet einen Glanzpunkt
in der amtlichen Thätigkeit des Physikus; denn hier allein nimmt
er faktisch und gesetzlich diejenige Stellung ein, welche auch auf
allen anderen Gebieten der öffentlichen Medicin für ihn erstrebens-
werth ist: die eines selbständigen verantwortlichen Dcccrnenten ge¬
genüber dem Bandrath. Nach dem Gutachten des zuständigen Phy¬
sikus werden ja die Hebammen Bezirke gebildet und die Zahlen der
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UNIVERSITY OF IOWA
Dr. Gleitsmann.
139
anzustellenden Hebammen festgestellt; er trifft die Auswahl unter
den Bewerberinnen um Zulassung zur Lehranstalt, wie um Verleihung
einer Bezirkshebammenstelle; er controlirt fortwährend die praktische
Thätigkoit und den wissenschaftlichen Stand der Hebammen und ist
durch gesetzliche Vorschriften und Einrichtungen zu dieser Controlc
befähigt; nach seinem Vorschläge werden tüchtige Hebammen belohnt
und untüchtige von Unterstützungen ausgeschlossen. Der Physikus
kann deshalb bis zu einem gewissen Punkte mit Recht für den Zu¬
stand des Hebammenwesens in seinem Bezirke verantwortlich gemacht
werden und hat die Pflicht, durch zahlenroässige Angaben und Ver¬
gleiche Rechenschaft über denselben abzulegen. Ein solcher Rechen¬
schaftsbericht mit seinen Erfolgen und Enttäuschungen soll wahrheits¬
getreu und ungeschminkt in den nachfolgenden Zeilen für den seit
10 Jahren mir anvertrauten Kreis Zauch-Belzig gegeben werden, wobei
ich hauptsächlich die Zustände des Jahres 1863 mit denen der Jahro
1880 und 1888 zu vergleichen beabsichtige.
Der Kreis Zauch-Belzig des Regierungsbezirks Potsdam gehört
zu den grössten der preussischen Monarchie: er umfasst 1923 Quadrat¬
kilometer (35 geogr. Quadratmeilen) und hatte vor 25 Jahren 66600,
bei der letzten Volkszählung 74487 Einwohner. Dio Zahl seiner
Hebammen und der von ihnen geleiteten Entbindungen geht aus nach¬
folgender Tabelle hervor:
1863.
1880.
1888.
Zahl der Hebammen . k
52
! 59
51
Zahl der Entbindungen.
2088
I 2322
2641
Durchschnittszahl der Entbindungen
40,2
39,4
51,8
Die Verminderung der Hebammen während der letzten Periode
ist nicht zufällig entstanden, sondern beabsichtigt. Mein Amtsvor¬
gänger, der im Jahre 1855 die Geschäfte übernahm, befolgte den
Grundsatz, so viele Hebammen anzustellen, wie sich ihm irgend dar¬
boten — in der gewiss berechtigten Absicht, dem Publikum die Er¬
langung geburtshiilflichen Beistandes möglichst bequem zu machen.
Er fand einen Bestand von 49 Hebammen vor und vermehrte ihn
ailmälig auf 59. Leider waren diese sehr unregelmässig über den
Kreis vertheilt: so befanden sich z. B. in 4 nahe einer Stadt gele-
üfn Dörfern mit 1720 Einwohnern auf höchstens 1 Quadratmeile
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UNIVERSITÄT OF IOWA
140
Dr. Gleitsmann,
FJächenraura 5 Hebammen, deren jede im Jahre durchschnittlich 12
bis 17 Entbindungen zu verzeichnen hatte; an einer anderen Stelle
des Kreises hatten 3 Dörfer, die in einem Dreieck von 3 Kilometer
Seitenlange liegen, je eine Hebamme mit 16—20 jährlichen Geburten.
Diese Hebammen konnten natürlich ihren Beruf nur als ein manch¬
mal höchst störendes Nebengeschäft betreiben und waren, wie ich
mich bei der ersten Nachprüfung überzeugte, vollständig verwildert.
Andererseits fanden sich ausgedehnte Landstriche, die von Hebammen
fast ganz entblösst und den Pfuscherinnen anheimgefallen waren.
Es kam also nach meiner Meinung darauf an, allmälig die Zahl
der überflüssigen Hebammen zu vermindern und eine gleichmässigere
Vertheilung herbeizuführen. Ob und in wie weit diese beiden Auf¬
gaben ihrer Lösung näher gebracht sind, möge die nachfolgende Ta¬
belle lehren. Zum besseren Verständniss derselben sei vorausgeschickt,
dass der Kreis seiner Bodengestaltung nach sich in 8 verschieden
grosse Theile sondern lässt, von denen die 4 erstgenannten die dich¬
ter bevölkerten und wohlhabenderen Niederungen, die 4 anderen die
ärmeren und dünn bevölkerten Hochebenen (Zauche-Plateau und Höhen¬
zug des Vläming) umfassen.
Namen
der
Kreistheile.
, e
C
<D
.2 £
£ "3
Auf 100 qkm
kamen Ein¬
wohner
i. J. 18S5.
Zahl der Hebammen.
Eine Hebamme kam
auf Quadratkilometer.
a
1863.
1890.
1889.
1863. 1
1880
1S88.
Havel-Niederung.
176
9047
12
11
10
14,7
16,0
18,4
17,6
Lehniner Niederung
92
9160
4
n
4
23,0
230
Nieglitz-Niederung...
ISO
8774
- 12
14
8
15,0
12,8
22,5
Plane-Niederung.
213
4955
8
11
8
26,6
19,4
26,6
Zauche-Plateau .
604
765
9
4
6
302,0 1
151,0
100,7
Nordvläming *.
160
3709
3
3
5
53,3 |
53,3
32,0
Hoher Vläming .
228
2946
6
6
5
38,0
38,0
45,6
Brandtsheide .
270
2413
5
5
5
54,0 !
54,0
54,0
Summe resp. Durch¬
schnitt.
1923
3873
52
59
51
37,0
32,6
37,6
Vor 25 Jahren schwankte also das Gebiet einer Hebamme zwi¬
schen 15 und 302 (!) Quadratkilometer, jetzt zwischen 18 und 100.
Zur Erklärung dieser letzten Zahl muss bemerkt werden, dass die
Zauche — ein 11 Quadratmeilen grosses, wasserloses Plateau —
hauptsächlich mit ausgedehnten Waldungen bestanden ist, zwischen
denen sich oft erst in Entfernungen von mehreren Meilen menschliche
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UMIVERSITY OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Belzig.
141
Ansiedelungen befinden, und dass die Dichtigkeit der Bevölkerung
hier 11 mal geringer ist als durchschnittlich ira Preussisehen Staate.
Dieser ganze Complex, der grösser ist als sehr viele Kreise der
Monarchie, hatte vor 25 Jahren nur 2 Hebammen! — Der hohe
Vläming und die Brandtsheide haben im letzten Jahre unerwartet
durch Tod resp. Verzug je 1 Hebamme verloren, für welche bereits
Ersatz in Aussicht ist, so dass sich dann die Zahlen auf 38,0 resp.
45,0 ermässigen werden. Ohne Berücksichtigung des Zauche-Plateau
schwankten demnach ira Jahre 1880 die Zahlen zwischen 12,8 und
53,3 — jetzt zwischen 17,6 und 45,0.
Es wird nun darauf ankommen, diese so gefundene Dichtigkeit
der Hebammenbesetzung in unserem Kreise zu vergleichen mit den
entsprechenden Verhältnissen im Preussisehen Staate, sowie in der
Provinz Brandenburg (ausschliesslich Berlin) und im Regierungsbezirk
Potsdam. Zum Vergleich konnten leider nur die Zahlen aus den
Jahren 1867, 1876 und 1887 (nach den Mittheilungen des Statisti¬
schen Büreaus) herangezogen werden, da für die anderen Jahre die
betreffenden Erhebungen nicht stattgefunden haben. Die Berechnungen
ergeben Folgendes:
Jahr.
District.
1 Hebamme kommt
auf
Auf 100 qkm kommen
Einwohner.
qkm.
Einwohner.
Hebammen.
1863
Kr. Zauch-Belzig.
1269
37,0
3495
2,7
f
Reg.-Bez. Potsdam...
1418
29,9
4741
3,3
1867 <
Prov. Brandenburg...
1314
26,2
5017
3,8
l
Preussiscber Staat...
1492
21,7
6882
4,6
1880
Kr. Zauch-Belzig.
1224
32,6
3755
3,1
f
Reg.-Bez. Potsdam...
1518
28,5
5335
3,5
1876 {
Prov. Brandenburg...
1439
26,5
5421
3,8
l
Preussischer Staat...
1514
20,5
7376
4,9
1888
Kr. Zauch-Belzig.
1476
37,7
3916
2,7
f
Reg.-Bez. Potsdam...
1527
25,7
5941
3,9
1887 {
Prov. Brandenburg...
1426
23,6
5880
4.1
l
Preussischer Staat...
1480
18,2
8129
5,5
Wir sehen zunächst, dass der Kreis Zauch-Belzig nur halb so
dicht bevölkert ist, wie der Staat im Allgemeinen; dass ferner die
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UNIVERSUM OF IOWA
142
Dr. G 1 e i t s tu an n .
Zahl der Einwohner, welche auf 1 Hebamme kommen, unter dem
mittleren Durchschnitt des Staates und der angeführten Landestheile
bleibt; dass dagegen der Elächenraum, welcher auf 1 Hebamme
kommt, doppelt so gross ist, als durchschnittlich im Preussischen
Staate, und erheblich grösser, als in den benachbarten Districten.
Doch gilt letzteres, wie ein Vergleich mit der vorigen Tabelle zeigt,
nur für die hoch gelegenen Gegenden, während die Zahlen für die
Niederungen denen des Regierungsbezirks Potsdam entsprechen. Das
Zauche-Plateau muss wegen seiner vorhin erörterten Beschaffenheit
überhaupt ausserhalb der praktischen Vergleichung gestellt werden
(vor 25 Jahren war es 14 Mal, jetzt 6 Mal dünner mit Hebammen
besetzt, als der Staat im Ganzen); und so bleiben nur der hohe
Vläming uud die ßrandtsheide übrig, deren geringe Hebammendich¬
tigkeit Bedenken erregen könnte. Da jedoch diese beiden Kreistheile
die West- und Südgrenze des Kreises bilden, und 18 Ortschaften der¬
selben mit zusammen 4954 Einwohnern ihren geburtshülflichen Bei¬
stand aus Orten benachbarter Kreise beziehen, so kommt in Wirk¬
lichkeit hier eine Hebamme auf 690 Einwohner, was — bei der hie¬
sigen Geburtsziffer von 39 pM. der Bevölkerungszahl — jährlich 27
Geburten entspricht. Diese Zahl aber noch zu verringern, erscheint
mir nach den gemachten Erfahrungen unstatthaft. Ich glaube dem¬
nach trotz der zunächst verblüffenden Zahlenunterschicde in der letz¬
ten Tabelle, dass der Kreis (nach der oben erwähnten Ergänzung)
hinreichend mit Hebammen versorgt ist, und dass auch die Verthei-
lung derselben im Allgemeinen befriedigen kann, zumal keine Ort¬
schaft von der nächsten Hebamme weiter als 5 km entfernt ist.
Was die Verthcilung der Thätigkeit der Hebammen betrifft,
so gebe ich wiederum in Tabellenform einen Ueberblick darüber, in
welchem Procent-Verhältniss zu den verschiedenen Zeiten die Heb¬
ammen bei der Zahl der Geburten betheiligt, waren; es sind dabei nur
diejenigen Hebammen berücksichtigt, welche in der Lage waren, das
ganze Jahr hindurch ihren Beruf auszuüben.
('Siehe die nebenstehende Tabelle.)
Es geht daraus hervor, dass wir von dem Ideale einor gleich-
massigen Verthcilung zwar noch weit entfernt sind (und bei den ge¬
schilderten Verhältnissen wohl auch immer bleiben werden), dass aber
ein Fortschritt zum Bessern unverkennbar ist: vor 25 Jahren hatte
nur der 4. Theil, jetzt über die Hälfte der Hebammen mehr als 50
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UNIVERSUM OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Belzig.
143
Entbindungen; damals blieb fast %, jetzt nur ' aller Hebammen
mit ihrer Geburtenziffer unter 40, und die erwünschte Mittelzahl von
50—09 Entbindungen hatte damals nur der 7., jetzt der 3. Theil;
endlich hat jetzt keine Hebamme (früher der 8. Theil Aller) weniger
als *20 Entbindungen im Jahre zu verzeichnen. Diejenigen Hebammen,
welche mehr als 70 Entbindungen haben, üben ihre Thätigkeit fast
ausschliesslich in einem grösseren Orte aus.
Zilil
der
Entbindungen.
Procenizabl der Hebammen, w«. !ehe nebenstehende Zahl von
Entbindungen leiteten im Jahre
1 8 6 3. ! 1880.
i
1 8 88.
üb- r 100
90—99
80—89
70-79
60—69
50—59
40-49
80—39
20-29
10 -19
0- 9
0,0, )
4,0 1 /
4,0 r t 2 g o
6.0 > 40,0 f /ö ’ u
2 0 ( \
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28,0
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10,0 \
14,0) J
18,0 7 -v
26,0, /
0,0 ’ I
9,0 ] )
4J) > 64,0 [ 53,0
17.0 l
15.0) /
11.0 ’
190 1
^H 47 - 0
0,0 ’ J
Eine gleichmässige Vertheilung der Hebammen kann erschwert wer¬
den durch das Institut der frei praktieirenden Hebammen, die sich bis¬
weilen aus Nebenrücksichten gerade da niederlassen, wo das Bedürf¬
nis bereits gedeckt ist. Vor 25 Jahren gab es im Kreise keine
freien Hebammen, im Jahre 1880 deren 2, im Jahre 1888 schon 6.
Von diesen sind 3 in ebensovielen Städten ansässig, 3 in Dörfern,
in welchen sich ebenfalls schon Hebammen finden; doch macht nur
eine einzige (in der Havelniederuug) eine unnöthige Concurrenz. —
Was die materielle Lage der Hebammen angeht, so dürfen
wir annehraen, dass unter den hiesigen Verhältnissen jede Entbindung
(einschliesslich der von den Taufzeugen gegebenen Geschenke) im
Durchschnitt höchstens 6 Mark einbringt. Es hat also der 3. Theil
sämmtlicher Hebammen ein Einkommen von weniger als 240 Mark
jährlich, und nur ebensoviel kann auf mehr als 360 Mark Einnahme
rechnen. Die Einkünfte aus den gelegentlichen Hülfsleistungen der
sog. kleinen Chirurgie sind nur gering, zumal viele Frauen der Mei¬
nung sind, dass „ihre“ Hebammen ausserhalb der Entbindung ihnen
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UNIVERSITÄT OF IOWA
144
Dr. G leitsman n ,
unentgeltlich zur Verfügung stehen müssen. Es würde geradezu un¬
begreiflich sein, dass die Hebammen bei solchen Einnahmen bestehen
können, wenn nicht häufig (zur Zeit etwa in 32 Procent) die Exi¬
stenz der Familie durch die Thätigkeit des Ehemannes ziemlich ge¬
sichert wäre, und der Erwerb der Hebamme nur als höchst erwünschte
Zugabe betrachtet werden könnte. Ist dies nicht der Fall, oder geht
die eigentliche Nahrungsquelle durch Unglücksfälle, Krankheit, Tod
etc. verloren, so ist das Loos der Hebammen — einige Ausnahmen
abgerechnet — in der That nicht beneidenswerth.
Diese materielle Lage der Hebammen zu verbessern, wird eine
Hauptaufgabe des Physikus sein müssen, da nun einmal Ordnung und
Reinlichkeit auf dem Boden der Armuth nicht gedeihen. Vor 25 Jah¬
ren wurden jährlich 480 Mark aus den Abgaben bei Trauungen und
Taufen unter die Hebammen vertheilt; im Jahre 1880 erhielten die
Hebammen keinerlei Unterstützung; im Jahre 1882 bewilligte der
Kreistag auf wiederholtes Drängen jährlich 600 Mark zur Vertheilung
an würdige und bedürftige Hebammen, 2 Jahre später jeder Bezirks¬
hebamme Tagegelder von 1 Mark und Reisekosten-Entschädigung von
10 Pfennigen für jedes Kilometer der Hin- und Rückreise bei den
gesetzlichen Nachprüfungen, ferner im Jahre 1887 den Abonnements¬
betrag von 10 Exemplaren der Deutschen Hebammenzeitung und end¬
lich vor Kurzem die unentgeltliche Lieferung der Carbolsäure bei
Entbindungen, was bei jährlich 2700 Geburten einem Kostenaufwand
von etwa 1000 Mark entspricht. Damit aber war bis jetzt die Frei¬
gebigkeit des Kreistages erschöpft: trotz häufigen Mahnens hat er
das in der Ministerial-Verfügung vom 6. August 1883 verlangte feste
Diensteinkommen den Bezirkshebammen noch nicht zugesichert. Die
Gemeinden aber weisen jeden Versuch, sie zur Hergabe von festen
Besoldungen und freier Wohnung für ihre Hebammen zu bewegen,
mit einem leisen Anfluge von Spott und dem Bemerken zurück, dass
es ihnen auch unter den jetzigen Verhältnissen nie an Hebammen
gemangelt habe. Allerdings muss zugegeben werden, dass der Kreis
und namentlich die südliche Hälfte nur arm ist.
Bei der unzureichenden Hülfe, welche der Kreis gewähren konnte,
blieb nichts übrig, als die Hebammen auf die Selbsthülfe zu verweisen.
In den ersten Jahren meiner Amtsführung war es mir wiederholt vor¬
gekommen, dass ich theils von Privatpersonen, welche bei den Ho-
uorarforderuugen der Hebammen sich übervortheilt glaubten, theils von
Amtsgerichten, welche mit dergleichen Prozessen befasst waren, um
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UNIVERSUM OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch Belzig.
145
Mittheilung der für die Hebammen des Kreises gültigen Taxe ersucht
wurde. In allen diesen Fällen stellte sich nachträglich heraus, dass
die angebliche Uebertheuerung in einer die zulässige Höhe noch lange
nicht erreichenden Forderung bestand. Daraus ging also hervor,
dass das Publikum im Allgemeinen von den Rechten und Befug¬
nissen der Hebammen keine rechte Vorstellung hat, und es erschien
— wie ich dem Landrath auseinandersetzte — im allseitigen Inter¬
esse geboten, dass die Hebammentaxe öffentlich bekannt gemacht
würde, sowohl um unnöthige Streitereien und Prozesse zu vermeiden,
als auch um auf das Publikum, das die begreifliche Scheu der Heb¬
ammen vor gerichtlichen Proceduren oft in arger Weise ausnütze,
einen Druck auszuüben. Eine entsprechende Bekanntmachung er¬
schien darauf im Kreisblatt; ich selbst übersandte jeder Hebamme
ein Exemplar der Taxe, welche den meisten völlig unbekannt war.
Ferner wurde bei den Nachprüfungen stets Gelegenheit genommen,
die Hebammen auf die ihnen zustehenden Rechte hinzuweisen, und
der Versuch gemacht, die benachbarten Hebammen, die sich oft in
thörichter Concurrenz unterboten, zu einem gemeinsamen Vorgehen zu
bestimmen. Die Gründung.eines Vereins, die von den strebsameren
Hebammen selbst oft angeregt wurde, um durch feste statutarische
Bestimmungen auch diese materiellen Verhältnisse zu regeln, erschien
bis jetzt in einem Kreis von 35 Quadratmeilen mit über 50 weit zer¬
streuten Hebammen unausführbar.
Wir gehen über zu der Betrachtung des wissenschaftlichen
Zustandes des Hebammenwesens. Hier interessiren vor Allem die
Resultate der Nachprüfungen, denen sich bekanntlich jede Hebamme
alle 3 Jahre unterziehen muss. Ueber die von meinem Amtsvorgän¬
ger abgehaltenen Prüfungen lässt sich leider aus den Akten gar nichts
ersehen, und ich muss mich darauf beschränken, die Ergebnisse der
3 vollständigen Cyklen von Nachprüfungen zusammenzustellen, die
ich selbst abgehalten habe.
(Siehe die Tabelle auf S. 146.)
Es findet sich demnach für alle 3 Cyklen genau dasselbe Re¬
sultat: der 4. Theil der Hebammen zeigt erfreuliche Kenntnisse, die
Hälfte genügt mässigen Ansprüchen, und das letzte Viertel bleibt
auch hinter bescheidenen Anforderungen zurück. Und Alles dies,
trotzdem ein fortwährender Abgang alter Hebammen und Zuzug jun¬
ger Elemente stattfindet! —
V|«mljthrtifhr. f. f*r. Med. N. P. LIf. 1.
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146
Dr. Gleitsmann,
Zahl der Hebammen, welche geprüft wurden
im Jahre
im Ganzenj
Hiervon mit der Censur
sehr gut. |
gut. 1 genügend, j
1 1
mangel¬
haft.
unge¬
nügend.
18S0
13
2 1
i
5
3
2
1881
18
1
2
10
4
1
1882
16
2
4
7
3
—
Erster Cyklus
47
5 ;
7
22
10
3
1883
13
2
2
5
4
_
1884
18
2
2
8
4
2
1885
18
—
5
9
2
2
Zweiter Cyklus
49
4
1
9
22
| 10
4
1886
15
1
3
8
3
1
1887
16
1
3
7
3
2
18S8
17
1
4
8
2
1
Dritter Cyklus
48
3
10
23
8
4
Die obigen Zahlen beanspruchen selbstverständlich keine mathe¬
matische Beweiskraft, aber sie haben doch einen nicht zu unter¬
schätzenden Werth, da die Leistungen nach demselben Maassstab von
demselben Examinator gemessen sind, der das wenigstens von sich
sagen kann, dass er sich Mühe bei diesen Nachprüfungen gegeben
hat, und dem früher einiges Lehrgeschick nachgerührat wurde. An¬
dererseits kann auch nicht behauptet werden, dass diese Nachprüfun¬
gen in wissenschaftlicher Hinsicht ganz und gar werthlos gewesen
sind, da sie vielleicht einem vollständigen Versumpfen der besseren
Elemente vorgebeugt haben. Ich möchte auch hervorheben, dass nicht
immer die gleichen Hebammen in die gleiche Ccnsuren-Rubrik ge¬
kommen sind, sondern dass sich manche eraporgearbeitet haben. Eine
Hebamme z. B. figurirt im ersten Cyklus unter „mangelhaft“, im
zweiten unter „gut“, im dritten sogar unter „sehr gut“. Umgekehrt
ist bei manchen Hebammen, namentlich den älteren, ein allmäliges
Abwärtsfallen zu verfolgen. — Lässt sich also der günstige Einfluss
der Nachprüfungen auf die wissenschaftliche Fortbildung der Heb¬
ammen nicht zahlenmässig nachweisen, so verfehlen sie jedenfalls in
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UNIVERSUM OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauoh-Belzig.
147
ethischer Beziehung niemals ihre Wirkung. Indem sie dem Physik us
Gelegenheit geben, die Hebammen auf die Bedeutung und Wichtig¬
keit ihres Standes, auf die Verantwortlichkeit ihrer Stellung und die
Möglichkeit ihres segensreichen Einflusses eindringlich hinzuweisen, fer¬
ner kleine Zwistigkeiten zum Ausgleich zu bringen und den Corpsgeist
anzuregen, endlich auch die materielle Seite ihres Berufes in huma¬
nem Geiste zu besprechen, wirken sie zweifellos höchst fördernd und
sind geradezu unentbehrlich und unersetzlich.
Bei den ersten Nachprüfungen zeigte sich auch, dass der grösste
Theil der Hebammen nicht im vollständigen Besitz des vorgeschrie¬
benen Inventariums war. Von 58 Hebammen besassen 32 nicht ein¬
mal das neue Lehrbuch, 17 keinen Irrigator, fast alle keinen Ther¬
mometer, keine Carbolsäure, keine Tamponkugeln u. s. w.; dagegen
führten sie z. Th. alte unzweckmässige, selbst gefährliche Geräthe
mit sich, wie Nabelschnurrepositorien, Führungsstäbchen, metallene
Specula u. Aehnl., sowie einen Wust von Thees und Tropfen. Es
wurde sofort vom Landrath jeder Hebamme aufgegeben, sich bis zu
einem bestimmten Termin über den Besitz der nöthigen Bücher und
Gerätschaften auszuweisen; für 32 übernahm ich auf ihre Bitte selbst
die Besorgung derselben. Bei den Nachprüfungen wurde namentlich
die Sauberkeit der Instrumente revidirt, die anfangs Alles zu wün¬
schen übrig liess. — Als Curiosum sei hier erwähnt, dass noch in
neuerer Zeit den Hebammen bei ihrem Abgänge von der Lehranstalt
anstatt der Nagelbürsten veritable schmale — Zahnbürsten ohne Zin¬
ken mitgegeben wurden.
Als ein Uebelstand stellte sich ferner bei den Nachprüfungen
heraus, dass die Mehrzahl der Hebammen schon zu alt ist, um neue
Gedanken sich leicht aneignen zu können. Hinsichtlich des Al¬
ters vertheilen sich die Hebammen, welche in den letzten Jahren, so¬
wie diejenigen, welche in den Jahren 1862—64 thätig gewesen sind
und deren Zahl zufälliger Weise beide Male 60 beträgt, folgender-
massen:
Zeit
Zahl der Hebammen, welche standen im Alter
von Jahren
•20—29
30-39
40-49
50—59|60—69
70—79
80—85
1863
3
16
14
1 1
12 | 8 !
1
6
1
1888
1
14
17
17 j 5
6
—
10 *
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UNIVERSUM OF IOWA
148
Dr. Gleitsmann,
Hiernach lagen die Verhältnisse vor 25 Jahren etwas günstiger
als in der neueren Zeit; doch war zu beiden Zeiten die Hälfte aller
Hebammen über 50 Jahre alt. Das Durchschnittsalter berechnet sich
für die erstgenannte Periode auf 50,6 — für die zweite auf 51,7.
(Des Vergleichs halber sei angeführt, dass das Durchschnittsalter der
Aerzte im Jahre 1863 nur 43,8 und im Jahre 1888 sogar nur 38,7
betrug.)
Vergleichen wir auch das Alter, welches die Hebammen bei
Beginn ihrer Praxis hatten, so ergiebt sich Folgendes:
Zeit.
Zahl der Hebammen, welche beim Beginn ihrer
Praxis standen im Alter von Jahren
22 ]
231
24]
,25|
26
'27
28f29 30
3l|
32
33
34
35;36 37
38
39,
12
41
1863
1
1
4
6
5
2
5
6
5
6
5
2
2
3
_
—
2
2
2
1
1888
1
—
3
7
i
7
1
5
1
7
7
6
3
1
3
1
2
3
—
!
—
—
—
Nur der 5. Theil war 25 Jahre und darunter alt, die Hälfte
(vor 25 Jahren sogar nur ein Drittel) zwischen 26 und 30, und
30 pCt. (resp. früher 42 pCt.) über 30 Jahre, dabei vor einem Viertel¬
jahrhundert 12 pCt. selbst 38 bis 41 Jahre alt. Es ist entschieden
zu bedauern, dass sich die betr. Frauen meist erst zu spät zum Heb¬
ammenberuf cntschliessen; indessen sollte nach dem 30. Lebensjahr
keine Person mehr zum Hebammenunterricht zugelasscn werden.
Eine mächtige Förderung für die wissenschaftlichen und Standes¬
interessen der Hebammen brachte im Jahre 1886 die von Dr. Winter
redigirte „Allgemeine Deutsche Hebammenzeitung“. Ich beantragte
beim Kreisausschuss, dass für jede Hebamme, welche sich noch als
bildungs-'und interessefähig erwiesen hatte, und deren Zahl ich auf
40 veranschlagte, auf Kosten des Kreises ein Exemplar dieser Zeitung
gehalten würde. Der Kreisausschuss glaubte indessen, dass es ge¬
nüge, wenn 10 Exemplare in Circulation gesetzt würden, und wünschte
zugleich, dass hierbei keine Hebamme übergangen würde. Ich bildete
also die Lesezirkel, übernahm die Ueberwachung derselben und sam¬
melte die gelesenen Nummern, welche am Jahresschluss gebunden
und an 10 strebsame Hebammen verschenkt wurden. Ich kann con-
statiren, dass diese Zeitung von den Hebammen ausserordentlich gern
gelesen wird (einige halten sich sogar aus eigenen Mitteln ein Exem¬
plar) und eine äusserst wohlthätige Wirkung entfaltet. —
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UNIVERSITÄT OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zaach-Belzig.
149
Die Tagebücher der Hebammen bestanden vor 25 Jahren aus
dicken, von den Lehranstalten ausgegebenen Bänden, die bis zu ihrer
vollständigen Ausfüllung (oft 30 — 40 Jahre lang) benutzt wurden.
Vom Jahre 1867 bis 1879 waren sie niemals revidirt. Seit dem
Jahre 1880 werden statt derselben dünne Hefte vom Kreise geliefert,
die alljährlich von den Hebammen zurückgesandt werden, um in der
Physikats-Registratur zu verbleiben, und die ausser den vorgeschrie¬
benen Colonnen auch einige Fragen über Vorgänge im Wochenbett,
sowie über Ernährung und Ergehen der Neugeborenen in den ersten
6 Lebenswochen enthalten. Da mir die Führung dieser Tagebücher
vielfach nicht genügte, so habe ich anfangs, zugleich in der Absicht
mit den Hebammen in Verkehr zu bleiben und in ihnen das Gefühl der
Verantwortlichkeit rege zu halten, denjenigen, welche nicht zur Nach¬
prüfung vorgeladen waren, eine schriftliche Kritik ihrer Tagebücher
zugesandt in der Art der Bemerkungen der Medicinal-Collegien zu
Obductionen, nur mit dem Unterschiede, dass gute Leistungen auch
als solche anerkannt und belobt wurden. Ich habe in Folge dessen
eine bedeutende Besserung der Listenführung wahrnehmen können.
Einige allgemein interessante Resultate aus den Tagebüchern der
3 Vergleichsjahre — auf Procentzahlen berechnet — liefert nach¬
stehende Tabelle:
Vorkommnisse.
18 63.
1 8 80.
1 888.
Rechtzeitige Geburten.
98,04
96,42
95,61
Frühzeitige Geburten .
1.7*2
2,81
3.33
Unzeitige Geburten .
0/24
0,84
1,06
Todtgeborene .
3,32
4,03
3,75
Regelmässige Schädellagen .
95,54
94,27
95/23
Regelwidrige Schädellagen .
0,00
0,04
0.00
Gesichtslagen.
0,43
0,30
0/27
Beckenlagen .
2,89
3 44
2.95
Schieflagen.
Von den Entbundenen sind gestorben
1,14
1,55
1,40
«ährend der Geburt.
0,00
0,17
0,11
im Wochenbett.
0,09
0,38
0,42
Geburtsbülflicbe Operationen.
2,92
3,10
4,47
Zangen-An Wendungen .
1,10
1/21
2.31
Wendungen .
1,34
1,64
1.48
Extractionen .
0,00
0/21
0,31
Zerkleinernde Operationen .
0,05
0.04
0.00
Nachgeburts-Operationen.
0,28
0,00
0,38
Folgendes verdient hervorgehoben zu werden: Das Procent-Ver-
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
150
Dr. Glcitsmann,
hältniss der frühzeitig und unzeitig Geborenen ist nicht unerheblich
gestiegen, jedenfalls in Folge besserer Listenföhrung. Dagegen stim¬
men die Verhältnisszahlen der Kindslagen auffallend überein, und auch
die Ziffer der Todtgeborenen zeigt keine bemerkenswerthen Schwan¬
kungen. Eine bedeutende Zunahme hinwiederum weisen die geburts-
hülflichen Operationen auf, die von 2,92 auf 4,47 pCt. gestiegen sind,
so dass jetzt bei jeder 22. Geburt (früher bei jeder 34.) Kunsthülfe
angewendet ist. Diese Kunsthülfe wurde vor 25 Jahren noch in
28 pCt. aller Fälle von den Hebammen geleistet (z. B. von 23 Wen¬
dungen 14 — und zwar 9 mit Erhaltung des kindlichen Lebens), im
Jahre 1880 nur noch in 16,6 pCt. (10 Wendungen von 38 und 2
Extractionen), im Jahre 1888 in 2,5 pCt. (3 Extractionen). Die Zu¬
nahme betrifft namentlich die Zangenapplicationen, deren Relativzahl
sich im letzten Viertoljahrhundert verdoppelt hat. Die niedrige Ziffer
der zerkleinernden Operationen beweist, dass Becken Verengerungen
höheren Grades in unserer Gegend recht selten sind. — Dass die
Zahl der im Wochenbett Verstorbenen sich um das Vierfache erhöht
hat, beruht sicherlich einestheils auf der jetzigen besseren Tagebuch¬
führung, anderentheils auf der Erweiterung des Begriffs Wochenbett
von 9 Tagen auf 6 Wochen. Uebrigens sind die während des Jahres
1863 im Wochenbett Verstorbenen sämmtlich an Kindbettfieber zu
Grunde gegangen, von denen des Jahres 1888 nur der dritte Theil,
während die übrigen Todesfälle bedingt sind durch Lungenschwind¬
sucht (3 Mal), Lungenentzündung, die schon vor der Entbindung be¬
standen hatte, Eklampsie, Herzschlag und Kohlenoxydvergiftung.
Hinsichtlich der Neugeborenen stellt nachfolgende Tabelle die
aus den Tagebüchern der Jahre 1881—84 gewonnenen Procentzahlen
zusammen, welche über die Art der Ernährung und ihre Erfolge bei
kräftig und bei schwächlich Geborenen in den ersten 6 Lebenswochen
orientiren:
Neugeborene Kinder.
Mit Muttermilch genährte
MitSurrogaten genährte Kinder
Im
Ganzen
hiervon
Im
Ganzen
hiervon
haben
zu ge¬
nommen
haben
abge-
nommen
sind ge¬
storben
haben
znge-
nommen
haben
abge¬
nommen
sind ge¬
storben
Kräftige Kinder .
Schwächliche Kinder
75,2
13,0
97,2
89,0
0,7
0,7
2,1
10,3
6,0
5,2
79,0
37,7
13,5
25,4
7,5
36,9
Summe.
88,2
96,0
°' 7 !
3,8
11,8
60,8
17,7
21,5
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Original ffom
UNIVERSUM OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Belzig.
151
Während der ersten 6 Lebenswochen sind also 88,2 pCt. aller
geborenen Kinder mit Muttermilch und 11,8 pCt. mit Surrogaten
(meist Kuh- oder Ziegenmilch) ernährt worden. Die verschiedene
Prognose dieser Ernährungsweisen, sowie die starke Gefährdung
schwächlicher Kinder, welche nicht die Mutterbrust erhalten, springt
aus der Tabelle hervor und bedarf keiner Erörterung. Hingewiesen
sei nur auf den hohen Procentsatz der Kinder, welche mit Mutter¬
milch ernährt wurden; er liefert den Beweis, dass in unserer Gegend
die Mütter sich ihrer Pflicht, ihre Kinder selbst zu nähren, noch be¬
wusst sind und darin von den Hebammen unterstützt worden. —
Nach diesen Erörterungen über den materiellen und wissenschaft¬
lichen Zustand des Hebammenwesens wenden wir uns zur Betrachtung
einiger anderer Punkte auf diesem Gebiete. Anschuldigungen ge¬
gen Hebammen kamen während der letzten 25 Jahre nicht gerade
selten vor. Im Jahre 1863 wurden 2 Hebammen wegen „verweiger¬
ter Geburtshülfe“ mit 30 resp. 40 Thalern (oder 4 resp. 5 Wochen
Gefängniss) gerichtlich bestraft. Dieselbe Beschuldigung wurde in der
Zeit von 1863—1879 noch 19 Mal, von 1880—1888 noch 2 Mal
vorgebracht, indessen meist durch eingereichte ärztliche Atteste, welche
die derzeitige Dienstunfähigkeit der Beschuldigten bezeugten, seltener
durch andere Rechtfertigungsgründe hinfällig gemacht. Wegen fahr¬
lässiger Körperverletzung resp. wegen fahrlässiger Tödtung wurden in
der ersten Periode 2, in der zweiten Periode 5 Hebammen zur An¬
zeige gebracht; nur Ein Mal (1885) wurde eine gerichtliche Anklage
eingeleitet, jedoch das Hauptverfahren nicht eröffnet, die übrigen Male
dagegen ein staatliches Einschreiten von vornherein abgelehnt, und
zwar weil — wie stets die Begründung lautete — nicht mit Be¬
stimmtheit nachzuweisen war, dass die Thätigkeit resp. Unterlassung
der Hebamme die Körperverletzung oder den Tod herbeigeführt hatte.
Wegen angeblicher Ueberschreitung der Befugnisse und wegen Kur¬
pfuscherei liegen aus den Jahren 1863 — 79 keine Anklagen vor;
seitdem jedoch mussten 7 Hebammen deswegen von den Verwaltungs¬
behörden zur Rechenschaft gezogen und 6 derselben in Folge des Er¬
gebnisses der Untersuchung ernstlich verwarnt, mit Concessions-Ent-
ziehung bedroht und von den öffentlichen Unterstützungen vorläufig
ausgeschlossen worden. Beschwerden von Privatpersonen wegen
„Klatschereien“ und beleidigenden Aeusserungen der Hebammen ka¬
men 1866 ein Mal, und in der Zeit von 1883 — 85 vier Mal zur amt¬
lichen Behandlung. Da die Hebammen stets leugneten, so musste
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UNIVERSITÄT OF IOWA
152
Dr. Gleitsmann,
den Beschwerdeführern anheimgegeben werden, die Sühne für die an¬
gebliche Beleidigung sich auf anderem Wege zu beschaffen; doch
wurden die Hebammen unter Hinweis auf § 1. der Instruction und
§ 300. des Strafgesetzbuches dringend ermahnt, ihrer Verpflichtung
zur Verschwiegenheit stets eingedenk zu sein. Wegen Trunksucht
wurde einer alten Hebamme 1880 das Prüfungszeugniss entzogen;
eine andere ebenfalls betagte wurde (1886) wegen desselben Lasters
in Untersuchung gezogen, konnte indessen nicht überführt werden und
starb im nächsten Jahre — wie nunmehr allgemein zugegeben wurde
— an den Folgen des chronischen Alkoholismus. Einer Hebamme,
welche trotz wiederholter Aufforderung nicht in dem ihr zugedachten
Bezirk, sondern in der nahe gelegenen Stadt wohnte und prakticirte,
wurde (1867) die Approbation abgenomraen. Beschwerden und An¬
schuldigungen der Hebammen unter einander waren in der ersten Zeit
meiner Amtsführung an der Tagesordnung, sind in den letzten Jahren
aber fast ganz verstummt.
Auf etwaige Uebertretungen der Ober-Präsidial-Verordnung vom
11. December 1879, welche die Anzeigepflicht für jeden Fall von
Kindbettfieber, sowie jeden den Verdacht des Kindbettfiebers erregen¬
den Krankheitsfall einführte, wurde von mir besonders gefahndet.
Die für das Jahr 1881 eingerichtete, aber erst von 1885 an regel¬
mässig fortgesetzte Kreis-Medicinal-Statistik, bei der die Standesbeam¬
ten monatliche Meldekarten über die Bewegung der Bevölkerung, ins¬
besondere über jeden Todesfall an den Physikus einsandten, gab mir
auch Gelegenheit, über das Kindbettfieber genaue Ermittelungen an¬
zustellen. Es wurde nicht nur jeder Todesfall, der angeblich an
Kindbettfieber, im Wochenbett oder in Folge der Geburt eingetreten
war, sondern auch jeder Todesfall einer weiblichen Person im gebär¬
fähigen Alter weiter verfolgt und durch Nachforschungen bei den
Aerzten und Standesbeamten in seinem etwaigen Zusammenhänge mit
einer Infcction bei der Geburt klar gestellt. Auf die Resultate die¬
ser Untersuchungen (die, nebenbei bemerkt, von den Ergebnissen der
Böhr’schen Ermittelungen ab weichen), kann hier nicht eingegangen
werden; hervorgehoben sei aber, dass durch diese Meldekarten in Ver¬
bindung mit den seit 1880 eingeführten monatlichen Meldungen der
Aerzte über alle Vorkommnisse ihrer Praxis dem Physikus eine vor¬
zügliche Handhabe geboten war, die Hebammen bezüglich der Erfül¬
lung ihrer Anzeigepflicht bei Kindbettfieber zu controliren und in ihnen
das Gefühl des ständigen Ueberwachtwerdens zu erhalten. Es ver-
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UNIVERSUM OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Belzig.
153
dient rühmend anerkannt zu werden, dass nur 3 Mal (darunter 1 Mal
bei einer Hebamme eines benachbarten Kreises) die Unterlassung der
Anzeige zu constatiren war.
Klagen über Hebammen-Pfuscherei waren vor 25 Jahren
häufiger als in der neueren Zeit — eine natürliche Folge der räum¬
lichen Ausdehnung mancher früheren Bezirke. Da die Hebammen
einen genügenden Schutz gegen diese ungesetzliche Concurrenz nicht
fanden, so schlossen sie mit ihren „wilden“ Colleginnen häufig förm¬
liche Verträge ab, wonach Letztere in gewissen Orten die Entbindun¬
gen übernahmen und an Erstere eine bestimmte Summe (meist 50
Pfennige für jede Entbidung) zahlten zur Aufnahme des Geburtsfalles
in das Hebammen-Journal. Im Jahre 1880 wurde den Hebammen
ein solches Abkommen streng verboten und der Versuch gemacht,
gegen die Pfuscherinnen einzuschreiten. Doch gelang es in keinem
einzigen Falle, eine gerichtliche Bestrafung herbeizuführen, da die
entbundenen Frauen stets behaupteten, sich der wilden Hebammen
nur aus Noth bedient zu haben, und stets in Abrede stellten, dass
Letztere für ihre Hülfsleistungen Bezahlung gefordert hätten. Einige
später wiederholte Versuche führten ebenfalls nicht zu dem gewünsch¬
ten Resultat, hatten im Gegentheil die Folge, dass die Pfuscherinnen
sich nur sicherer fühlten und die Behörden verhöhnten. Mein Haupt¬
streben musste also nunmehr dahin gehen, durch eine möglichst gleich-
massige Vertheilung der Hebammen über den Kreis die Erlangung ge¬
setzlichen geburtshülflichen Beistandes zu erleichtern und die Kreissen¬
den vor „Nothlagen“ zu bewahren. — Einen Anhalt zur Beurtheilung
über die Ausdehnung der Hebammenpfuscherei erhält man ja, wenn
man die Zahlen der von den Standesämtern und der von den Hebammen
jährlich gemeldeten Geburten vergleicht; für unseren Kreis ist hier¬
bei jedoch zu berücksichtigen, einerseits dass durch die ebenerwähn¬
ten Vereinbarungen zwischen den wirklichen und wilden Hebammen
früher viele Geburtsfälle zwar in die Hebammen-Tagebücher aufgo-
noramen, aber von Pfuscherinnen besorgt sind, und andererseits dass
— wie Seite 142 berichtet ist — 18 Ortschaften sich Hebammen von
Orten ausserhalb des Kreises holen, während von unseren Hebammen
keine ausserhalb des Kreises prakticirt, dass also von der gefundenen
Differenz vor einem Vierteljahrhundert etwa 160, in den letzten
10 Jahren 180—200 als gesetzmässige in Abzug gebracht werden
müssen.
Nach diesen Vorbemerkungen gebe ich nunmehr die betreffenden
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UNIVERSUM OF IOWA
154
Dr. Gleitsm&nn,
Zusammenstellungen über den Ueberschuss der von den Standes¬
beamten gemeldeten Geburtsfälle über die von den Hebammen ange¬
gebenen Entbindungen, wobei in der letzten Colonne die wahrschein¬
lich von auswärtigen Hebammen geleiteten Entbindungen rechnerisch
in Abzug gebracht sind.
Zahl der mehr gemeldeten Geburten
im Jahre
im Ganzen.
Procentverhältniss zu den standes¬
amtlich angegebenen Zahlen
im Ganzen.
nach dem
nöthigen Abzug.
1863
466
18,3
12,0
1864
465
16,4
10,8
1879
519
17,9
11,7
1880
528
18,5
12,2
1881
343
12,5
5,9
1882
339
12,1
5,3
1883
285
10,3
3,5
1884
251
8,9
2,2
1885
214 •
7,6
0,9
1886
247
8,6
1,6
1887
229
7,8
1.0
1888
309
10,5
3,7
Die Besserung der in Rede stehenden Verhältnisse geht aus die¬
sen Zahlen deutlich hervor: während früher mindestens 11—1*2 pCt.
aller Geburten von Pfuscherinnen besorgt wurden, ist diese Ziffer in
den letzten 5 Jahren auf 1—2 pCt. gesunken und zeigt nur im letz¬
ten Jahre ein plötzliches Wiederansteigen, jedenfalls in Folge davon,
dass 2 Hebammen plötzlich ihre Thätigkeit einstellten und ein Ersatz
nicht sofort zu beschaffen war. —
Zum Schlüsse dieser Arbeit muss ich noch eine wichtige- Frage
beantworten, die sich wohl Jedem aufgedrängt hat, die Frage näm¬
lich, welche Wirkung die Gesammtheit aller der geschilderten Mass¬
nahmen auf das Schreckgespenst jeder Entbindung — das Kind¬
bettfieber — ausgeübt hat. Leider bin ich zu dem Geständniss
genöthigt, dass bis jetzt ein greifbarer Erfolg in dieser Hinsicht nicht
nachzuweisen ist.
Ich gebe zunächst nach den amtlichen Mittheilungen des statisti¬
schen Büreaus eine Zusammenstellung über die Anzahl der im Wo¬
chenbette (in den Jahren vor Errichtung der Standesämte — 1863
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UMIVERSITY OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Beizig.
155
bis 1874 — mit Einschluss der in Folge von „Schwangerschaft“) Ver¬
storbenen und füge einige vergleichende Berechnungen hinzu.
Zahl der im Wochenbett Verstorbenen
im Jahre
überhaupt
pro mille der Geborenen
im Kreise
Zauch-Beizig.
im preussi-
scben Staate.
im Kreise
Zauoh-Belzig.
im preussi-
schon Staate.
1863
23
6222
9,0
8,0
1868
28
7290
8,8
7,8
1873
46
9241
16,9
9,0
1875
19
7218
6,5
6,8
1878
19
6285
6,9
5,8
1879
15
6517
5,2
5,9
1880
18
5858
6,3
5,5
1881
16
6128
5,5
5,9
1882
12
6390
4,3
5,9
1883
10
6141
3,6
5.7
1884
19
6127
6,7
5,6
1885
10
6473
3,6
5,8
1886
19
6246
6,6
5,6
1887
18
5997
6,2
5.3
1888
5
?
1,7
V
Im Prenssischen Staate betrug also während der Jahre 1878 bis
1887 die Verhältnisszahl einer im Wochenbett Verstorbenen za 1000
Geborenen zwischen 5,3 und 5,9 (im Durchschnitt 5,7) — in unse¬
rem Kreise zwischen 3,6 und 6,9 (im Durchschnitt 5,5), war dem¬
nach in beiden Distrikten ziemlich gleich gross. Die auffallend nie¬
drige Zahl des Jahres 1888 für unseren Kreis (für den Preussischen
Staat ist die betreffende Zahl noch nicht ermittelt) möchte ich vor¬
läufig für einen Zufall halten.
Genaueres über das Kindbettfieber der letzten Jahre in unserem
Kreise werden wir indessen erst aus folgender Tabelle erfahren, deren
Zahlen durch die Anzeigen der Hebammen und Aerzte und meine
amtlichen Ermittelungen erlangt sind, und die deshalb wohl als zu¬
verlässig gelten darf (siehe umstehende Tabelle).
Hiernach schwankt die jährliche Zahl der Erkrankten zwischen
5 und 23 (0,18 und 0,79 pCt. der Geborenen), die der Verstorbenen
zwischen 1 und 13 (0,04 und 0,45 pCt. der Geborenen). Die Gc-
sammt - Morbidität für die angegebenen Jahre berechnet sich auf
0,58 pCt. der Geborenen, die Mortalität auf 0,26 pCt. Ein Fort-
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Original fram
UNIVERSITÄT OF IOWA
156
Dr. Gleitsmann,
Jahr.
Zahl der
Ge¬
borenen.
Zahl der an Kindbettfieber
Zahl der
bethei¬
ligten
Heb-'
ammen.
Höchste
Erkran¬
kungszahl
bei einer
Hebamme.
Erkrankten
Verstorbenen
über¬
haupt.
pCt der
Geborenen
über¬
haupt.
pCt. der
Geborenen
1880
2850
18
0,63
6
0,21
14
2
1881
2749
20
0,73
10
0,37
15
2
1882
28G0
17
0,61
9
0,82
14
2
1883
2753
5
0,18
1
0,04
5
1
1884
2825
19
0,67
6
0,21
15
2
1885
2814
14
0,50
5
0,18
12
2
1886
2874
22
0,77
13
0,45
17
3
1887
2922
23
0,79
13
0,44
9
5
1888
2950
1
9
0,31
4
0,14
7
2
schritt zum Besseren ist nicht erkennbar; im Gegentheil sind gerade
die Jahre 1886 und 1887 die bedenklichsten, sowohl wegen der
grösseren Zahl der Erkrankungen als auch wegen des häufigeren Vor¬
kommens in der Praxis Einer Hebamme. Doch muss im Allgemeinen
zugestanden werden, dass eigentliche «Epidemien** überhaupt nicht
vorgekommen sind, zumal auch in den Fällen mehrfacher Erkrankun¬
gen bei Einer Hebamme gewöhnlich Monate und eine Reihe gesunder
Wöchnerinnen zwischen den verschiedenen Krankheitsmeldungen lagen.
Ausserdem würde man den Hebammen entschieden Unrecht thun,
wenn man ausschliesslich ihnen die Schuld an den Infectionen auf¬
bürden wollte. Denn gar nicht selten schloss sich das Kindbett¬
fieber an geburtshülfliche Operationen von Aerzten an, und wenn auch
solche Entbindungen wegen ihrer durchschnittlich längeren Dauer und
wegen des dadurch bedingten häufigeren Untersuchens öfter Gelegen¬
heit zur Infection durch die Hebammen bieten, so muss es doch auf¬
fallen, wenn z. B. nach einer Zangenburt Puerperalfieber eintritt, dann
eine Reihe normaler Wochenbetten folgt und bei der nächsten Zangen-
Entbindung desselben Arztes wiederum eine Infection sich bemerkbar
macht. Giebt es doch — leider! — auch jetzt noch sogar jüngere
Aerzte, welche die Antisepsis in der Geburtshülfe recht lax hand¬
haben und beispielsweise bei Extractionen nicht einmal die Manschet¬
ten ablegen.
Das sanitäts-polizeiliche Verfahren bei Kindbettfieber bestand in
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UNIVERSITÄT OF IOWA
Das Hebammenwesen im Kreise Zauch-Belzig.
157
den bekannten Massnahmen: der betr. Hebamme wurde untersagt, die
erkrankte Wöchnerin weiter zu besuchen, und eine bis ins Kleinste
vorgeschriobene Instruction zur Desinficirung ihres Körpers, ihrer In¬
strumente und ihrer Kleidung zugeschickt. Zugleich wurde der betr.
Arzt ersucht, die sachgemässe Ausführung dieser Massregeln mög¬
lichst zu controliren. Die Hebammen, in deren Praxis während eines
Jahres 3 Erkrankungen vorkamen, mussten nach Belzig kommen,
hier zunächst ein längeres Seifenbad nehmen und sodann uni er meiner
Aufsicht sich selbst und ihre Instrumente desinficiren.
Als unterm 22. November 1888 die längst ersehnte „Anweisung
für die Hebammen zur Verhütung des Kindbettfiebers“ erschien, über
deren Entwurf ich bereits im Jahre 1885 ein Gutachten abgegeben
hatte, hielt ich im Aufträge meiner Vorgesetzten Dienstbehörde an
5 verschiedenen Orten des Kreises für je 6—7 Hebammen Curse ab,
in denen die Vorschriften jener Anweisung genau besprochen und von
jeder einzelnen Hebammepraktisch durchgemacht wurdeu. Auch der ärzt¬
liche Verein des Kreises, dem fast alle Aerzte angehören, nahm sich der
Angelegenheit warm an: in einer von Erfolg gekrönten Eingabe an
den Kreisausschuss wies er die Nothwcndigkeit der unentgeltlichen
Lieferung von Carbolsäure an die Hebammen nach und verpflichtete
seine Mitglieder, die Hebammen bezüglich der Befolgung der antisep¬
tischen Vorschriften zu überwachen und Zuwiderhandlungen zur An¬
zeige zu bringen.
Wir haben sicherlich in der Theorie guten Grund zu der Hoff¬
nung, dass durch die strenge Ausführung der ministeriell angeordne¬
ten Massnahmen das Kindbettfieber allmälig ganz verschwinden wird.
Möchte doch die Praxis uns keine Enttäuschungen bringen, und
möchte es mir doch vergönnt sein, wenn ich vielleicht „nach aber¬
mals zehn Jahren desselben Weges gefahren komme“ von dem Kind¬
bettfieber wie von einer „Mär aus fabelhaften Tagen“ zu berichten!
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3.
Die EiifAhrug der Inpfugei ait Thierljnphe ia dea
Jahrea 1882 bis 1888 in Medieiaalbeiirke Glaaehaa.
Von
Dr. Brust H»nkel,
Bezirksarzt zu Glauchau.
Die vom 30. October bis 5. November 1884 im Kaiserlichen Gesundheits¬
amts tagende Commission zar Erörterung der Impffrage beschloss folgende These:
Da die mit Impfung mit Menschenlymphe unter Umständen verbundenen
Gefahren für Gesundheit und Leben der Impflinge (Impfsyphilis, Impferysipel
u. s. w.) durch die Impfung mit Thierlymphe, soweit es sich um directe Ueber-
tragung der Syphilis oder der accidentellen Wundkrankheiten handelt, vermieden
werden können, und da die Impfung mit Thierlymphe in der Neuzeit soweit ver¬
vollkommnet ist, dass sie der Impfung mit Menschenlymphe fast gleichzustellen
ist, so bat die Impfung mit Thierlymphe an Stelle der mit Menschenlymphe zu
treten.
Im Medicinalbezirk Glauchau war schon 1882 Thierlymphe in grösserer
Menge verwendet worden, und 1885 war die Impfung mit Thierlymphe völlig
durchgeführt; die dabei erzielten Erfolge dürften für weitere Kreise von In¬
teresse sein.
I. Die Erstimpfungen.
Bis zum Jahre 1881 waren nur so viel Kinder mit Thierlymphe geimpft
worden, als die Impfärzte Lymphe aus denLymphregenerationsinslituten erhielten.
Es betrug dies beiläufig 1 pCt. Im Jahre 1882 wurde zuerst in grösserem
Maassstabe mit Tbierlymphe geimpft. Sie wurde damals meist aus der Impf¬
anstalt für Thierlymphe von Dr. Fürst bezogen.
In gedachtem Jahre impfte bereits ein Impfarzt des Bezirkes ausschliesslich
mit Thierlymphe aus erwähnter Anstalt, welche damals die Lymphe auf Platten
aufgetrocknet abgab, und zwar 154 Erstimpflinge, von jeder Platte etwa 8, so
dass sich damals der Preis der Lymphe für ein Kind auf etwa 30 Pf. stellte.
Von diesen 154 Erstimpflingen waren 19 zum ersten Male ohne Erfolg geimpft
worden, davon sind 15 nacbgeimpft, aber 2 wieder ohne Erfolg.
Bei den übrigen 148 Kindern waren bei 46 sechs Schnitte, bei 102 acht
Schnitte gemacht worden. Entwickelte Pusteln zeigten sich bei den erstgedaohten
46 Kindern, im Durchschnitt 4 Pusteln.
Bei letztgedachten 102 Kindern entwickelten sich im Durohsohnitt 4 1 / 2
Pusteln.
Es waren also geimpft, einschliesslich der Nachimpfungen 169 Kinder.
Zur Entwickelung kamen:
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Die Einführung der Impfungen mit Thierlymphe etc.
159
6 und raohr Pusteln in 53 Fällen, 31,36 pCt.
5 „ »24 , 14,19 „
4 „ „ 35 „ 20,71 „
3 „ „11 „ 6,51 „
2 . w 21 „ 12,42 „
1 „ „ 4 „ 2,37 .
ohne Erfolg waren geimpft 2 1, 12,44 „
100,00 pCt.
Schlechtere Resultate hatte ein anderer Impfarzt, welcher von jeder Platte
16 bis 20 Kinder geimpft hat.
Von 37 Erstimpflingen waren 23 (62,16 pCt.) ohne Erfolg geimpft, and
im Uebrigen hatten sich entwickelt:
6 Pusteln in 3 Fällen, 8,11 pCt.
3 » „ 1 , 2,70 „
4 „ n 0 „ 0 ti
3 « r> 0 „ 0 »
2 „ „ 3 „ 8,11 „
ln n 7 n 18,92 ,
also im Durchschnitt 2% Pusteln.
Einschliesslioh der 15 Nachimpfungen waren 206 Kinder mit Thierlymphe
geimpft worden, davon 44, also 21,36 pCt., ohne Erfolg.
Schon in diesem Jahre ergab die aus der Lymphregenerationsanstalt zu
Sachsenborg, welche die Lymphe mit Glycerin vermischt in Röhrchen abgiebt,
bezogene Lymphe wesentlich bessere Resultate. Es war kein Kind ohne Erfolg
geimpft worden, und ein dritter Impfarzt hatte bei 17 damit geimpften Kindern
folgende Pustelerfolge: 6 Pusteln in 14 Fällen
5 „ , 1 „
4 „ „ 2 „
3—1 » „ 0 „
also im Durchschnitt 5*/« Pusteln.
Trotz der in Bezug auf die Fürst’sche Lymphe nicht sehr glänzenden
Erfahrungen wurde im nächsten Jahre (1883) sehr viel mit dieser Lymphe ge¬
impft, und zwar wurden überhaupt 66,20 pCt. mit Thierlymphe, die fast durch¬
aus aus oben gedachter Anstalt bezogen wurde, geimpft. In diesem Jahre waren
6.12 pCt. ohne Erfolg geimpft. Diese waren meist mit Thierlymphe geimpft.
Die Anzahl der Fehlerfolge bei Thierlymphe beträgt etwa 8 pCt.
Bereits im Jahre 1884 war die Königliche Lymphregenerationsanstalt in
Sacbsenburg durch die Munificenz des Königlichen Ministeriums in die Lage ver¬
setzt, die Impfärzte ausreichend mit Thierlymphe zu versorgen. 80,49 pCt.
aller Erstimpfungen wurden in diesem Jahre mit derartiger Lymphe ausgeführt.
Geimpft wurden 1884:
Mit Menschenlymphe:
Von Körper zu Körper . . . . 4l5Kinder, davon 0 = 0 pCt. ohne Erfolg.
Mit Glycerinlymphe.57 „ „ 4 = 7,02 „ „ „
Mit anders conservirter Lymphe 365 „ „ 6=1,65 „ „ „
837 Kinder, davon 10= 1,19 pCt. ohne Erfolg.
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UNIVERSUM OF IOWA
160
Dr. Han kel.
Mit Thierlymphe:
Von Körper zu Körper .... 0 Kinder, davon 0
Mit Glycerinlympbe.3411 „ „ 169
Mit anders conservirter Lymphe 15 „ „ 6
3426 Kinder, davon 175
Es waren also noch 5,11 pCt. Fehlerfolge bei Impfungen mit Thierlymphe
gegenüber von 1,19 pCt. Fehlerfolgen bei Impfungen mit Menschenlymphe zu
verzeichnen.
Der eine Impfarzt, welcher durchaus mit Thierlymphe impfte, hatte 1884
750 Kinder geimpft, und da er drei Schnitte auf jeden Arm gemacht hatte, so
waren 4500 Schnitte gemacht worden. Pusteln waren entwickelt 3728, also
82.85 pCt.
Alle 6 Pusteln waren entwickelt bei 65,34 pCt.
«5 „ „ n n 7,88 „
„4 „ „ r ,» 6,53 „
ii 3 , „ „ r 7,33 ,
«2 „ „ « ft 7,06 ft
„ 1 ft n » ft 3,47 „
Ohne Erfolg waren geimpft .... 2,40 „
Vom Jahre 1885 war die Impfung mit Thierlymphe völlig dnrchgeführt und
es ergaben sich nunmehr 2,15 pCt. Fehlerfolge. Diese nahmen im nächsten Jahre
zu und betrugen 3,16pCt. Es kommt die Hälfte aller Fehlerfolge im Jahre 1888
auf einen Impfarzt, der 10,75pCt. Fehlerfolge hatte, während alle übrigen Impf¬
ärzte zusammen nur 1,43 pCt. Fehlerfolge hatten. Im nächsten Jahre wurden
1,80 pCt. ohne Erfolg geimpft und im Jahre 1888 1,50 pCt.
Ueberhaupt sind mit Thierlymphe geimpft worden:
Mit Thier¬
lymphe
geimpft.
Procent.
Im'Königreich
Sachsen.
Im Bezirke waren
überhaupt ohne
Erfolg geimpft.
1879
41
1,02
3,50 pCt.
4,07 pCt.
1880
29
0,85
5,47 „
2,43 „
1881
41
1,23
7,78 ,
1,65 ,
1882
393
10,66
17,23 .
3,60 „
1883
2233
66,20
32,82 „
6,12 .
1884
3425
80,49
64,90 «
4,80 «
1885
3594
100,00
95,50 „
2,15 ,
1886
4143
100,00
99,01 ,
3,16 „
1887
3710
100,00
99,08 „
1,80 „
1888
4207
100,00
'{
1,50 „
= 0,00 pCt. ohne Erfolg.
= 4,95 „ « «
= 40,00 , ft ,
= 5,11 pCt. ohne Erfolg.
Die beiden grossen Städte Leipzig und Dresden haben schon vor 1882 viel
mit Thierlymphe geimpft und die verhältnissmässig grossen Procentzahlen bedingt.
Auf dem Lande bezw. in der Provinz hat sich die Impfung mit Thierlymphe am
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Die Einführung der Impfungen mit Thierlympbe etc.
161
raschesten im hiesigen Bezirke eingeführt und seit 1885 sind alle Impfungen mit
Thierlymphe, meist aus der Impfregenerationsanstalt Saohsenburg ausgeführt
worden.
Von den Jahren 1887 und 1888 habe ich, soweit brauchbare Angaben in
den Impflisten zu finden waren, die Anzahl der entwickelten Pusteln zusammen¬
gestellt. Fast überall waren sechs Schnitte gemacht worden, nur selten 8.
Es ergiebt sich, dass 1887:
bei 2057 Geimpften, also 63,94 pCt 6 bezw. mehr Pusteln entwickelt waren,
„ 395
r
* 12-28 „
5
Pusteln
entwickelt
waren
„ 279
* 8,68 ,,
4
n
T»
. 207
r
, 6-43 „
3
*
T
n
„ 169
w
r 5,25 r
2
n
SS
V
54
„ 1,68 „
1
ss
n
V)
54 waren ohne Erfolg geimpft= 1,68 pCt. Also durchschnittlich 5V a Pustel.
Die besten Resultate hatte ein Impfarzt bei 118 Geimpften, 114 also
96,61 pCt. zeigten alle 6, 3, 2,54 pCt. 5 Pusteln, und ein Kind, 0,85 pCt., war
ohne Erfolg geimpft worden. Nahezu eben so gute Erfolge hatte ein anderer
Impfarzt. Es hatten sich entwickelt:
bei 457, also 86.72 pCt., alle 6 Pusteln,
,, 27. „ 5,14 * 5 „
„ 17, „ 3,21 * „ 4
„ 14, r 2,67 * „ 3
„ 5, „ 0,95 ,, „2 „
„ 0, „ 0.00 r * 1
Ohne Erfolg waren 7, also 1,33 pCt. geimpft.
Schlechtere Resultate hatte ein anderer Impfarzt und zwar entwickelten
sich bei:
94. also 17,90 pCt., 6 Pusteln,
117, „ 22,29 „ 5 „
89. „ 16,95 „ 4 „
86, „ 16,38 „ 3 „
89, „ 16,95 „ 2 „
30, * 5,71 „ 1
20, ,, 3,87 „ waren ohne Erfolg geimpft.
Im Jahre 1888 waren, so weit sich brauchbare Angaben fanden, in öffent¬
lichen Impfterminen 3590 Kinder mit Thierlymphe aus der Königlichen Impf¬
anstalt Sachsenburg geimpft worden.
6 Pusteln entwickelten sich bei 2443 oder 68,05 pCt..
5 r> n kv 377 , 10,50 *
4 n * „ v 3 21 „ 8,94 „
3 t, r » v 232 „ 6,46 „
2 „ „ v „ 145 „ 4,04 „
1 „ „ * * 43 „ 1,17 „
Ohne Erfolg waren geimpft 99 „ 0,81 „
Die Erfolge waren also wieder besser, als im Jahre 1887.
Die besten Erfolge hatte ein Ort. in welchem bei 44 alle sechs Schnitte.
11
Original from
UNIVERSUM OF IOWA
162
Dr. Hankel,
and ein zweiter, wo bei 86 (98,85 pCt.) alle 6 and bei einem Kinde (l.löpCt.)
3 Pusteln entwickelt waren. Bin dritter Ort zeigte bei 64 Kindern alle 6 Pusteln,
bei einem 5. In einem vierten Orte waren bei 91 alle 6 Pusteln, bei zweien
5 Pusteln, bei einem 3 Pusteln entwickelt. An einem anderen Orte waren bei
208 alle 6 Pusteln, bei dreien 5 and bei einem 4 Pusteln entwickelt.
Von grösseren Orten verdient erwähnt za werden, dass bei:
497 Kindern oder 88.62 pCt. 6 Pastein entwickelt waren.
42 n „ 7,48 „ 5 „ „ „
16 „ * 2,84 ,4 n „ „
3 „ „ 0,53 ,3 n „ „
1 , « 0,17 „ 2 „
1 , „ 0,17 „ 1
1 Kind war ohne Erfolg geimpft (0,17 pCt.).
Schlechtere Resultate hatte ein anderer grösserer Ort:
Es kamen 6 Pusteln bei 305 Kindern, 52,05 pCt.,
n »> 5 „ „ 83 „ 14,12 „
« • 4 „ „66 „ 11,28 „
„ »3 * „70 „ 11,94 „
* „2 „ „39 „ 6,65 „
n „ „ „ „ 16 „ 2.74 „
7 Kinder (1,20 pCt.) waren ohne Erfolg geimpft.
Die schlechtesten Erfolge waren in einem Orte, wo bei 24 Kindern ent¬
wickelt waren:
6 Pusteln bei 0 Kindern, 0,00 pCt.,
5 „ „ 4 „ 16,67 „
4 „ „ 3 „ 12,50 n
3 „ „ 1 4,16 „
2 * « 5 „ 20,83 „
1 « « 11 45,84 „
Ohne jeden Erfolg war kein Kind geimpft worden, doch muss die Ent¬
wickelung einer Pustel als Impfung ohne Erfolg angesehen werden.
Alle bis hierher aufgeführten Impfungen waren mit Thierlymphe aus der
Sachsenburger Anstalt ausgeführt worden. Im letztgedachten Orte waren im
2 Termine 15 Kinder mit Fürst’scher Lymphe geimpft worden. Die Erfolge
waren folgende:
6 Pusteln bei 10 Kindern, 66.67 pCt.,
5 „ „1 r> 6.67 „
4 „ „ 1 6,67 „
3 „ „ 2 13,33 „
2 „ „0 „ 0,00 „
1 . * 1 * 6,67 ,,
Ohne Erfolg war kein Kind geimpft worden.
Wenn nun auch vereinzelte weniger gute Impfresultate beobachtet waren,
so stehen die mit Thierlymphe gewonnenen Resultate im Allgemeinen den früher
mit Menschenlymphe gewonnenen Erfolgen nioht nach, sondern sind sogar jetzt
besser, als zu der Zeit, wo blos mit Mensohenlymphe geimpft wurde.
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Die Einführung der Impfungen mit Thierlymphe etc. 163
Die Pusteln nehmen bei Anwendung von Thierlymphe entschieden einen
rascheren Verlauf, und wenn auch die Rö'.hung etwas bedeutend ist, so heilt der
ganze Process sehr schnell und leicht ab. Irgend welche schwerere Störungen
nach dem Impfen sind nur dreimal beobachtet worden. Alle übrigen Gesundheits¬
störungen. die beobachtet wurden, waren so leichter Natur, dass die Impfärzte
sich derselben kaum noch erinnern, und dass sie in der That keine Bedeu¬
tung haben.
Einmal (1884) war bei Anwendung von Thierlymphe eine wirklich tiefe
Verschwärung der Impfpusteln zu beobachten, doch genas das Kind.
Todesfälle in Folge der Impfungen mit Thierlymphe sind zwar zwei vor¬
gekommen, doch ist der Zusammenhang der tödtlichen Erkrankung mit der
Impfung nicht vollständig zu erweisen.
II. Die Wiederimpfungen.
Bei den Wiederimpfungen war die Einführung der Thierlymphe zu der¬
selben Zeit, wie bei den Erstimpfungen. Mit Thierlymphe wurden wieder¬
geimpft:
Im Jahre:
Wurden mit
Thierlymphe
wieder¬
geimpft..
Procent aller
Wieder¬
geimpften.
Im Königreich
Sachsen wurden
mit Thierlymphe
wiedergeimpff.
Im Bezirke waren
überhaupt ohne
Erfolg wieder¬
geimpft.
1879
11
0,04
1,22 pCt.
i
11,68 pCt.
1880
2
0,06
4,66 .
7.00 „
1881
0
0,00
7,23 „
4.87 „
1882
153
5,40
16,98 „
5,40 „
1888
1604
64,43
30,12 „
12,28 „
1884
2855
88,89
63,00 .
3,62 „
1885
3268
100,00
95,05 „
4,04 „
1886
3057
100,00
99,02 „
3,59 „
1887
8174
100,00
99.07 „
4,44 „
1888
3337
100,00
V
1,32 „
Die Zahlen der mit Thierlymphe geimpften Wiedergeimpflen entsprechen
den Zahlen für die Erstimpfungen.
Nachdem 1879 npch 11,68 pCt.' ohne Erfolg wiedergeimpft waren, hatte
sieb diese Zahl bis 1881 auf 4,87 pCt. erniedrigt, um bei Einführung der
Impfungen mit Thierlymphe wieder auf 12,28 pCt. anzusteigen. Von da an
ging sie allmälig herunter bis auf etwa 4 pCt., um endlich 1888 nur noch
1.32 pCt. zu betragen. Also auch hier sind die Resultate jetzt wesentlich
bessere, wie früher bei der ImpfuDg mit Menschenlymphe.
Im Jahre 1882, wo wie bei Erstimpfungen auch bei den Wiederimpfungen
zum ersten Male in grösserem Maassstabe Thierlympbe in Anwendung kam, hatte
ein Impfant auch sämmtliohe Wiederimpfungen (128) mit Thierlymphe aus¬
geführt.
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11 *
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UN1VERSITY OF IOWA
164
Dr. Hankei,
Davon waron ohne Erfolg 16 = 12,5 pCt.
Es batte sich 1 Pustel (Knötchen etc.) entwickelt bei 45 = 31,16 pCt.
n » » 2 „ *• r> n 39 34,46 „
» » » 3 * n r> »28— 21,87 B
Ueberhaupt waren nur 3 Schnitte gemacht worden.
Idi Jahre 1884 wurden wiedergeimpft 3398 und zwar:
Mit Menschenlymphe:
Von Körper zu Körper. 255, davon ohne Erfolg 0 = 0,00 pCt.
Mit Glycerinlymphe.153, „ „ „ 17=11,11 „
Mit anders conservirter Lymphe . . 135, „ „ „ 3 = 2,22 „
543, davoD ohne Erfolg 20 = 3,68 pCt.
0, davon ohne Erfolg 0 = 0.00 pCt.
2851, „ ff „ 270 = 9,47 „
4, „ „ „ 3 = 75,00 n
2855, davon ohne Erfolg 273 = 9,56pCt.
Auch hier ergaben die Impfungen mit Thierlymphe schlechtere Resultate
als die mit Menschenlymphe.
Vom nächsten Jahre (1885) war die Wiederimpfung mit Thierlymphe voll¬
kommen durchgeführt, und es ergaben sich etwa 4 pCt. Fehlerfolge.
Von den Jahren 1887 und 1888 habe ich die Anzahl der entwickelten
Pusteln (Knötchen u. s. w.) zusammengestellt.
Im Jahre 1887 waren bei 2605 wiedergeimpften Kindern die Pustelangabe
brauchbar, und überall waren je 5 Schnitte gemacht worden.
Entwickelt waren 5 Pusteln bei 39,81 pCt. Ohne Erfolg waren geimpft
115, also 4,44 pCt.
Die besten Resultate waren folgende: Von 32 Wiedergeimpften hatten 31.
also 96,84 pCt. 5 Pusteln, einer, also 3,16 pCt, 4 Pusteln.
Sehr gut waren folgende Erfolge bdi 165 Wiedergeimpften: Entwickelt waren
5 Pusteln bei 63,63 pCt. Ohne Erfolg waren 4, also 2,42 pOt. Wieder¬
geimpfte.
Die sohlechtesten Schnitterfolge fanden sich bei 120 Wiedergeimpften, wo
5 Pusteln bei 20,00 pCt. entwickelt waren. Ohne Erfolg war kein Kind wieder¬
geimpft.
Im Jahre 1888 waren Von 2561 von den mit Lymphe aus der Impfgenera¬
tionsanstalt Sachsenburg geimpften Wiederimpfungen die Pustelangaben brauch¬
bar. Es waren bei 2335 fünf, bei 226 sechs Schnitte gemacht worden.
Entwickelt waren 5 bez. 6 Pusteln bei 48,42 pCt. Ohne Erfolg waren
geimpft 42, also 1,64 pCt.
Die Erfolge waren besser als im Vorjahr.
Die besten Erfolge hatte ein Impfarzt bei 146 Wiederimpfungen. Ent¬
wickelt waren 5 Pusteln bei 87,66 pCt. Ohne Erfolg war Niemand geimpft
worden.
Nahezu eben so gute Resultate hatte ein anderer Impfarzt bei 190 Wieder¬
impfungen. Es entwickelten sich 5 Pusteln bei 62,63 pCt. Ohne Erfolg war
Niemand geimpft worden.
Mit Thierlymphe:
Von Körper zu Körper.
Mit Qlycerinlymphe.
Mit anders conservirter Lymphe . .
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UNIVERSUM OF IOWA
Die Einführung der Impfungen mit Thierlymphe etc.
165
Die schlechtesten Erfolge hatte ein Impf&rzt bei 22 Wiederimpfungen. Es
entwickelten sich 5 Pastein bei 4.55 pCt. Ohne Erfolg waren geimpft 10,
also 45,45 pCt.
Ein anderer Impfarzt hatte auch wenig gute Erfolge. Er impfte 79Wieder-
irapQioge mit je 6 Schnitten. Es entwickelten sich 6 Pusteln bei 2,53 pCt.
Ohne Erfolg waren geimpft 7, also 8.86 pCt.
Ueber die Frage, ob bei Wiederimpfungen deutliche Pusteln oder nur Knöt¬
chen entwickelt waren, geben die Erfahrungen, welche ich bei den Revisionen der
Impfärzte gemacht habe, Aufschluss.
Im Jahre 1883 wurden beobachtet bei Wiederimpfungen mit Thierlymphe:
3 deutliche Pusteln bei 1 Kinde, 0,78 pCt. \
2
„ „ »3 Kindern, 2,35
» } 14,94 pCt
1
»i » n 1®
. 11,81
3
Knötchen „ 30
• 23,62
2
„ „ 7
i> 5,51
„ > 44,10 pCt.
1
. , 19
* 14.97
. >
Sehr
schwache Reaction bei 32
„ 25,20
»
Ohne Erfolg waren geimpft 20
„ 15,76
rt
Wiederimpfungen mit Mensohenlymphe zeigten sich:
3 deutliche Pusteln bei 3 Kindern, 6,67 pCt. \
2
. » . o
» 0,00
. > 6,67 pCt.
1
„ » * 0
* 0,00
* 1
3
Knötchen „ 15
„ 33,35
2
» 1
* 2,22
„ } 35,55 pCt.
1
. . o
, 0,00
■ 1
Sehr schwache Reaction „ 25
„ 55,56
n
Ohne Erfolg war geimpft 1
„ 2,22
t»
Im Jahre 1884 wurden bei Wiederimpfungen mit Thierlymphe beobachtet:
3 deutliche Pusteln
bei 16 Kindern, 15,24 pCt. \
2
„ 9 .
8,57 „ } 30,47 pCt.
1
* 7 „
6,66 „ J
3 Knötchen
* 18 „
17,14 „ \
2
„ 5 „
4.76 „ } 29,52 pCt.
1
, 8 „
7,62 n t
Sehr schwache Reaction hatten 42 „
40,00 „
Ohne Erfolg war kein Kind geimpft worden.
Es wurden beobachtet bei Wiederimpfungen mit Menschenlymphe:
3 deutliche Pusteln
in 4 Fällen,
6,15 pCt. \
2 „
»3 *
4,62 „ } 23,08 pCt.
1
* 8 „
12,31 „ i
3 Knötchen
* 18 *
27,70 ,
2
* 3 „
4,62 „ > 40,01 pCt.
1
» 5 „
7,69 , i
Schwache Reaction
• 24 „
36,90 „
Ohne Erfolg war kein
Kind geimpft worden.
Ganz anders stellten sich
die Erfolge der durchaus mit Thierlymphe ge-
impften Wiederimpflinge in den Jahren 1887 und 1888.
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UNIVERSUM OF IOWA
166
Dr. Hankel,
Bei den Revisionsterminen habe ich 353 Wiederimpflinge bei verschiedenen
Impfärzten gesehen, davon hatten:
5 deutliche Pusteln 111. also 31,45 pCt. 'j
4 * * 58, „ 16,43 „ I
3 „ 43, „ 12,18 „ \ 73,66 pCt.
2 „ „ 31. r 8,78 „ [
1 * , 17, * 4,82 „ J
5 Knötchen 28, „ 7,93 ,
4 „ 12, „ 3,40 *
3 „ 21, „ 5,95 , V 21,82 pCt.
2 „ 12, „ 3,40 „
1 „ 4, „ 1,14 „
Sehr schwache Reaction zeigten 12, „ 3,40 „
Ohne Erfolg waren geimpft 4, „ 1,14 „
Man fand also bei Wiedergeimpften, bei denen Thierlymphe benutzt wor¬
den war:
im Jahre 1883 14,94 pCt. deutlioh entwickelte Pusteln,
* , 1884 30,47 „ „
* , 1887/88 73.66 * r
Dagegen:
im Jahre 1883 44,10 pCt. Knötohen,
, „ 1884 29,52 „
, „ 1887/88 21,82 „
Schwache Reaction fand sich:
im Jahre 1883 bei 25,20 pCt.,
„ * 1884 ,, 40,00 „
* , 1887/88 „ 3,40 „
Während ohne Erfolg:
im Jahre 1883 15,76 pCt.,
„ „ 1884 0,00 „
„ * 1887/88 1,14 „
wiedergeimpft waren.
Die deutlioh entwickelten Pusteln haben sich also von 1883 auf 1884 ver¬
doppelt, und von da bis 1887/88 um über das Doppelte erhöht. Die Zahl von
73,66 pCt. ist eine so hohe, wie ich es für möglich halte, bei Wiederimpfungen
überhaupt Pusteln zu verlangen.
Von Interesse dürfte die Bemerkung sein, dass bei sehr starken von der
Erstimpfung herrührenden Narben die Wiederimpfung nur sehr schwache Erfolge
hatte, und dass umgekehrt die schönsten Pusteln bei schwachen von der Erst¬
impfung herrührenden Narben zu bemerken waren.
Von mehreren Impfärzten ist mir versichert worden, dass es mit Ausnahme
sehr weniger Fälle möglich sei, deutliche Pusteln bei der Wiederimpfung zu er¬
halten. Mir selbst ist es wiederholt bei Impfterminen ohne jede Ausnahme
geglückt.
Gesundheitsstörungen ernsterer Art waren nach den Wiederimpfungen nicht
zu beobachten. Allerdings finden sich öfters Impferysipele, z. B. kamen einmal
im Jahre 1888 bei 84 Wiederimpfungen, bei denen sich fünf deutliche Pusteln
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Die Einführung der Impfungen mit Thierlymphe etc.
167
entwickelt halten, 12 Impferysipele vor, d. h. Röthung und Sohwellung der Ge¬
gend über dem Musculus Deltoideus und des Oberarmes, in seltenen Fällen auch
des Unterarmes. Alle heilten sehr gut Fieber war nioht vorhanden.
Eis hat den Anschein, als ob die Anzahl dieser leichten Erysipele jetzt
grösser wäre, als früher. Wenn man aber beaobtet, wie selten früher deutliche
Pusteln bei Wiederimpfungen entwickelt waren, so wird man behaupten können,
dass bei Wiederimpflingen, bei denen sich deutliche Pusteln zeigen, die Erysipele
nach den Impfungen mit Thierlymphe nicht öfters Vorkommen, als bei ImpfuDgen
mit Menschenlymphe.
Die Impfung mit Thierlymphe steht also in ihrer Wirksamkeit der Impfung
mit Mensohenlymphe nioht naob. Die Entwicklung der Pusteln pflegt eine raschere
bei Impfung mit Thierlymphe zu sein, und wesentliche Gesundheitsstörungen
sind bei der Anwendung von Thierlymphe nur einmal, Todesfälle zwar zweimal
beobachtet worden. Dooh ist der Zusammenhang der tödtlicber. Erkrankung mit
der Impfung nioht völlig zu erweisen.
Die Thierlymplie genügt also allen Ansprüchen, die an eine gute Lymphe
gestellt werden können.
4.
Zar AetUUgie itr ertapösea Paeiauif.
Von
Dr. med. Eleiell,
weiland prakt. Arat in Echte (Provina Hannover;.
(Fortaetsung.)
UL Die cronpftse Pneumonie besitzt contagiöse Eigenschaften, and
ihre Aasbreitang erfolgt in der Mehrzahl der FUle anf dem Wege der
An8tecknng.
Eine Pneumonie-Epidemie beschränkt sich nur selten auf einen einzigen Ort.
Fast stets greift sie auf benachbarte Orte über, und ihre Ausbreitung erfolgt als¬
dann, wie bei dem Milzbrand, den Typhen und anderen Infectionskrankheiten,
nach einem zweifachen Modus. Entweder es zeigen sich in einem oder in mehreren
Orten der Nachbarschaft nnr vereinzelte Erkrankungen, welche sich nicht weiter
epidemisch ausbreiten und den Charakter von eingescbleppten Fällen tragen, oder
es treten — und das ist für die Pneumonie die Regel — in einem oder einigen
wenigen nächstgelegenen Orten, selten plötzlich, meistens in ganz allmäliger
Steigerung zahlreiche Pneumonien auf, welche sich wiederum örtlich beschränken,
und daher als weitere Epidemien angesehen werden müssen, ln wie weit nun
dieser Modus der Ausbreitung der Pneumonie von der Coniagiosiiät ihrer Krank-
heitastoffe, in wie weit er von looalen Verhältnissen abhängig ist, muss als eine
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Dr. Kiese 11,
offene Frage angesehen werden, zu deren Beantwortung uns noch eine Reihe der
wichtigsten Vorbedingungen fehlen. Während uns auf der einen Seite die Biologie
der pnenmonischen Mikroorganismen noch fast gänzlich unbekannt ist, lehrt uns
auf der anderen Seite zwar die klinische Beobachtung der Pneumonie, dass sie
eine zweifellose Infectionskrankheit ist; sic zeigt uns aber auch, dass ihre Krank¬
heitsstoffe so veränderliche Eigenschaften besitzen, dass es schwierig ist, aus
ihnen allein ihren contagiösen oder miasmatischen Ursprung festzustellen. Der
variable Charakter folgt der Pneumonie überallhin — er haftet an allen ihren Eigen¬
schaften , nicht allein auf pathologischem, fast noch mehr auf ätiologischem Ge¬
biete. Rur selten entstehen und breiten sich zwei Pneumonie-Epidemien in an¬
nähernd gleicher Weise aus, selbst nicht diejenigen, die zeitlich und örtlich in
naher Beziehung zu einander zu stehen scheinen. Die eine Epidemie zeigt we¬
nige, die andere zahlreiche Erkrankungen, die eine dauert wenig Wochen, die
andere lange Monate; die eine führt vorzugsweise in einer bestimmten Oertlich-
keit Krankheitsfälle herbei, die andere zeigt ausschliesslich zerstreute Fälle; die
eine Epidemie endlich bringt zahlreiche Fälle von mehrfachen Erkrankungen in
einer Familie, eine andere dagegen durchseucht nur Individuen, welche sich gänz¬
lich fremd stehen.
Trotz der fortlaufenden Uebersicbt. welche man in einem begrenzten Kreise
über die einzelnen Pneumonien und die verschiedenen Pneumonie-Epidemien hat,
ist es oft schwierig, den Zusammenhang zwischen den Pneumonien, ihre Zuge¬
hörigkeit zu der einen oder der anderen Epidemie nachzuweisen. Fast zu jeder
Zeit herrschen in einigen Orlen des Bezirks kleinere oder grössere Epidemien,
welche gleichzeitig auf ein und denselben benachbarten Ort übergreifen können.
Es treten dann in einem Orte Lungenentzündungen auf, welche scheinbar zu¬
sammengehören und doch von ganz verschiedener Provenienz sind. (Vergl. meine
frühere Arbeit. Diese Zeitschrift, Bd. 39 , Heft 1, S. 91—97.) Ausserdem ge¬
lingt es bei der grossen Abhängigkeit der Erscheinungsform der Pneumonie von
individuellen Einflüssen nur selten, die Erkrankungen einer besonderen Pneumonie-
Epidemie nach einzelnen gemeinsamen klinischen Symptomen zusammeDZustellen.
Endlich ist es bei dem Polymorphismus der Pneumonie sehr wahrscheinlich, dass
die ihr zu Grunde liegenden InfectionsstofTe sich zu verändern und umzugestalten
vermögen, sei es, dass sie wichtige Qualitäten, wie die Contagiosität oder die
Virulenz theilweise einbiissen, oder dass sie sich mit anderen Parasiten (wie den
Erysipel- oder Typhus-Mikroorganismen) zu Miscbinfeclionen verbinden, oder dass
sie mit toxischen Producten eine ihre pathogene Thätigkeit steigernde Vereinigung
eingehen (wie bei den putriden Pn.). Aus solchen Veränderungen und Verbin¬
dungen werden dann Erkrankungen resultiren. welche ausser jedem ätiologischen
Zusammenhang mit anderen gleichzeitig auftretenden Lungenentzündungen zu
stehen scheinen.
So unbekannt uns nun auch die biologischen Eigenschaften der Mikroorga¬
nismen der Pneumonie noch sind, so wissen wir doch, dass sie nicht blos im
thierischen Organismus, sondern auch ausserhalb desselben in den verschieden¬
sten Stadien gedeihen und fortleben können. Emmerich') fand die Fried-
länder’schen Bacterien in der Zwischendeckfüllung eines Gefängnisses, Paw-
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') Zeitschrift für Biologie.
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Zur Aetiologie der croupösen Pneumonie.
169
Iowsky 1 ) in der Luft eines Gebäudes, Uf fei mann 3 ) in der Kellerlnft; in allen
diesen Fällen befanden sich die Parasiten in einem infectionsfäbigen Zustande.
Diese Befunde beweisen indess nicht, dass die pneumonischen KrankheitsstolTe im
Boden oder in der Luft selbständig entstehen, und von hier aus den Organismus
durchseuchen: sie zeigen nur. dass die Infectionskeime ihre pathogenen Einge-
schaften ausserhalb des Körpers nicht einbüssen. Dies geht auch aus der Epi¬
demiologie der Pneumonie hervor. Denn die Pneumonie-Epidemien besitzen in
der Mehrzahl der Fälle die Eigentümlichkeit, dass sie sich Wochen und Monate
lang in einem Orte einnisten, und dass die Einzelfälle einer Epidemie oft duroh
grosse Zwischenräume von einander getrennt sind. Es müssen also die pneu¬
monischen Mikroparasiten in einem Orte lange Zeit haften können, ohne ihre In-
fectionsfähigkeit zu verlieren. Dabei müssen sie zugleich in der Umgebung der
Kranken am zahlreichsten vorhanden sein, und müssen weniger in der Luft sus-
pendirt. als vielmehr an feste Materien, wie an Kleider, Betten, den Fussboden,
die Zimmerwände u. s. w. gebunden sein. Denn einerseits geht eine einzelne
Pneumonie sehr leicht von einem Kranken auf gesunde Personen seiner Umgebung
über, und andererseits ist die Ausbreitung einer Pneumonie-Epidemie von einem
Orte auf den anderen keine regellose, sondern sie ist in hervorragendem Grade
den Einwirkungen des menschlichen Verkehrs unterworfen. Das lässt sich aus
einer Reihe von bemerkenswerthen Tbatsachen naohweisen.
1. Zahlreiche gesunde Personen erkranken an einer Pneumo¬
nie. nachdem sie mit Kranken oder mit Angehörigen desselben in
Berührung gekommen sind. Die Uebertragung erfolgt um so leichter, je
inniger der Verkehr zwischen einem Gesunden und dem Kranken war. Es sind
daher auch vorzugsweise die eigenen Familienangehörigen, für welche durch
die Sorge um den Kranken ohnehin die Krankheitsdiposition erhöht ist, auf
welche die Infectionskeime zunächst und am häufigsten übergehen, und unter
den Familiengliedern sind es wiederum in der grossen Mehrzahl der Fälle die
Eltern oder die Grosseltern, welche dem Kranken am nächsten stehen, oder die
kleineren Kinder, welche sich am längsten und anhaltendsten in seiner Umge¬
bung aufhalten, unter denen sich weiterhin Erkrankungen einstellen. Diejenigen
Familienglieder hingegen, welche in der Regel die wenigsten Beziehungen zu
den Erkrankten haben, wie erwachsene Söhne oder Töchter, die Mägde oder die
Knechte als Personen des Gesindes, erkranken nur ausnahmsweise.
Zahlreiche Einzelfälle von Pneumonien, welche durch directe Uebertragung
von meinen Kranken auf gesunde Personen entstanden, habe ich schon in meiner
früheren Arbeit beschrieben (I. c. S. 102 u. f.). — In den gesammten 7 Jahren
kamen auf 145Familien, in denen mehrfache Pn. auftraten, 355Pn. Den ersten
145Pn. folgten daher 2lOPn. Von diesen trat nur 1 Pn. an dem gleichen Tage
auf. an welchem die erste ausbrach; 37 Pn. folgten der ersten Pn. in einer
Zwischenzeit von 1 —14 Tagen, 13 Pn. in einer solchen von 2 — 4 Wochen,
16 Pn. nach 1—2 Monaten. 9 Pn. nach 2—3 Mon., 13 Pn. nach 3 — 6 Mon.,
24 Pn. nach 6—12 Mon., 34 Pn. nach 1—2 Jahren, 26 Pn. nach 2—3 Jahren,
19Pn. nach 3—4 Jahren, 12 Pn. nach 4—5 Jahren und 6 Pn. nach 5—7Jahren.
') Berliner klin. Wochenschr. 1885. No. 22.
3 ) Ebenda. 1887. No. 39.
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Dr. Riesel 1,
Selbstverständlich kommen nur die Pneumonien, welche innerhalb eines Zeitraums
von einem Tage bis zu acht Wochen sich folgen, — die Durcbschnittsdauer einer
Pneumonie-Epidemie beträgt etwa 1—2 Monat — ein und derselben Epidemie
zu; die später aufiretenden Pneumonien gehören verschiedenen Epidemien an.
Von den 66 Pn. nun, welche binnen 8 Wochen einer voraufgegangenen ersten
Erkrankung nachfolgten, fallen nur 6 Pn. auf ältere Söhne odor Töchter der Fa¬
milie. und nur 3 Pn. auf das Gesinde; 57 Pn. dagegen vertheilen sich auf die
Eltern, Grosseltern und die Kinder unter 10 Jahren. — Was das Verhältniss
der Familien zu den von ihnen bewohnten Häusern betrifft, soer¬
streckten sich die gesammten 607 Pn. auf 397 Familien und 352 Häuser. Nur
in 3 Fällen bewohnten je 3 der Familien ein und dasselbe Haus; auf diese
9 Familien kommen 13 Pn., welche sich auf dieselben in den 7 Jahren durchaus
ungleichmässig vertheilen. In 18 Fällen wohnten je 2 der Familien in einem
Hause; auch hier traten nur dreimal gleichzeitig in den betreffenden Familien
Pneumonien auf, und es waren dies Familien, welche unter sioh in einem leb¬
haften Verkehr standen. In 4 Fällen, in denen Angehörige einer Familie an
Lungenentzündungen erkrankten, bewohnten die Kranken verschiedene Häuser
(in Folge von Dienstverhältnissen). Von besonderem Interesse in Bezug auf den
Einfluss, welchen die Häuser und Wohnungen auf die Entstehung der Pneumo¬
nien auszuüben vermögen, erscheinen die Lungenentzündungen in den casemen-
artigen Arbeiterwohnungen des Bezirks, und diejenigen, welche in solchen Fa¬
milien auftraten, die in der Beobachtungszeit ihre Wohnung wechselten. Es giebt
in dem ganzen Kreise nur 4 Häuser, in welchen 6—8Arbeiterfamilien zusammen¬
wohnen. In dem einen dieser Häuser (deren Insassen übrigens nur selten einen
besonders innigen Verkehr unterhalten) traten in den 7 Jahren 5Pn. auf (1881:
1 Pn.; 1885: 2 Pn.; 1886: 2 Pn.) stets in verschiedenen Familien; in dem
zweiten Hause zeigten sich 3Pn. (1886 in 2 Familien), und in den beiden ande¬
ren Häusern je 2 Pn. (1883: 2 Pn.; 1886: 2 Pn.), welche sich auf 3 Familien
erstreckten. Von keiner einzigen Wohnung und von keinem einzigen Hause ging
daher eine besonders starke Infection aus. Von den gesammten 397 Familien
wechselten 1 2 Farn, in den 7 Jahren ihre Wohnung, indem 3 Fam. ein neuge¬
bautes Haus bezogen, und 9 Fam. umzogen. Trotz dieses Umzuges traten nach
wie vor unter den Familien Pneumonien auf. — Fall36. Der Ackerknecht Leif-
heit in Calefeld macht im Juni 1881 eine Pn. durch. Im Jahre 1883 zieht er
mit seiner Familie nach Düderode. Daselbst verstirbt seine Mutter im December
1883 an einer Pn. Im Jahre 1885 bezieht er in Düderode eine andere Wohnung,
in derselben macht sein Kind im Juli 1886 eine schwere Pn. durch. In der ur¬
sprünglichen Wohnung des Leifheit in Calefeld ist weiter keine Lungenentzün¬
dung aufgetreten. — Fall 37. Die Frau des Arbeitsmanns Fischer in Olders¬
hausen stirbt im März 1885 an einer Pn., ihr Mann zieht zu Ostern 1886 um,
in seiner neuen Wohnung erkrankt eins seiner Kinder im August 1886 an einer
Pn. — Fall 38. Die Frau Mörs in Echte machtim April 1885 eine Pn. durch,
darauf bezieht sie eine andere Wohnung, in welcher sie im März 1886 wieder
von einer Pn. befallen wird. — Fall 39. Der Arbeitsmann Linram übersteht
im Mai 1880 in Eboldshausen eine Pn. Im Jahre 1883 zieht er um, und er¬
krankt im Januar 1885 abermals an einer Pn. — Nicht die Wohnungen
bilden daher einePrädilectionsstelle der Pneumonie, diese müssen
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Zur Aetiologie der croupösen Pneumonie.
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wir vielmehr ausschliesslich in der individuellen Körperconsti¬
tution suchen. Es sind allerdings zahlreiche Hausepidemien publicirt, in
denen anscheinend die Krankheitsursache in den Wohnungen zu liegen schien.
Aber in den kleineren dieser Epidemien, wie in den von Säe 1 ), Bonnemai-
son 3 ), Senator 3 ') publicirten Pallen hatten die Erkrankten unter sich in Ver¬
kehr gestanden, eine contagiöse Ausbreitung der Pneumonie war daher nicht aus¬
geschlossen, und in den grösseren Epidemien, welche Casernen und Gefangen¬
anstalten betrafen, war eine Steigerung der Krankheitsdisposition durch Momente,
welche die Erkrankten in annähernd gleicher Weise beeinflussten, nicht unwahr¬
scheinlich.
Die mehrfachen Pneumonien, welche innerhalb einer einzigen
Familie zu Tage treten, zeigen somit die Eigenthömlichkeit, dass
sie fast nie zu gleicher Zeit ausbrechen, dass sich vielmehr die
nachfolgenden Erkrankungen in der grossen Mehrzahl der Fälle
der ersten Pneumonie anschliessen. und dass ihre Anzahl mit der
Zunahme der Entfernung von der ersten Lungenentzündung stetig
abnimmt. Ausserdem sehen wir, dass auf der einen Seite die Anzahl der Fa¬
milien, in denen sich im Laufe mehrerer Jahre mehrfache Pneumonien zeigen,
eine nioht unbedeutende ist (vergl. S. 169), dass auf der anderen Seite dagegen
die Anzahl der Häuser, in denen gleichzeitig in mehreren Familien Erkrankungen
auftreten, unter ländlichen Verhältnissen eine nur geringe ist, und dass in man¬
chen Familien die Lungenentzündungen unbeschadet eines einzigen oder eines
wiederholten Wohnungswechsels ihren Fortgang nehmen. In diesen Thatsachen
tritt nicht nur das contagiöse Moment der Pneumonie deutlich zu Tage, es geht
auch zugleich aus ihnen die Wichtigkeit der individuellen und familiären Krank¬
heitsdisposition für die Erkrankung an der Lungenentzündung hervor.
2. Diejenigen Bewohner eines Ortes, welche mit dem inficir-
ten Theile der Bevölkerung während einer localen Pneumonie-Epi¬
demie keine oder nur geringe Beziehungen unterhalten, bleiben
fast gänzlich von Erkrankungen verschont.
Ein sprechendes Beispiel dieser Art bieten die fremden Arbeiter und Arbei¬
terinnen. meistens Polen aus den östlichen Landestheilen, welche vom Frühjahr
bis spät in den Herbst hinein im Bezirke anwesend sind, um auf einigen grösse¬
ren Gütern zu arbeiten. Sie stehen auf den letzteren unter Aufsicht von gleich¬
falls hier nicht ansässigen Aufsehern, und arbeiten fast stets in geschlossenen
Colonnen, getrennt von den anderen Arbeitern, wohnen in besonderen Häusern,
die zu diesem Zwecke casernenartig eingerichtet sind, und haben, weil sie fast
alle nur wenig deutsch sprechen können. nur ganz geringen Verkehr mit der
ortsansässigen Bevölkerung, um so mehr, als für ihre täglichen Bedürfnisse von
Seiten der Gutsherrschaften gesorgt wird. Unter diesen polnischen Arbeitern,
deren Zahl zwischen 70—80 Ind. schwankt, welche sich auf 3 Güter vertheilen,
') Union mödic. 1882. No. 33.
2 j Union mädic. 1875. No. 77.
3 ) Eine Hausepidemie von
Annalen 1885.
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infectiöser Pneumonie. Charite-
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Dr. Riesell,
und welche ich sämmtlich in ärztlicher Behandlung habe, ist mir noch, kein ein¬
ziger Fall von Pneumonie zur Beobachtung gekommen, obgleich dem Alkohol¬
missbrauch unter ihnen sehr stark gehuldigt wird, und einzelne Individuen in
ihrer Heimath ihren Mittheilungen nach schon wiederholt Lungenentzündungen
hatten; obschon ferner in den Orten, in denen sie hier wohnen, zur Zeit ihrer An¬
wesenheit zahlreiche Pneumonieepidemien herrschten. Ganz besonders bemer-
kenswerth ist dies Verhalten der fremden Arbeiter in dem kleinen Orte Olders¬
hausen (324 E ). ln diesem Dorfe zeigten sich 1885 in den Monaten Januar bis
April 10Pn., 1886 in den Monaten Januar bis August 17 Pn. Dabei trat keine
einzige Lungenentzündung unter den ca 30polnischen Arbeitern, welche zusam¬
men mitten im Dorfe ein besonderes Arbeitshaus bewohnen, auf, obgleich in den
nächstgelegenen Häusern 5 Pn. ausbrachen. Dagegen zeigten sich unter Arbeitern
aus dem Orte Calefeld, welche in Oldershausen mit den aus diesem Dorfe gebür¬
tigen Tagelöhnern gemeinschaftlich arbeiten, 2 Pn.
3. Zahlreiche einzelne Pneumonien und viele Pneumonie-Epi¬
demien breiten sich von. einzelnen Häusern, Strassen und Orten
auf andere Orte entsprechend der Verkehrsrichtung aus. Der Ver¬
kehr in ländlichen Ortschaften ist vorzugsweise von der Verwandtschaft def Fa¬
milien unter sich, von nachbarlichen und freundschaftlichen Beziehungen, und
für die schulpflichtigen Kinder von dem Besuche der Schule abhängig. Für den
Verkehr von Ort zu Ort kommt auf dem platten Lande das verwandtschaftliche
Band nicht in erster Linie in Betracht; hier sind es zunächst gewerbliche Be¬
ziehungen (Schlächtereien. Webereien, Gastwirthschaften, Post und Telegraph
u. s. w.), welche benachbarte Orte vielfach verbinden; sodann ist es der Umfang
und die Ausdehnung gewisser land- und forstwirthschaftlicher Arbeiten (Wege¬
bauten, Wald- und Feldarbeiten u. s. w.), welche bald dauernd, bald vorüber¬
gehend zwischen einzelnen Orten nähere Verbindungen unterhalten; und in ganz
besonders hohem Grade ist es die Zugehörigkeit zu einem Kirchspiel,
welche zwischen bestimmten Dörfern einen regen Verkehr vermittelt.
In Uebereinslimmung mit diesen Verkehrsbeziehungen breiten sich die
Pneumonie-Epidemien sowohl innerhalb eines Ortes, als besonders von Ort zu
Ort aus.
Für die Ausbreitung der Pneumonien innerhalb der Verwandtschaft
habe ich schon in meiner früheren Arbeit zahlreiche einzelne Fälle aufgeführt
(1. c. p. 284). Von neueren Beispielen erwähne ich nur folgende: Fall 39) Die
9jährige A. Dörges in Sebexen stirbt am 16. Februar 1884 an einer Pneu¬
monie. Die unverehelichte Schwester des Vaters derselben 36 Jahr alt. schlecht
genährt, hereditär disponirt, ausserhalb des Hauses im Dienste stehend, ist über
den Tod der Nichte sehr niedergedrückt, hat sie sehr oft besucht, und erkrankt
am 3. März an einer Pneumonie. — Fall 40) Frau H ... in Echte, 33 Jahre alt,
wahrscheinlich hereditär belastet, an Insufficienz der Aorta leidend, durch zahl¬
reiche Unglücksfälle in ihrer Familie tief gedrückt, besucht am 6. Mai ihren an
schwerer Pneumonie darniederliegenden Bruder (1886). Am 9. Mai wird sie von
einer tödtlich verlaufenden Pn. betroffen. — Fall 41) Louise Marxhausen,
17 Jahre alt, ein grosses mageres Mädchen, Krankheitsdisposition nicht festzu¬
stellen. besucht alltäglich das Haus eines Verwandten, in welchem der Acker¬
mann S . . . seit dem 11. April 1886 an einer schweren Pn. darniederliegt, am
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Zur Aeliologie der croupösen Pneumonie.
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5. Mai stellt sich bei ihr eine Pn. duplex ein. Auch die Fälle 15 und 33 gehören
hierher.
Die Ausbreitung der Pneumonie-Epidemien von einem Orte
auf einen anderen durch verwandtschaftliche Verhältnisse lässt
sich in einem begrenzten Kreise häufig direct nachweisen. Pall 42) Der Porst¬
aufseher M . . . in Echte wird in dem Dorfe Oldershausen, in dem eine heftige
Pneumonie-Epidemie herrscht, bei dem Begräbniss seiner an Pn. verstorbenen
Schwester (Fall 34) angesteokt, und erkrankt in Echte am 12. April 1886 an
einer Pn. Am 19. April erkrankt seine Frau an einer Pn., am 30. April eine in
der Nachbarschaft wohnende Frau Schatte, am 1. Mai ein Dachdecker J . . .
— Fall 43) In Doegerode treten im Februar und März 1886 7 Pn. auf. Am
4. Februar wird die Tochter des Ackermanns D . . . von einer Lungenentzündung
schon inficirt, nach Sebexen gebracht (Fall 35). Daselbst erkrankt zunächst ein
Kind, welches mit ihr in Berührung gekommen ist. an einer Pn. An diese Pn.
schliessen sich in dem Dorfe 8 weitere Pn. an.
Nicht weniger häufig ist eine Verschleppung der Pneumonie im Bereiche
der Nachbarschaft zu constatiren. Fall 44) Am 6.-März 1883 erkrankt in
Willershausen die Frau des Gastwirths W. . . an einer Pn. (Krankheitsdisp. un¬
bekannt), am 27. März in einem Nachbarhause der Mühlenbesitzer H . . . (Krank¬
heitsdisp.: Alter und chron. Lungenkatarrh), am 25. April, in unmittelbarer
Nachbarschaft, Frau U . . . (Krankheitsdisp.: Gemüthsdepression in Folge einer
langwierigen Verletzung an der Hand). In allen diesen Fällen waren die Pneu¬
monien leichte abgekürzte Erkrankungen. — Fall 45) Am 23. Juni 1885 er¬
krankt in Westerhof die Auguste Lohrberg an einer Pn. (hereditäre Disp.), am
7. Juli in der Nachbarschaft der Waldarbeiter Armbrecht (Krankheitsdisp.:
Alter, chron. Lungenkatarrh), dessen Frau wiederholt die ihr verwandte Auguste
L. besucht hatte. Am 8. Juli erkrankt Frau Röbbel (Fall 3), welche in näch¬
ster Nähe wohnt. Sämmtliche 3 Pn. waren schwere Affectionen. — Fall 46) Am
18. März 1886 wird ein Kind des Maurers Marxhausen in Oldenrode von einer
Pn. befallen (Krankheitsdisp. unbekannt), am 21. März erkrankt in einem Nach¬
barbause der Knabe Rowold (Krankheitsdisp.: Heredität), am 1. April der
Ackermann Sander (Fall 25), welcher in nächster Nähe wohnt; und an diese
Pn. schliessen sich 2 weitere Pn. in 2 anliegenden Häusern an. Die Erkrankun¬
gen dieser Epidemie waren theils sohwere theils leichte.
Bemerkenswerth ist die Ausbreitung der Pneumonie durch die Schule.
Bekanntlich giebt es zuweilen Pneumonie-Epidemien, welche sich nur auf Kinder
erstrecken. So beobachtete ich im Jahre 1885 in dem Dorfe Lagershausen eine
Epidemie von 7 Pn., von denen 6 Pn. auf Kinder unter 10 Jahren kamen, und
1886 in Oldenrode gleichfalls eine Epidemie von 7 Pn., welche fast nur Kinder
betrafen. Bei derartigen Kinderpneumonien nun scheinen die Infectionskeime
nicht selten durch die Schule verschleppt zu werden. Wenigstens ist es auffal¬
lend, dass in einzelnen Weilern zuweilen fast ausschliesslich solche Kinder an
Lungenentzündungen erkranken, welche in benachbarten Orten, in denen epide¬
mische Pneumonien herrschen, die Schule besuchen. — Fall 47) Eine kleine
halbe Stunde von dem Dorfe Düderode entfernt, liegt das Vorwerk Vogelsang
mit 10—12 Familien und 60—70 Seelen. Vom März bis Juni 1885 traten in
Düderode 4 Pn. auf; unter den Erkrankten war ein schulpflichtiges lOjnhriges
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Dr. Rieseil,
Kind, das im Anfang des April wieder genesen war. Am 13. April erkrankt in
Vogelsang der 8jährige Carl II i I le brech t, am 30. Mai die 7jährige Ida Hü¬
ter; keine weiteren Pneumonien in dem Vorwerk. — Fall 48) Zehn Minuten
von Calefeld liegt ein Weiler, die Schnede, wo 2 Familien wohnen, welche die
Schule in Calefeld besuchen. Am 2. Juli 1886, zu einer Zeit, wo in letzterem
Orte zahlreiche Pneumonien auftreten, erkrankt auf dem Weiler die 8jährige
Anna Götling 1 ) an einer Pn. (hereditäre Disp.). am 7. Juli wird ihr Bruder
August 1 ), 3 Jahre alt, gleichfalls von einer Pn. befallen.
Auch für die Ausbreitung der Pneumonie durch gewerbliche Be¬
ziehungen giebt es zuweilen sehr klare Beispiele. — Fall 49) Die Schlächter
Ude in Calefeld und Halves in Echte schlachten gemeinschaftlich und kommen
deshalb in jeder Woche einige Male zusammen. Am 26. Februar 1886 erkrankt
der Schlächter Ude an einer schweren Pr>., am 6. März der Sohn des Schlächters
Halves, welcher Schlächtergeselle ist. Seine Erkrankung giebt die Gelegenheit
zum Ausbruche einer sehr bedeutenden Epidemie in Echte, deren erste Erkran¬
kungen auf Individuen fallen, welche in der Nähe des Halves'sehen Wohnhauses
wohnen. Der Schlächter Ude wie der Geselle Halves sind hereditär stark be¬
lastet. — Fall 50) Der Weiler Osterbruch mit etwa 12 Häusern liegt zwischen
den Dörfern Sebexen und Opperhausen. Während die Einwohner dieses Weilers
mit dem ersteren Orte seiner Nähe wegen viele gewerbliche Verbindungen haben,
besuchen ihre Kinder in Opperhausen die Schule. Am 12. Juli 1885 erkrankt
in Osterbruch die 10 jährige S. Mein ecke an einer Pn., am 27. Juli der 8jäh-
rige A. Gade. Alsdann breiten sich die Pneumonien zu gleicher Zeit nach den
beiden Nachbarorten aus, indem in Opperhausen 4 Schulkinder erkrankten (zu¬
erst am 27. Juli die 8jährige Minna Müller, am 6. August die 13jährige D.
Wigrefe, am 17. August die Tochter eines Lehrers u. s. f.) und in Sebexen
3 Individuen von Pn. befallen werden (die erste dieser Pn. betraf den 8jährigen
A. Sprengel, dessen Ehern ein Haus bewohnen, welches dem Weiler Oster¬
bruch zunächst gelegen ist).
Nicht unwahrscheinlich erscheint auch die Verschleppung der Pneumonie
von Ort zu Ort auf indirectem Wege durch gesunde Personen. Fall
51) Am 30. März 1886 erkrankt die Wittwe Stoeckemann in Eboldshausen
an einer schweren Pn. Ihr Bruder H. Bl . . ., welcher schon mehrfache Pn.
durchgemacht hat, besucht auf mein ausdrückliches Verbot hin die Sohwester
nicht, dennoch erkrankt er am 13. April an einer Pn., nachdem seine Frau die
Schwägerin fortgesetzt verpflegt hat. — Fall 52) In dem Hause des Ackermanns
D . . . in Doegerode, in welchem im Februar 1886 ein Kind an Pn. schwer er¬
krankt ist, verkehrt fast den ganzen Tag der Arbeitsmann Kaste, der auch das
kranke Kind mit verpflegt. Am 5. Februar holt er von dem Bäcker K ... in Echte
(Fall 17) Backwaaren und verweilt längere Zeit bei demselben. Am 8 Februar
erkrankt der Bäcker K . . . an einer Pn. — Fall 53) Der Lehrer W. . . in Se¬
bexen arbeitet im Sommer 1886 sehr häufig in Oldershausen, wo eine starke
Pneumonie-Epidemie herrscht, auf dem dortigen Rittergute in sohriftlichen An¬
gelegenheiten. Am 19. Juni erkrankt seine Frau an einer Pn.
’) Diese beiden Fälle wurden in meiner Abwesenheit von Herrn Dr. Holste
in Göttingen beobachtet
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Zur Aetiologie der croupösen Pneumonie.
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So wie sich nun für die einzelne Pneumonie ergiebt, dass sie um so leich¬
ter von einem Kranken auf einen Gesunden übergeht, je innigor bei vorhandener
Krankheitsdisposition die Beziehungen des letzteren zu dem ersteren sind, so
lässt sieb auch aus der Epidemiologie der Pneumonie nachweisen, dass je näher
zwei Orte an einander liegen und je grösser der Verkehr zwischen
beiden ist, desto häufiger auch die Pneumonie • Epidemien von
einem Orte auf den anderen übergehen. Je kleiner dagegen ein
Ort ist, je isolirter seine Lage, je geringer seine Beziehungen zu
benachbarten Orten sind, desto seltener sind überhaupt Pneu¬
monie-Epidemien in ihm Die Orte Düderode und Oldenrode liegen kaum
100 Schritt von einander, sie haben eine gemeinsame Schule und Pfarre, und
die Handwerker und Arbeiter beider Orte arbeiten sowohl in dem einen, wie in
dem anderen Orte. Es herrschen also die innigsten Verkehrsbeziehungen zwischen
beiden Dörfern. Demgemäss tritt keine Pneumonie-Epidemie in dem einen Dorfe
auf, ohne auf das andere überzugehen, und zwar erfolgt die Ausbreitung der
Pneumonie stets in der für contagiöse Infectionskrankheiien charakteristischen
Weise, dass die Pneumoniefrequenz bald in dem einen, bald in dem anderen Orte
liegt. Vom Januar bis Juni 1883 kommen in beiden Dörfern je 12 Pn. vor, \om
September bis December 1884 in Oldenrode 4 Pn.. in Düderode 3 Pn , vom März
bis Juni 1885 in Düderode 6 Pn., in Oldenrode 5Pn., von Febr. bis Aug. 1886
in Düderode 13 Pn., vom März bis April 1885 in Oldenrode 7 Pn. — Aehnliche
nahe Verkehrsbeziehungen herrschen zwischen den Orten Willershausen und We¬
sterhof, welche etwa 15 Minuten auseinander liegen. Auch hier greifen die Pneu¬
monie-Epidemien in der Mehrzahl der Fälle auf beide Orte über. Im März und
April 1883 sind in leszterem Orte 3 Pn., in ersterem gleichfalls 3 Pn., vom
September bis December 1884 sind in West. 2 Pn., in Wil. 4 Pn.. vom Januar
bis Mai~1885 in West. 5 Pn., in Wil. 10 Pn., vom Juni bis October in West.
8 Pn., vom Juni bis November in Wil. 6 Pn., vom Januar bis April 1886 in
beiden Orten je 6 Pn. Auch zwischen den Nachbarorten Oldershausen und Wil¬
lershausen, Oldershausen und Eohte, Echte und Calefeld, zwischen welchen Dör¬
fern zahlreiche Verbindungen bestehen, lässt sich der Uebergang der Pneumonien
von einem Orte auf den anderen in den meisten Epidemien verfolgen. Dagegen
haben die Dörfer, welche sich ferner liegen, und welche in Folge dessen weniger
Verkehr unter sich unterhalten, wie die Orte Calefeld und Westerhof, Wiershau¬
sen und Doegerode, Sebexen und Eboldshausen, in der Mehrzahl der Fälle Pneu¬
monie-Epidemien, welche unter sich der Zeit nach in keinem Zusammenhang
stehen. (Vergl. oben die allgemeine Uebersicht der Pneumonie, und die geogra¬
phische Lage der Orte in meiner früheren Arbeit, 1. c. S. 313.) Besonders cha¬
rakteristisch ist das Verhältniss der beiden Dörfer Doegerode und Oldershausen
zu dem Orte Echte. Beide sind von diesem Orte gleich weit entfernt, aber Olders¬
hausen hat zu Echte viele Beziehungen, und Doegerode, welches nach Calefeld
eingepfarrt ist, nur sehr wenige. Dementsprechend tritt in den sieben Jahren
fast niemals eine Pneumonie-Epidemie in Echte oder Oldershausen auf, ohne auf
den andeieu Ort überzugreifen; dagegen zeigen sich in Doegerode und Echte nur
einige wenige Male gleichzeitig Pneumonien.
Auf die Seltenheit der Pneumonie-Epidemien in den abgelegenen Orten
Sieversbauseu, Doegerode, Wiershausen, und auf die grossen Intervalle, welohe
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Dr. Kiesel),
zwischen den sich folgenden Epidemien liegen, habe ich bereits hingewiesen,
ln dem Bezirke liegen ansser verschiedenen allein liegenden Mühlen, welche in
Folge ihres beständigen Verkehrs mit den benachbarten Orten hier nicht in Frage
kommen, 5 Weiler. In den sieben Jahren traten nar in zwei derselben Lungen¬
entzündungen auf, also stets za einer Zeit, wann in dem nächsten Nachbarorte
epidemische Pnenmonien herrschten.
4. Die einzelnen Erkrankungen einer Pneumonie-Epidemie
sind, soweit sie sich auf verschiedene Familien erstrecken, in der
Regel in dem durchseuchten Orte ordnungslos zerstreut. Treten
in gewissen Gegenden des Ortes besonders zahlreiche Pneumonien
auf, so wechseln diese Gegenden im Laufe der Epidemie fast stets,
und liegen zu Ende derselben oft an ganz anderen Strassen oder
Plätzen, als zu Anfang.
Die Ausbreitung einer Pneumonie-Epidemie ist in erster Linie von der Krank¬
heitsdisposition der vorhandenen Individuen und erst in zweiter Linie von der
Intensität des menschlichen Verkehrs abhängig. Da nun die Empfänglichkeit für
die Pneumonie unter den Bewohnern eines Ortes zn jeder Zeit eine sehr ungleich-
mässige ist, weil sie durch Zustände hervorgerufen wird, welche innerhalb und
ausserhalb des einzelnen Menschen liegen, so bewegen sich die Pneumonien nur
ausnahmsweise in der Nachbarschaft und im Umkreise des nächsten Verkehrs
weiter; in der grossen Mehrzahl breiten sie sich, abgesehen von den mehrfachen
Lungenentzündungen, welche in ein und derselben Familie in Folge hereditärer
Disposition entstehen, über einen Ort vollkommen regellos aus.
Dennoch gelingt es öfters, auch in dieser regellosen Ausbreitung der Pneu¬
monie-Epidemie das contagiöse Moment nachzuweisen. Das ist namentlich bei
denjenigen Epidemien der Fall, welche durch ungewöhnlich zahlreiche und rasch
auf einander folgende Einzelerkrankungen cbarakterisirt sind. Bei diesen Epi¬
demien treten die Pneumonien bald in dem einen, bald in dem anderen Theile
des Ortes stärker hervor, ohne dabei aber die anderen Gegenden zu irgend weloher
Zeit gänzlich zu verschonen. Beispielsweise kann man den Ort Echte in drei
Theile, in einen niedrig gelegenen nördlichen und zwei höher gelegene südliche
Theile, eintheilen, welche alle drei unmittelbar in einander übergehen. Auf diese
Ortstheile dehnten sich die epidemischen Pneumonien, welche 1886 in den
Monaten März, April und Juni in Echte herrschten, in folgender Weise aus.
Es kamen
von den 1 1 Pn. des März auf die südöstliche Gegend 1 Pn., auf die
südwestliche 6 Pn., auf die nördliche 4 Pn.;
von den 9 Pn. des April auf die südöstliche Gegend ö Pn., auf die
südwestliche 4 Pn., auf die nördliche keine Pn.;
von den 12 Pn. des Mai und Juni auf die südöstliche Gegend 8 Pn.,
auf die südwestliche 1 Pn., auf die nördliche 3 Pn.
Diesem, wie ich glaube, umfangreichen Material gegenüber dürfte es schwierig
sein, die contagiösen Eigenschaften der Pneumonie noch weiterhin in Zweifel
ziehen zu wollen. Allerdings ist stets festzuhalten, dass auch das contagiöse
Moment der Lungenentzündung denselben variablen Charakter trägt, den alle ihre
Eigenschaften besitzen. Es giebt Pneumonie-Epidemien, in denen die Erkran¬
kungen so deutlich von Individuum zu Individuum, von Ort zu Ort geradezu ver-
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Zur Axiologie der croupösen Pneumonie.
177
schleppt werden, dass ihre Anstecknngsfähigkeit selbst dem Laien auffäliig ist;
und es giebt ebensolche Epidemien, in denen keine einzige Thatsaohe an den
endogenen Ursprung der Pneumonie erinnert. Ob nun in diesen letzteren Fällen
die Ausbreitung der Erkrankungen in der That auf miasmatischem Wege vor sich
geht, und wir also die Pneumonie zu den miasmatisch-contagiösen Infections-
krankheiten zu rechnen haben, ist noch eine offene Frage, deren Beantwortung
für jetzt nicht möglich ist. Immerhin ist eine, wenn auch nur partielle ektantbrope
Entstehung der pneumonischen Krankheitsstoffe im streng localistischen Sinne
nicht wahrscheinlich, da einerseits das contagiöse Moment, weil es an die Krank¬
heitsdisposition gebunden ist, sehr wohl vorhanden sein kann, auch wenn wir es
nicht nachzuweisen vermögen — und andererseits die Abhängigkeit von Zeit und
Ort, in welcher die Pneumonie-Epidemien vermöge ihres localen Charakters zu
stehen scheinen, in gewisser Weise auch bei rein contagiösen Infectionskrank-
heiten vorhanden ist.
Zu denjenigen Infectionskrankheiten, deren rein contagiöser Charakter über
allem Zweifel erhaben ist, gehören bekanntlich die Masern. Auch sie habe n,
wie aus ihrer Ausbreitung in einem abgeschlossenen Bezirke her¬
vorgeht, ein entschiedenes locales Moment, an das ihre Epidemien
gebunden sind. Im Jahre 1879 traten in dem Kreise keine Masern auf. 1880
zeigten sich einzelne Erkrankungen unter Kindern von 1—4Jahren in den Dörfern
Düderode (5 Ind.), Oldenrode (4Ind.), Willershausen (5Ind.). Vom November 1881
bis zum Mai 1882 zog eine sehr starke Masern Epidemie durch die Orte Sebexen,
Calefeld, Echte, Oldershausen, Willershausen, Westerhof. Keine einzige Erkran¬
kung zeigte sich in den Orten Eboldshausen, Wiershausen, Oldenrode, Düderode
und Dongerode, obgleich die Einwohner des letzteren Ortes die Kirche in Calefeld
besuchen. In den Jahren 1883, 1884 und 1885 kam keine Masern-Epidemie in
der Gegend vor. 1886 dagegen trat eine sehr heftige Epidemie in Imbshausen
auf (etwa 40 Ind.), und breitete sich von da nach Lagershausen (etwa 25 Ind.)
und Denkorshausen (etwa 20Ind.) aus; kein einziger Fall zeigte sich gleichzeitig
in don Orten Echte, Calefeld, DoDgerode, obgleich in diesen Orten eine grosse
Reihe von Kindern noch nicht durchseucht war. — Im Jahre 1887 bricht eine
überaus starke Epidemie in den Dörfern Oldenrode-Düderode aus (etwa 60 Ind.),
welche sowohl nach Dongerode, als nach Wiershausen hinüberzieht. In Dongerode
erkrankten fast alle Kinder (etwa 35 Ind.); dennoch ist kein einziger Masernfall
in dem Pfarrdorfe Calefeld vorhanden. Von Wiershausen, wo gleichfalls fast alle
Kinder erkranken (etwa 40 Ind.), zieht die Epidemie über Sebexen, wo sich nur
2 Masernfälle zeigen, und Opperhausen, wo etwa 20 Kinder erkranken, nach
Sievershausen und nach Eboldshausen, wo in beiden Orten nahezu alle Kinder
(etwa 60 Ind.) befallen werden. In dieser ganzen Zeit trat in den Dörfern Echte.
Oldershausen, Willershausen, Westerhof kein einziger Fall von Masern zu Tage.
Die Abhängigkeit der Masern von Zeit und Ort zeigt sich auch darin, dass
einzelne Masernerkrankungen auftreten können, ohne zu einer grösseren epide¬
mischen Ausbreitung den Anlass zu geben. Im Sommer 1883 reist ein auf dem
Vorwerke Vogelsang sesshafter Schweizer mit seinen Kindern in seine Heimath;
nach seiner Rückkehr erkranken 2 Kinder an den Masern. Trotzdem andere
Kinder, welche noch keine Masern durchgemacht haben, mit denselben spielen,
erkranken sie doch nioht. Ebenso traten Ende December 1885 4 Masernfälle in
VierteljihrMehr. f. f*r. Med. N. F. UI. 1.
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Dr. H. Frölich,
Echte auf. ohne sich epidemisch auszubreiten. Am bemerkenswerthesten ist in-
dess folgender Fall. In dem Dorfe Eboldshausen haben sich mindestens seit dem
Jahre 1879, wahrscheinlich aber noch länger, keine Masern gezeigt. Im Mai 1886
reist die Frau des dortigen Lehrers B. mit einem ihrer Kinder nach Hildesbeim;
nach der Rückkehr erkrankt das Kind, welches die Reise mitgemacht hat, an den
Masern, und von ihm gehen dieselben auf die sämmtlichen 4 Geschwister über.
In allen Fällen handelt es sich um schwere ausgesprochene Masernerkrankungen.
Dennoch bleibt der ganze Ort verschont: kein einziges Kind erkrankt, obgleich
die Dorfkinder mit den wieder genesenen Kindern des Lehrers nach der Wieder¬
eröffnung der Schule in Berührung kommen. Dagegen werden im Jahre 1887
aus Anlass eines von dem Nachbarorte Sievershausen eingeschleppten Masernfalls
sämmtliche Kinder des Ortes im Alter von 3—12 Jahren (etwa 40 Ind.) durch¬
seucht. <BchIoM folgt.)
5.
Reich ^gerichtliche Eatscheiduagen anf Graad des Deutsches
Strafgesetzbuches.
Von
Oberslabsarzt Dr. H. Frölich.
(Fortsetiung.)
§ 223. Wer vorsätzlich einen Anderen körperlich misshandelt
oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit
Gefängniss bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 900 Mark be¬
straft etc.
§ 223a. Ist die (vorsätzliche) Körperverletzung mittels einer
Waffe , insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen
Wes'kzeugs .... oder mittels einer das heben gefährdenden Behand¬
lung begangen, so tritt Gefängniss nicht unter 2 Monaten ein.
Ein Maurer versetzt einem zu Boden Geworfenen mit den Spitzen seiner hart¬
kantigen Stiefeln, die er an seinen Füssen trägt, einige wuchtige Stösse an den
Kopf, so dass dieser Beulen erlitt und 3 Tage arbeitsunfähig wurde.
Es kommt nicht darauf an, ob dorartige (ungenagelte) Stiefeln
zum Zuschlägen mittelst der Hände als Waffe verwendet werden; es
können auch Bekleidungsgegcnstände nach Beschaffenheit und Art des
Gebrauchs gefährliche Werkzeuge darstellen. (Entscheidung vom 1.
December 1881.)
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Reichsgerichtliche Entscheidungen.
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Ein Mann schlägt sein 2jähriges, nur mit Hemd bekleidetes Kind mit einem
Riemen vorsätzlich so, dass Rücken und Hals des Kindes mit blutunterlaufenen
Schwielen sich bedecken.
Hält sich eine gesetzlich erlaubte Züchtigung innerhalb der vom
Gesetze gezogenen Grenzen derselben, so würde, selbst wenn deren
Aasübung objectiv Folgen haben würde, die an sich die Kriterien
einer körperlichen Misshandlung an sich tragen, doch die objective,
eine Bedingung der Strafbarkeit der Körperverletzung bildende Rechts¬
widrigkeit fehlen. Dass nun auch einem zweijährigen Kinde gegen¬
über Anlass zu einer körperlichen Züchtigung vorliegen kann, ist nicht
zu bezweifeln; wenn aber das Gesetz als Norm der Ausübung des
elterlichen Züchtigungsrechts die Anwendung angemessener Mittel
häuslicher Zucht hinstellt und damit namentlich die Berücksichtigung
der Individualität des Kindes, des Grades geistiger und körperlicher
Entwickelung desselben, wie die Schwere des Vergehens vorschreibt,
so bann eben so wenig bezweifelt werden, dass gegenüber einem zwei¬
jährigen Kinde die Wahl eines Zuchtmittels, wie dessen der Ange¬
klagte sich bedient und die aus der Schwere der verursachten Ver¬
letzungen erkennbare Art des Gebrauches desselben nicht innerhalb
der vom Gesetze vorgezeichneten Grenze liegt. (Entscheidung vom
7. December 1881.)
Ein Gutsbesitzer hetzt einen bissigen Hund auf einen Knecht; der letztere
erhält mehrere Bisswunden.
Im Allgemeinen verbindet die Strafrechtslehre mit dom Aus¬
drucke „Werkzeug“ einen sehr weit gehenden Begriff, indem sie
damit die Gegenstände bezeichnet, deren sich der Thäter als Mittel
zur Ausführung der Strafthat bedient. In diesem Sinne kann
man einerseits die eigenen Gliedmassen des Thäters, welche dieser
zur Begehung der That in Function setzt, als Werkzeug auffassen, und
andererseits kann auch die Person eines Anderen als ein Werkzeug
in Betracht kommen, wenn sie lediglich nach der Leitung des Thä¬
ters und ohne Bewusstsein von den Zwecken, denen sie dient, bei
Begehung der That mitwirkt. Es liegt aber auf der Hand, dass
der § 223a., wenn er von einer Körperverletzung spricht, welche
mittelst einer Waffe, insbesondere eines Messers, oder eines anderen
gefährlichen Werkzeuges begangen ist, unter dem letzteren nicht ein
Werkzeug in jenem ausgedehnten, mehr oder weniger bildlichen Sinne
versteht. Das gefährliche Werkzeug ist in dem gedachten Paragra¬
phen einer Waffe gleichgestellt, und, ohne den Worten Zwang anzu-
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Dr. H. Frölich,
thun, Wisst sich nicht behaupten, dass derjenige, welcher einen Hund
zum Angriffe auf einen Menschen anreizt, von einer Waffe oder einem
gefährlichen Werkzeuge, wie es z B. ein Messer ist, Gebrauch macht.
Die Motive lassen zwar keinen Zweifel darüber, dass man unter
.Waffe“ nicht nur eigentliche Waffen im technischen Sinne, sondern
jeden Gegenstand verstanden hat, mittelst dessen durch mecha¬
nische Einwirkung auf den Körper eines Anderen eine Verletzung
desselben herbeigeführt werden kann, so z. B. Stuhlbeine, Knüppel,
schwere Hausschlüssel, Schlagringe u. s. w. Derjenige aber, welcher
durch Anreizung auf einen Hund, oder sonst ein gefährliches
Thier dergestalt einwirkt, dass dieses den Körper eines Menschen ver¬
letzt, führt die Körperverletzung nicht durch mechanische Ein¬
wirkung herbei. Er verübt die That also nicht mittelst einer
Waffe, oder eines gefährlichen Werkzeuges im Sinne des § 223a.
Unter Umständen kann in einem solchen Falle die Körperverletzung
mittelst einer das Leben gefährdenden Behandlung, niemals aber
mittelst eines gefährlichen Werkzeuges begangen sein. (Ent¬
scheidung vom 1. Juni 1883.)
Eine Mutter züchtigt ihre Tochter mit einer in einen Metallknopf endenden
Reitpeitsche und mit einem starken Handbesen, so dass Arme und Rücken mit
blutigen Flecken völlig bedeckt gewesen sind.
Als der Gesundheit unschädliche Zwangsmittel dürfen nur solche
angesehen werden, welche in der Art, wie sie angewendet werden,
die Gesundheit zu schädigen überhaupt nicht geeignet sind, die Ge¬
sundheit des Kindes nicht gefährden, so dass unter Umständen das
statthafte Maass der Züchtigung als überschritten angesehen werden
muss, auch wenn eine Gesundheitsbeschädigung des Kindes nicht ein¬
getreten ist. Die Misshandlung geschah, nicht um zu erziehen, son¬
dern um zu peinigen und zu quälen — was sich durch das Züchti¬
gungsrecht nicht entschuldigen lässt. Die Züchtigungsmittel waren
in der Art wie sie gebraucht wurden, geeignet, erhebliche Körper¬
verletzungen (§ 223a.) zuzufügen. (Entscheidung vom 9. November
1883.)
§ 221. Ilat die Körperverletzung zur Folge , dass der Verletzte
ein wichtigen (l/ied den Körpern, dnn Sehvermögen auf einem oder
beiden Augen, dun Gehör, die Sprache oder die Zeugungnfähigkeit ver¬
liert oder in erheblicher Weine dauernd entstellt wird oder in Siech -
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Reichsgerichtliche Entscheidungen.
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thum , Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus
Ins zu j Jahren oder Gefängnis* nicht unter 1 Jahre zu erkennen.
Eine Frau fügt einer anderen eine Körperverletzung zu. welche Lähmung
mehrerer Finger der linken Hand und Steifheit des linken Handgelonkes zur
Folge hat.
Wenn § 224 voraussetzt, dass der Verletzte in erheblicher Weise
dauernd entstellt wird, so kann dieses gesetzliche Erforderniss nur
durch die Feststellung einer wesentlichen, die äussere Gesaramterschei-
nung des Menschen verändernden Deformation erfüllt werden. Diese,
das normale Aussehen verunstaltende Veränderung braucht nicht noth-
wendig den ganzen Körper des Menschen unmittelbar zu erfassen und
wird allerdings auch durch die Verunstaltung einzelner Körpertheile
bedingt werden. Unter allen Umständen müssen aber derartige par¬
tielle Deformationen von solcher Augenfälligkeit und Erheblichkeit
sein, dass sic dio äussere Gcsammterscheinung des körperlichen Ha¬
bitus wesentlich verschlechtern. Ein einzelnes Glied kann immerhin,
wenn dieser Ausdruck gebraucht werden soll, entstellt sein, ohne das
Aussehen des Betroffenen merkbar zu alteriren, ohne in die Augen
zu fallen, und ohne dass man von einer Entstellung des ganzen Men¬
schen sprechen kann.
Die Gleichstellung der Lähmung mit den zweifellos einen all¬
gemeinen Krankheitszustand bezeichnenden Begriffen: Siechthum und
Geisteskrankheit, sowie das vorangestellte Merkmal des Verlustes
eines wichtigen Gliedes des Körpers führen mit Nothwendigkeit zu
der schon aus dem natürlichen Wortsinn sich ergebenden Auslegung,
dass auch hier unter Lähmung eine mindestens mittelbar den ganzen
Menschen ergreifende Bewegungsunfähigkeit erfordert wird. Es kann
auch hier zugegeben werden, dass die Functionsstörung der Nerven,
Muskeln und Bänder, welche man als Lähmung bezeichnet, nicht
nothwendig ihren Sitz unmittelbar in allen Körpertheilen zu haben
braucht, dass unter Umständen auch die Lähmung einzelner Glied¬
massen den Begriff erfüllen kann. Das Letztere wird der Regel nach
dann der Fall sein, wenn etwa wichtige, für die Bewegungsfähigkeit
des ganzen Körpers wesentliche Körpertheile ausser Function gesetzt
sind, oder eine andero partielle Lähmung einzelner Gliedmassen in so
erheblichem Grade vorliegt, dass die Integrität des ganzen Körpers
als aufgehoben angesehen werden muss. Ohne Weiteres aber dio Läh¬
mung einiger Finger oder die Steifheit des Handgelenks als eine Läh-
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Dr. H. Frölich,
mung des ganzen Menschen zu qualificiren, ist rechtsirrthümlich.
(Entscheidung vom 1. Februar 1882.)
Ein Polizeibeamter wird von einem Bergarbeiter in den rechten Mittelfinger
gebissen, wodurch der letztere steif und gelähmt worden ist.
Unter „Verfallen in Lähmung“ ist nur eine derartige Affection
zu verstehen, welche den Organismus des Menschen in einer umfassen¬
den Weise ergreift, welche mit ausgedehnter Wirkung Organe des
Körpers der freien Aeusserung ihrer naturgemässen Thätigkeit beraubt.
Unter den Worten des § 224 St.-G.-ß. „ein wichtiges Glied des Kör¬
pers verliert“ ist der physische Verlust desselben als eines Theils
des menschlichen Körpers, nicht auch die Verminderung oder völlige
Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit jenes Gliedes zu verstehen.
Es würde nun eine Ungleichartigkeit der gesetzgeberischen Be¬
stimmung eintreten, wenn man, obgleich hiernach der Gesetzgeber die
völlige Aufhebung der Gebrauchsfähigkoit jenes wichtigen Gliedes an
sich selbst nicht unter § 224 St.-G.-B. untergeordnet hat, anderer¬
seits die Aufhebung der Gebrauchsfähigkeit eines einzelnen Gliedes
dann darunter begriffen erachten wollte, wenn sie in Lähmung nur
dieses einzelnen Gliedes ihren Grund hätte; es muss daher angenom¬
men werden, dass bei der auf „Verfallen in Lähmung“ bezüglichen
Gesetzesbestimmung nicht die innere Ursache der Aufhebung der Ge¬
brauchsfähigkeit, sondern der äussere Umfang der Folgen der Körper¬
verletzung im Verhältniss zur Totalität des Menschen für den Ge¬
setzgeber bestimmend war. (Entscheidung vom 23. Februar 1882.)
Ein Bauer beisst in einer Rauferei einen anderen in den rechten Zeigefinger,
so dass 2 Glieder des letzteren amputirt werden mussten.
Es kann nicht angenommen werden, dass die Wichtigkeit eines
Körpergliedes von der persönlichen Beschaffenheit des Verletzten und
dessen Verhältnissen hat abhängig gemacht werden sollen, denn für
den Begriff der Wichtigkeit kann nicht der relative Werth in Betracht
kommen, welchen der Besitz oder Verlust eines Körpergliedes für den
Verletzten nach seinem individuellen Lebensberufe, insbesondere sei¬
nem Nahrungs- und Erwerbszweige besitzt, und dasselbe Glied kann
nicht für den Einen werthvoll, für den Anderen werthlos sein. Sowie
bei dem Verluste des Sehvermögens, des Gehörs, der Sprache u. s. w.
das verschiedene Interesse nicht in Betracht kommt, welches die Ver¬
letzten an dem Verluste des betreffenden Sinnes haben können, diese
Rücksichten vielmehr ausschliesslich bei der Strafzumessung in Be-
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Reichsgerichtliche Entscheidungen.
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tracht kommen, so muss auch für das einzelne Körperglied das Werth-
verhältniss entscheiden, in welchem dasselbe seiner Wichtigkeit nach
noch zu dem Gesammtorganismus des Menschen steht, und insbe¬
sondere das grössere oder geringere Maass von Unterbrechung oder
Beeinträchtigung erwogen werden, welche die regelmässigen Functionen
aller Einzelorgane durch den Mangel eines oder einzelner derselben
durchschnittlich erreichen. Es ist die Wichtigkeit des vorliegenden
Glied Verlustes nicht blos deshalb zu verneinen, weil der Verletzte
dessen ungeachtet seine rechte Hand in derselben Weise und zu den¬
selben Arbeiten wie vorher gebrauchen könne, sondern es wird unter
Hinweisung auf das Gutachten des vernommenen Sachverständigen
allgemein davon ausgegangen, dass das Fehlen zweier Fingerglieder
für nicht so hinderlich beim Arbeiten, als die Steifheit eines Fingers
zu erachten, namentlich mit Rücksicht auf den Umstand, dass durch
das verbliebene dritte Glied des Zeigefingers das Schliessen der Faust
sich ausführen lasse. Es ist dieses, wenn es auch nicht überall im
einzelnen Falle zutreffen mag, als Durchschnittsregel anzusehen und
auf den Angeklagten anzuwenden, wobei zugleich anerkannt wird,
dass die allgemeinen und regelmässigen Functionen der Hand, die
Fähigkeit zum Greifen und Halten, abgesehen von besonderen aus¬
nahmsweisen Fertigkeiten, ungestört geblieben sind, indem die Ver¬
richtungen, welche regelmässig den beiden ersten Gliedern des Zeige¬
fingers zufallen, nunmehr von den übrigen Thcilen der Hand über¬
nommen werden, hiermit aber eine Verminderung der Functionsfähig¬
keit des gesammten Körpers überhaupt nicht oder nur in geringerem
Maasse entsteht. (Entscheidung vom 9. Juni 1882.)
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IIL Kleinere Mittheilungen, Referate,
Literaturnotizen.
a) Statistisches und Historisches.
flediciaiseh-statistlseher Jahresbericht aber die Stadt Stattgart raai Jahre 1888$
heraasgegeben vom Stuttgarter ärztlichen Verein. Stuttgart, Metzler 1889.
Der 16. Jahresbericht über die medicinische Statistik Stuttgarts geht von
der berechneten Kopfzahl von 117,862 aus. Einschliesslich der Todtgeborenen
betrug die Mortalitätsziffer 19,6 pM. (1887 war sie auf nur 18,5 pM. gesunken,
während sie sich in den Jahren 1873 bis 1882 durchschnittlich auf 25,3 pM.
gehalten hatte). DerBeitrag des 1. Lebensjahres batte während der letztgenannten
Jahre 41,2 pCt., — 1887 : 30,5 pCt. — 1888 : 31,9 pCt. betragen. Pocken
tödteten 1888 0 Person, Masern 10, Scharlach 18 Personen; Keuchhusten 9,
Typhus abdominalis 11. Bedeutender war der Antheil der Bräunekrankheiten
(mit 44 Todesfällen) und nicht unerheblich der des Kindbettfiebers (mit 14).
307 tödtliche Ausgänge an Lungenschwindsucht deuten bei 14,2 pCt. der Ge-
sammttodesziffer die hohe Bedeutung dieser Affection an. Der Antheil der Alters¬
klassen vom 31. bis 40.Lebensjahre erwies sich (23,5pCt.) als der bedeutendste;
ihm am nächsten reicht der des 41. bis 50. Lebensjahres: 21,2 pCt. — dann
erst folgen die Gruppen des 21. bis 30. Jahres und die des 16. bis 20. Jahres
mit 16,9 resp. 9,9 pCt. April und März waren hinsichtlich der Schwindsuchts¬
sterblichkeit die ungünstigsten Monate. Die vorher erwähnte Puerperalsterblioh-
keit steht um 0,24 pCt. über dem Durchschnitt der voran gegangenen 10 Jahre.
Etüde stattstique sar la aiartallte enfaatlae en Salsse peadaat les dis. aniees
1876—1885. Von Dr. L. Crevoisier (de Porrentruy). Bern, K.-J. Wyss
1889.
Durch eine grössere Reihe sorgfältiger Tafeln hat Crevoisier die Absterbe-
Verhältnisse der unterjiihrigen Kinder in den verschiedenen Gegenden der Schweiz
anschaulich gemacht. Für die Abschätzung der Ergebnisse ist der Umstand von
Wichtigkeit, dass die officielle Statistik der Schweiz zu den Todgeborenen nur
solche Früchte rechnet, welche länger als 6 Monate der intrauterinon Entwick¬
lung durchgemacht, aber nicht geathmet haben, während in anderen Ländern
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
185
vielfach auch solche Lebendgeborene dieser Gruppe zugerechnet werden, welche
vor ihrer Aufnahme in die Gebnrtslisten wieder aus dem Leben geschieden sind.
Unter den Cantonen steht mit 5,31 pCt. aller Geburten die Mortalität des Can-
tons Zürich am erheblichsten über dem Durchschnitt von 3.85 pCt., — die des
CantonsHochunterwalden mit 1,79 pCt. am niedrigsten. Die unterjährigen Todes¬
fälle sind sowohl in ihrem Verhalten zu den Todesfällen im Allgemeinen, wiezu
den Geburten, wie endlich auch auf je 1000 Lebenden berechnet. Das un¬
günstigste Verhältniss, soweit die Beziehung zu sämmtlichen Bewohnern in Frage
kam. zeigte Appenzell, wo die kindliche Mortalität nicht weniger als 26,9 pM.
der Einwohner betrug (entsprechend der hohen Geburtenziffer von 35,9pM.) Am
günstigsten standen dagegen Hochunterwalden und Genf da. mit 12,9 resp. 16 pm.
infantiler Morbidität bei einer Geburtsziffer von 24,6 pM , während für das ganze
Land sich die letztere auf 31,0, — die Kindersterblichkeit auf 17,9 pM. aller
Lebenden stellte. Unter 100 Gestorbenen waren noch nicht völlige 12 Monate
alt: im Lande 24,3 vom Hundert, in Appenzell 32,5, in Basel (Land) 32,2, in
Basel (Stadt), Freiburg, St. Gallen etwas über 28 pCt; ausserdem überschritten
den Durchschnitt noch Zürich, Uri, Schwyz, Zug, Scbaffhausen, Thurgau, Neu-
chatel. Dagegen blieben am erheblichsten zwischen jenem Durchschnitt zurück:
Luzern, Unterwalden, Glarus, Waadt und Genf, wo sich das günstige Verhältniss
von noch nicht 17 pCt. herausstellte. Die Arbeit geht auf sämmtliche Todes¬
ursachen (Krankheiten, Illegitimität, sociale Lage in sonstiger Beziehung etc.) in
gediegener Weise ein.
listarisehe Stadien aas den pharaiakaUgisehea Institate der Universität Nrpat.
Von Professor Dr. Rudolf Kobert. Halle, Tausch & Grosse 1889. 240 S.
und 2 Register.
Beispielgebend im lobendsten Sinne des Wortes sind die Beiträgo. welche
K. in dem obengenannten Werk theils persönlich, theils aus der Feder von ihm
angeregter Jünger zum Ausbau der medicinischen Cullurgeschichte geliefert hat.
Zur Geschichte des Mutterkorns trug K. die Einzelkenntnisse aus dem Hippo¬
kratischen, Thucydideischen und Aristotelischen Zeitalter zusammen, verfolgt das
wachsende Wissen über seinen Gegenstand durch die Römerzeit bis Galen und
spürt den Schriftstellen über den gangränösen, wie über den convulsivischen Er-
gotismus bei sämmtlichen Autoren des Mittelalters und der Neuzeit nach.
Dazu liefert als eine ganz ursprünglich bearbeitete Ergänzung A. Grünfeld
einen Anszug aus den die Mutterkorn frage behandelnden Arbeiten der russischen
Literatur.
Ein inniges Einleben in die Hippokratische Schriften-Sammlung und einen
dauernden festen Eckstein zum Bau einer radicalen Kritik dieser Werko wird man
in der unter No. III. folgenden Arbeit R. v. Grot’s nicht verkennen. Abschnitte
wie der „Ueber die pharmakologischen Kenntnisse der Griechen vor Hippokrates“
und „Welche Richtung in der Mediein vertreten die hippokratischen Schriften“ —
werden sicherlich auch von Medicinern, welche vordem noch wenig Hinneigung
zu historischen Studien in sich fühlten, mit Freude und Nutzen gelesen werden.
-Ich hoffe.“ äussert v. G. in seiner Schlussbetrachtung, „durch meine Arbeit
nai bgew iesci: zu haben, ein wie reiches uud hochinteressantes Material gerade
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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
die Arzneikunde aus dem Corpus det hippokratischen Schriften schöpfen kann.“
Oh gerade Hippokrates II. an dem pharmakologischen Theil der Schriften einen
hervorragenden oder zurücktretenden, oder gar keinen Antheil habe, muss dahin¬
gestellt bleiben. Mit einer literarisch-pharmakologischen Studie „Russische Volks¬
heilmittel aus dem Pflanzenreiche“ schliesst sich Dr. Wassily Demitsch seinem
Lehrer und den namhaft gemachten Vorarbeitern in durchaus würdiger Weise an.
.ch.
ler sanitäre Ziitut tu Teilen. Die schweren Cholera Epidemien, welche
Toulon in den letzten Jahren heimgesucht haben, sowie die ununterbrochen hohe
Mortalität der Besatzung an Abdominaltyphus haben endlich zur Berufung einer
Commission von Hygienikern und anderen Sachverständigen Veranlassung ge¬
geben, welche den sanitären Zustand von Toulon feststellen und geeignete Maass¬
nahmen in Vorschlag bringen sollte. Der von Professor Brouardel, dem Prä¬
sidenten des Comitö consultatif d’Hygi&ne, und M. Bruniquel, Chefingenieur
des Brücken- und Strassenbaues, erstattete Bericht ist in dem Septemberheft der
Revue d’Hygiöne mitgetheilt.
Der Zustand der Stadt wird darin als ein eminent ungesunder bezeichnet.
Die Strassen sind eng, winklig und von fünf- bis sechsstöckigen Häusern einge¬
schlossen, wodurch der Durchzug der Luft verhindert und das directe Sonnen¬
licht in erheblichem Grad ausgeschlossen wird. Der hauptsächlichste Vorschlag
der Commission geht nun dahin, zwei breite Strassen anzulegen, welohe die Stadt
in der Diagonale durchkreuzen sollen. Durch diese Maassnahme soll in das
Innere der Stadt Luft und Licht zugeführt, und eine grosse Anzahl der in sani¬
tärer Hinsicht schlechtesten Wohnhäuser abgelegt werden.
Bezüglich der Wasserversorgung von Toulon hat die Commission folgende
Ausstellungen gemacht. Aus mehreren Quellen wird Wasser zugeführt, welches
nach einer sorgfältig ausgeführlen Analyse als ein gutes Trinkwasser zu erachten
ist. DieWasserleitung steht jedoch nicht unter Druck, weshalb das Wasser nicht
in die Wohnhäuser geleitet werden kann, und mehrere Staditheile von der Wasser¬
leitung ganz ausgeschlossen bleiben. Diese letzteren sind daher mit ihrer Wasser¬
versorgung auf locale, verunreinigte Schachtbrunnen angewiesen. Die städtischen
Behörden sind bereits in Verhandlungen zur Herstellung einer ausreichenden
Wasserzufuhr eingetrelen, die Commission erachtet es indess für unerlässlich,
gleichzeitig die verunreinigten Schachtbrunnen zu schliessen.
Den jetzigen Zustand der Abfuhr bezeichnet die Commission als einen völlig
unhaltbaren, da fast überall noch Senkgruben angetroffen würden, und ausserdem
in der dortigen Bevölkerung die primitive Sitte bestände, die Hausabfälle und
andere überflüssige Dinge einfach auf die Strasse zu werfen. Die Commission
erachtete die Herstellung einer allgemeinen Canalisation für unbedingt noth-
wendig und machte nach dieser Richtung hin den örtlichen Verhältnissen ent¬
sprechende detaillirte Vorschläge. Sie erwog endlich auch die finanzielle Seite
der Frage und berechnete die Gesammtkosten des Unternehmeos auf annähernd
14 Millionen Mark, welche, insoweit sie die Leistungsfähigkeit der Stadt über¬
stiegen. von dem Staate getragen weiden müssten. Ebertz-Weilbur^.
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Kleinere Mitthoilungen, Referate. Literaturnotizen.
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b) Gerichtliche Medicin and forensische fasaistik.
§ie beste Hethede der lierlehtMg. Die gerichtlich-medicinische Gesell¬
schaft zu Newyork hatte sich nach dem Sanitary Record in einer ihrer letzten
Versammlungen mit dieser Frage beschäftigt. Nachdem darauf hingewiesen wor¬
den war, dass in den civilisirten Staaten die mit Todesstrafe bedrohten Ver¬
brechen abgenommen hätten, wurde weiter betont, dass der Staat bei der Fest¬
setzung der Strafen kein Recht habe, eine Wiedervergeltung auszuüben, sondern
dass die Strafen nur den Zweck haben sollten, Andere von der Begehung von
Strafen abznhalten. Mit Bezugnahme auf einen in der Verfassung der Ver¬
einigten Staaten enthaltenen Grundsatz, dass nämlich „grausame und unge¬
wöhnliche Strafen nicht verhängt werden sollen“, wurde das Erhängen als eine
grausame und dem Geist der Civilisation widersprechende Strafe verworfen.
Zur Ausführung der Todesstrafe wurden anstatt des Todes durch den
Strang folgende Methoden empfohlen: a) Tödtung durch den elektrischen Strom;
b) Tödtung durch hypodermatische Injeotion von Gift; c) Tödtung durch Ein¬
führung von Kohlensäure in die von dem verurtheilten Verbrecher bewohnte Ge¬
fängniszelle.
Der letzteren Methode wurde vor den beiden anderen der Vorzug gegeben.
Unter allen Umständen sollten öffentliche Hinrichtungen vermieden, und
strenge Anordnungen getroffen werden, dass Mitteilungen über die Vorgänge
bei Executionen ferner nicht mehr durch die Presse veröffentlicht werden dürften.
Die Leichen Hingerichteter sollten ohne Ausnahme anatomischen Anstalten zu
wissenschaftlichen Zwecken übergeben werden. Ebertz- Weilburg.
Eine neue LaageaatheMprebe der Neagebarenen aaf velaaietriseheai Wege. Von
Dr. H. Bernheim. D. med. Wochenschr. 1889 No. 43.
Das Instrument, welches Bornheim neuerdings für die Lungenathemprobe
empfiehlt, ist ein auf volametrischem Princip beruhender Dichtigkeitsmesser und
besteht aus einem Recipienten, welcher in seiner aufrechten Stellung 100 ccm
Wasser (oder ein ähnliches bestimmtes Quantum) fasst und an der Seite eine mit
eingeschliffenem Glasstöpsel verschliessbare Oeffnung trägt. Oben läuft dieser
ballonartige Recipient in eine Glasröhre aus, welche an ihrem Ende ebenfalls
mittels eines luftdicht schliessenden Glasstöpsels verschlossen ist. Diese Röhre
trägt eine genaue Scala, eingetheilt in zehntel Cubikcentimeter.
Ist der Apparat in aufrechter Stellung mit Wasser genau bis zum Fuss-
punkt der Scala gefüllt worden, so wird er demnächst so gelegt, dass die Scala
horizontal liegt. So füllt sich die Röhre theilweise mit Wasser, welches sie dem
Recipienten entnimmt, so dass in letzterem Platz gemacht wird für ein zu unter¬
suchendes Lungenslück. Dasselbe kann man sich mit Scbeore oder Messer in
solchen Dimensionen zuschneiden, dass man es durch die seitliche (in horizon¬
taler Lage, obere) Oeffnung des Reoipienteu bequem einführen kann; dieses
Lungenstäckchen hat man sich vorher auf der Waage, die ja bei jeder Kinder-
section zur Stelle sein muss, gewogen und das Gewicht notirt. Am besten nimmt
man Stücke von ca. 2—4 g Gewicht.
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Kleinere Mitthoilungeu, Referate, Literaturnotizen.
Jetzt nimmt man, immer bei horizontaler Haltung, den Stöpsel von der Oeff-
nung des Recipicnten, wirft das Lungenstiickchen hinein und setzt den Stöpsel
fest wieder auf. Nun wird wieder eine Rückdrehung um 90 u gemacht und das
Instrument wieder wie vorhin auf den Tisch gestellt. Das Wasser aus der Röhre
läuft jetzt wieder zurück in den Recipienten: aber in diesem befindet sich jetzt
das Lungenstück, welches einen seinem Gewichte entsprechenden Theil des
Wassers verdrängt. Infolge dessen steht jetzt das Wasser in der Röhro oberhalb
des Fusspunktes 100, und man notirt sich die an der Scala abgelesene Höbe
dieses Standpunktes, welche in Cubikcentimetern das Volum der verdrängten
Wassermonge angiebt. Ist das Lungengewicht a, das Volum des verdrängten
Wassers b, so ist (da 1 ccm Wasser ohne wesentlichen Fehler = 1 g Wasser ge-
a
setzt werden kann) das specifische Gewicht der Lunge == —.
b
Vf. hat nach dieser Methode das spec. Gewicht der fötalen und der ge-
athmet habenden Lunge der Neugeborenen in einer grossen Zahl von absolut
sicheren Fällen untersucht und für beide Arten je eine ganz constante Grösste ge¬
funden. Eine neugeborene Lunge nämlich, die geathmet hat, und wenn es nur
die kürzeste Zeit war, hat ein geringes specifisches Gewicht, infolge dessen sie
ja auch bekanntlich schwimmt, nämlich 0,8. Die fötale Lunge, die in Wasser
untersinkt, also schwerer ist als dieses, hat auch dementsprechend ein höheres
specifisches Gewicht als Wasser nämlich 1.1; sie entspricht auch hierin, wie in
ihrem Aussehen, der Leber und dem Muskelileisch (deren specifisches Gewicht
1,147 resp. 1,15 ist).
Diese Grössen sind so constant, dass man bei einer Lunge, deren speci¬
fisches Gewicht 0,8, also kleiner als 1 (Wasser) ist, mit forensischer Sicherheit
das Gelebthaben des Kindes, bei einem specifischen Gewicht grösser als Wasser,
also 1,1, das Gegentheil unbesorgt behaupten kann.
Natürlich darf man bei faulem Material, gerade wie bei der Schwimm-
prole, nicht die Vorsichtsmaassregel, etwaige subpleurale Gasblasen anzustechen,
unterlassen. Bei partieller Atelektase muss man die verdächtigen Stellen be¬
sonders herausschneiden und untersuchen. .ch.
Acute Myelitis naeh Misshandlungen. Von Hofrath H. v. ßamberger und Hof¬
rath E. v. Hofmann. Facultäts-Gutachten. Wiener klinische Wochenschr.
1889.
Es handelte sich um einen 19 jährigen Knecht B., der am 80. October v. J.
von mehreren jungen Burschen, namentlich von den 14- und 16jährigen Brüdern
H. misshandelt worden war. Die Misshandlungen bestanden in Fusstritten in der
Magengegend, auf die Brust, in die Rippengegend. Am anderen Tage konnte der
Verletzte wieder arbeiten. Die Neckereien begannen von Neuem. Er wurde am
Halse gefasst und zu Boden geworfen, wobei B. mit dem Kreuze auf die Kante
eines Brettes fiel und späterhin noch 2 Hiebe auf das Kreuz erhielt. Am 1. No¬
vember muss B. wegen heftiger Schmerzen das Bett hüten. Er klagte über
Schmerzen in der Magengegend; hier und am linken Unterschenkel fand sich eine
Sugillation, die Klagen über Schmerzen in der Magengegend, im Unterleib und
in den Hüftgelenkeu.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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Am 4. November wegen Retentio urinae Katheterisation. Rothgelber Urin.
Zunge belegt. Temperatur normal. Atn 7. Novembor schlotterten bei Gehver¬
suchen die Füsse; Unvermögen zu stehen. Blutegel auf dem Bücken und Ein¬
reibungen von Ung. einer. Atn 8. November unregelmässiger Athem, zusammen¬
ziehende Schmerzen im Halse, in der Brust- und Magengegend, sowie entlang
der Wirbelsäule. Collapsus bei kleinem Pulse (00).
Am 11. November. Pat. vermag mit Unterstützung unter Schmerzen einige
Schritte zu thun. Anfallsweise krampfhafte Schmerzen bis zum 19. November.
Am 19. November. Auch die Schmerzen entlang der Wirbelsäule geringer. Das
Gehen bessert sich immer mehr. Am 27. November Allgemeinbefinden befriedi¬
gend. Am 3 December kräftigeres Aussehen. Nur Lendenwirbelsäule gegen
Druck noch etwas empfindlich.
Gerichtsärztlich wurde B. erst am 14. December in K. untersucht, wohin
er per Wagen gekommen war. Der Befund ergab beim leisen Drücken in der
Gegend der unteren Brust- und oberen Lendenwirbel auffallende Schmerzhaftig¬
keit, Sensibilität, Tastsinn und Temperatur normal, Händedruck links etwas
schwächer. Vor der Verletzung soll B. sehr still und zurückgezogen gewesen
und deshalb von anderen Burschen gehänselt worden sein.
ln der abermaligen gerichtsärztlichen Untersuchung am 18. Februar war
der Ernährungszustand besser geworden, die Empfindlichkeit der Wirbelsäule
gegen Druck ist nicht mehr vorhanden. Sicherer Gang auch bei geschlossenen
Augen. Die Gericbtsärzte nahmen keine Affection des Rückenmarks an, weil die
betreffenden Krankheitserscheinungen nicht sogleich nach der Misshandlung, son¬
dern eist 3 bis 5 Tage später aufgetreten seien.
Am meisten habe der Syraptomencomplex eine gewisse Aehnlichkeit mit
jenem Nervenleiden, das man „Nervenschwäche“ (Neurasthenie, Spinalirritation)
nenne. Da diese auch durch andere, nicht immer nachweisbare Ursachen bedingt
sein können, so Hesse sich nicht einmal mit Wahrscheinlichkeit behaupten, dass
die Krankheit in ursächlichem Zusammenhänge mit der Misshandlung stehe. Die
Rathskammer des K. K. Kreisgerichtes beschloss hierauf die Einholung des Gut¬
achtens der medicinischen Fakultät.
Gutachten.
Es ist unzweifelhaft, dass bei B. im Beginn seiner Erkrankung zwei¬
fellose Lähmungserscheinungen an der uuteren Körperhälfte bestanden, von
denen einzelne schon in der ersten Woche zurückgingen, andere in abnehmendem
Grade fast durch einen Monat sioh nachweisen Hessen. Zu den ersteren gehören
die 30ständige Harnverhaltung mit 3tägiger Trägheit der Harnverhaltung, zu
letzteren die Unfähigkeit, sich auf den Füssen zu halten, das Schlottern und
Zittern der Füsse bei mit Unterstützung gemachten Gehversuchen und das Nach¬
schleppen der Füsse, besonders des linken. Ausserdem zeigten sich die längere
Zeit anhaltende Empfindlichkeit des Bauches und der Wirbelsäule gegen Druck,
ferner die auffällige Erhöhung der sog. Reflexerregbarkeit, die sich einerseits
durch das Auftreten eigentümlicher Krampfanfälle äusserten, theils durch Druck
auf die empfindliche Wirbelsäule ausgelöst wurden. Weiter waren heftige spon¬
tane Schmerzen in der Magengegend, des ganzen Unterleibes und in den Hüft-
gegenden vorhanden, sowie auch allgemeines Unwohlsein, schlechtes Aussehen,
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Kleinere Mittheilungen. Referate, Literaturnotizen.
Schwäche, unregelmässiger Puls, Respirationskrämpfe und Ohnmachtsanwand¬
lungen, Symptome, die erst allmälig verschwanden, so dass Pat. erst am 3. De-
cember ein frischeres Aussehen darbot.
Dieser Complex von Krankheitserscheinungen kann nur auf Myelitis be¬
zogen werden, die wahrscheinlich die mittlere und untere Partie des Rücken¬
markes betraf, ln Anbetracht des unvollständigen und partiellen Charakters der
Lähmungserscheinungen, sowie des verhältnissmässig raschen Znrückgehons der¬
selben und der verhältnissmässig kurzen Dauer der ganzen Krankheit lässt sich
annehmen, dass nur eine umschriebene und nicht sehr ausgedehnte
Stelle des Rückenmarks ergriffen gewesen sei. Mit dieser Diagnose
stimmen auch die Angaben der behandelnden und Gerichtsärzle überein, welche
dahin gehen, dass sie den Eindruck einer vorliegenden Rückenmarksaffection er¬
halten haben.
Bedenkt man, dass die Misshandlungen, welche B. erlitten hat, solche waren,
dass eine Betheiligung des Rückenmarks dabei vollständig verständlich erscheint,
dass insbesondere ein Theil derselben thatsächlich den Rücken getroffen hatte,
dass ferner für die Intensität dieser Qewalteinwirkungen die ganz auffälligen
Sporen derselben (streifenförmige Sugillation am Bauche, eine schmerzhafte
Schwellung des linken Ellenbogens, ii.sbesondere eine schmerzhafte Röthung und
Schwellung der hinteren unteren Brustgegend und der ganzen Lendengegend)
sprechen, so ist es klar, dass die Rückenmarkserkrankung thatsächlich duroh jene
Gewalteinwirkungen veranlasst worden ist. Der Umstand, dass die Lähmnngs-
erscheinungen nicht sofort nach den Misshandlungen auflraten, spricht nicht
gegen den ursächlichen Zusammenhang dieser mit jenen, da wahrscheinlich nur
eine minimale, vielleicht nur in einer odor mehreren kleinen Blutaustritten be¬
stehende Rückenmarksbeschädigung stattfand, und weil die Lähmungssymptome
zunächst nicht sowohl durch diese, sondern dnrch die erst mit ihr entstandenen
entzündlichen Veränderungen an der verletzten Stelle veranlasst worden sind,
deren Ausbildung einige Zeit erforderte.
Von den Misshandlungen könnte am ersten das am 30. October geschehene
Niedergeworfenwerden auf die Erde und auf den Rücken ätiologisoh in Betracht
kommen. Da B. aber weder an diesem Tage, Doch am nächsten Vormittage sich
unwohl fühlte, so ist es unwahrscheinlich, dass dieses Niederwerfen das Rücken¬
marksleiden veranlasst hat. Die verschiedenen am 31. October erlittenen Ge¬
walteinwirkungen (Fallen mit dem Kreuze auf die Kante eines Brettes, Hiebe
theils mit einer Mistgabel, theils mit einer Holzschaufel auf den Rücken) waren
dagegen genügend, die betreffende Beschädigung des Rückenmarks zu veranlassen.
Unmöglich lässt sich aber entscheiden, welche derselben die Beschädigung wirk¬
lich veranlasst hat.
Die erzeugte Krankheit muss im Sinne des § 152 St.-G.-B.’s für eine
schwere Verletzung erklärt werden. Elbg.
Post-morten sueating (Sehweissabseaderaag nach den Tode). Von John
A. Cones. The Lancet. 25. Mai 1889.
Ein Mann von 42 Jahren, welcher 9 Monate an Albuminurie gelitten, wurde
plötzlich von urämischem Coma und linksseitiger Hemiplegie befallen. Zugleich
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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stieg bald darauf die bisher immer normal gewesene Temperatur und erschien
eine profuse Schweisssecretion des ganzen Körpers, welche ohne Unterbrechung
bis zu dem nach einigen Tagen erfolgten Tode fortdauerte.
16 Stunden nach demselben bemerkte man neben den bekannten Lirores die
Leinewandstücke. auf welchen die Leiche lag, von Schweiss stark durchnässt und
die Haut nass und klebrig. Dieser Zustand dauerte noch 8 Stunden an.
Wie C meint, hat diese Erscheinung ihren Grund darin, dass, da mit dem
Tode die profnse Schweisssecretion sistirte, die Glandulae sndoriferae und die
dieselben umgebenden Lymphränme noch eine grössere Menge Flüssigkeit ent¬
hielten , nnd dass diese durch den Eintritt der Todtenstarre mechanisch ausge¬
presst wurde. Pauli (Cöln).
Bia Mssergewöhalleher Ball ren Selbitaerd mittelst Hessen. Von M. Laugier.
Annales d’hygiöne publique et de mödecine legale, Mai 1889.
Verf. fand bei der Obduction der Leiche einer 63 jährigen geisteskranken
Selbstmörderin im Ganzen nicht weniger als 145 mit einem scharfschneidenden
Instrumente hervorgebrachte Verletzungen. Das benutzte Messer hatte eine 26 cm
lange Klinge. Von den qu. Verletzungen waren 122 oberflächlich, 17 ein bis
vier Centimeter tief; von den übrigen, welche mit grosser Kraft beigebracht
waren, fand sich eine am Halse, woselbst sie bis zur Wirbelsäule sich erstreckte,
während die übrigen 5 in der Nabelgegend sich vorfanden und dort 7 Darm¬
schlingen verletzt hatten. Nach der Lage der Wunden war anzunehmen, dass
die Geisteskranke nach vergeblichem Versuche, die Art. temporales, radiales und
cnbitales zu durchsohneiden, sich zunächst Stiche in das Herz und die Lungen
beizubringen suchte, dann die Bauchwunden und schliesslich die Wunden am
Halse sich applicirte. Flatten (Köln).
c) Psychopathologie, Nenropathologie.
laadbieh der Irreohellkaode. Von Dr. Friedrich Scholz. Leipzig, Ed.
H. Mayer (Einhorn & Jäger) 1890. 184 Ss.
Der in weiten Kreisen vortheilhaft bekannte Direcior der Kranken- und
Irrenanstalt zu Bremen hat auf knappem Raum ein Werk gesohaffen, welches
hauptsächlich jenen Aerzten und Studirenden dienen soll, deren Specialität die
Phychiatrie nicht ist. säber auch für die der Irrenheilkunde Beflissenen wird es
eine bei vielen Gelegenheiten erwünsohte passende Hülfe zu Recapitulationen und
zur Einführung in umfangreiche Handbücher darbieten.
Erfüllt von der Wichtigkeit seines Gegenstandes: der Bedeutung, welche
der Psychiatrie nicht blos als Heilwissenschaft für den Einzelnen, sondern als
Socialwissenschaft für die Gesellschaft als Ganzes gebührt — kennzeichnet der
Verfasser selbst sein Streben, mit möglichster Vollständigkeit eine gedeihliche
Kürze za verbinden; er benutzt als hauptsächlichstes Mittel, diesem Ziel gerecht
zu werden, die erprobte Methode, nur Thatsacben zu bringen und allem speou-
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizon.
lativen Wesen und Formomschmuck zu entsagen. Auf diese Weise gelingt es ihm,
in den ersten drei Abschnitten die psychischen Elementarstörungen, — die kör¬
perlichen Klementarstörungan und Begleiterscheinungen, sowie die Ursachen des
Irreseins zu bewältigen und den grössten Theil seines Raumes fiir „die einzelnen
Irreseinsformen“ zur Verfügung zu behalten. Diese werden in den Hauptabschnit¬
ten „Entwicklungshemmungen“ — eigentliche „Psychoneurosen“ — „mit cen¬
tralen Neurosen verbundene Geisteskrankheiten“ — „Vergiftungspsychosen“ —
und „Organische Geisteskrankheiten“ abgehandelt. Der Schlussabschnitt bringt
dio Lehren der allgemeinen Diagnostik und Therapie in sehr übersichtlicher Dar¬
stellung. Bereits nach diesen wenigen Fingerzeigen wird man sich gern derVer-
muthung zunoigen, dass des Verfassers schwieriger Versuch ein wohlgelungener
ist und diese Vormuthung beim Durcharbeiten des Buches bestätigt finden.
.ch.
Der bekannte Irrenarzt Dr. Savage theilt im Journal of Mental. Science,
1886, 3 Fälle von im Zustand von Trunkenheit begangenen Verbrechen mit, die
sehr verschieden beurtheilt wurden.
1. James Willians tödtete seine junge, 1 6jährige Schwester, die zusammen
wohnten und ein gemeinschaftliches Zimmer hatten. Als er in trunkenem Zu¬
stande Nachts nach Hause kam, wechselte er einige unbedeutende Worte mit der¬
selben , ging dann in den Hof und kam sogleich zurück ins gemeinschaftliche
Zimmer. Er nimmt das geladene Gewehr aus einer Ecke, und ohne zu visiren,
entladet sich dasselbe zufällig und tödtet das Kind auf der Stelle in seinem Bett.
Er gesteht die Absicht gehabt zu haben, seinen Vater, seine Schwester und sich
selbst zu tödten. Seine Schwester hätte Umgang mit einem Soldaten, und ver¬
diente den Tod. Der Anwalt des Angeklagten gab an, dass derselbe schon früher
Selbstmordgedanken gehabt habe. Im Gefängniss zeigte er keine Spur geistiger
Störung. Savage erklärte ihn für einen Schwachsinnigen, der durch Genuss
von Spirituosen sehr leicht aufgeregt wird. Der Vertheidiger suchte nachzuwei¬
sen, dass J. W. im Augenblick der That nicht wusste, was er that, und keine
Absicht zu tödten zu erweisen wäre. Der Staatsanwalt beantragte die Strafe des
Todtschlages, da keine Geistesstörung anzunehmen wäre, und wurde der Ange¬
klagte zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurtheilt.
2. Esther B., eine Gowohnheitstrinkerin, tödtete ihren 9 Monate alten
Sohn, den sie zärtlich lieble. Sie benutzte die Zeit, als ihre Familie sie ver¬
lassen hatte, um denselben aus dem Fenster zu werfen. Seit mehreren Tagen
war sie von der Idee beherrscht, dass man ihr das Kind rauben wollte.
Sio behauptete später, dass sie zu dem Mord getrieben sei, um das Kind
unter die Engel zu versetzen. Esther wurde fteigesprocfcen und im Asyl für ver¬
brecherische Irre untergebracht. Obgleich diese Frau unter dem Einfluss eines alko¬
holischen Deliriums bandelte, wurde diese wichtige Thatsache am Gericht ver¬
schwiegen, und nur die Frage der Geistesstörung den Richtern vorgelegt.
3. Joseph Baines, Trunkenbold, stellte seiner Frau nach, die einige Zeit
von ihm getrennt war. Zum Weihnachtsfest hatte er sich stark berauscht und am
folgenden Tage tödtete er seine Frau, die er bei einem Nachbar fand, mit dem
Messer. Die entsetzlichen Wunden drangen 4 Zoll ein. Er gestand die Absicht
ein, seine Frau (wegen ehelicher Untreue) zu tödten.
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Kleinere MiuHeilungen, Referate, Literaturnotizen.
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Seit mehreren Tagen hatte er Wahnideen, die sich auf seine Frau bezogen,
auch erklärten die Zeugen, dass er vor der That sehr aufgeregt erschienen wäre,
indem er sich mit einem Stock schlug und sich den Kopf durch Stoss an der
Mauer verletzte. B. wurde von den Geschworenen zum Tode verurtheilt. obgleich
das Kesume des Richters ihm günstig war.
[Dr. Savage bemerkt, dass die Rechtswissenschaft noch sehr schwankt in
den Fällen, wo der Genuss der Spirituosen eine Rolle spielt. Im letzten Fall,
wo der Richter erklärt hatte, dass der acute Alkoholismus als ein Milderungs¬
grund (excuse) anzusehen sei, wurde von der Jury die Todesstrafe ausgesprochen.
Im zweiten Fall fand die Mörderin in einem AsylAufnahme, ohne dass an den Ein¬
fluss des Alkohols gedacht wurde, und im ersten Fall erlitt der Verbrecher eine
verhältnissmässig geringe Strafe. Er hätte entweder hingerichtet, oder in einer
Anstalt untergebracht werden müssen.] Kelp (Oldenburg).
The American Journal of Insanity, 1888, Juli, enthält 3 interessante Beob¬
achtungen von späteren Genesungen bei Geistesstörungen.
1. Eine 35jährige Frau, hereditär belastet, wurde 1867 wegen remitti-
render Manie, die periodisch zur Zeit der Menses sich verschlimmert, aufge¬
nommen. Sie wurde 1884 nach 17jährigem Aufenthalt in der Anstalt als völlig
geheilt entlassen.
2. Ein 33jähriger Mann, hereditär belastet, 1868 aufgenommen, litt an
Melancholie mit Wahnideen. Eine temporäre Besserung trat stets bei Zunahme
der Tuberculose ein. Er wurde geheilt entlassen 1887 nach einem 19jährigen
Aufenthalt in der Anstalt.
3. Eine 50jährige Frau, 1870 aufgenommen, au Melancholie mit Halluci-
nation und Trieb zum Selbstmord leidend, ward 1884 nach 14jährigem Aufent¬
halt als geheilt entlassen, und hat auch nachher keine Zeichen der Krankheit
manifestirt.
Die Fälle sind beobachtet von Dr. Campbell in der Anstalt zu Carlislc.
Solche späte Genesungen sind auch in Deutschland und anderswo beob¬
achtet, betrafen ähnliche an chronischer Melancholie und Aufregungszusländen
Leidende! Hatte sich Dementia ausgebildet, so bestand Unheilbarkeit, wenn sie
bereits mehrere Jahre gedauert hatte. Kelp (Oldenburg).
lie Erkraakiagea aach Eiseahahaanfällea. Von Dr. Charcot. Annales d’hy-
giene publ. et de m&L Iög. Februar 1889.
Unter Bezugnahme auf einen unlängst beobachteten Fall betont Ch. die
nach Eisenbahnunfällen dem sonstigen Bilde der traumatischen Neurose sich zu¬
gesellende Amnesie und im Anschluss daran die Mahnung, sich in derartigen
Fällen nicht auf die Angaben der Kranken zu verlassen, da diese ihre Kennt¬
nisse, betr. den Unfall, häufig nur der Mittheilung von Augenzeugen verdanken.
Für den von ihm vorgeführten Kranken zieht Verf. die Bezeichnung „trauma¬
tische Neurasthenie* 4 vor, findet die Benennung als Railway-Brain, Railway-
Spine weniger zweckmässig; die Krankheit steht auf gleicher Stufe mit den als
Viari«ljfthrs*ehr. f. % er. If*d. N. F. UI. t. 13
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Kleinere Mittheilungen. Referate. Literaturnotizen.
Nervous Shook, Schrecklähmung beschriebenen. Den Zustand des Gehirns findet
Ch. äusserst ähnlich demjenigen während der Hypnose und die Patienten jeg¬
licher Art von Autosuggestion zugänglicher als in der Norm.
Die tiefftkree de» Hypnethaius. Von Dr. Gilles de la Tourette. Ibid.
S. 162.
Verf. bespricht die aus der unbehinderten Ausübung des Hypnotismus ent¬
stehenden persönlichen und socialen Schäden. Auf Grund seines Vortrages
fasste die Societe de medecine legale en France eine Resolution, in der sie die
öffentlichen Aufführungen der Magnetiseure als unzulässig bezeichnet und ein
gesetzliches Verbot derselben für zweckmässig erachtet. Flatten (Cöln).
Allgeneine Paralyse and Körpervorletiang. Von Dr. F. Villard. Ibid. S. 406.
Verf. berichtet über einen 45 Jahre alten Mann, der stets ein brutales hef-
tigesWesen an den Tag gelegt, sonst aber nichts Aussergewöhnliches jemals dar¬
geboten hatte, bis er vor einigen Monaten anfing, unpünktlich bei der Arbeit zu
werden und sich dem Trünke zu ergeben. Abends betrat derselbe ein Zimmer,
in welchem er Bekannte antraf und sich mit diesen unterhielt. Plötzlich, ohne
jede bekannte Ursache, ergreift er ein Messer und bringt einem neben ihm
sitzenden Arbeiter eine tiefe Kopfwunde, einem diesem Hülfe leistenden Kame¬
raden eine tiefe Vorderarmwunde bei. worauf es gelang, ihn dingfest zu machen.
Nach etwa l 3 / 4 Jahren starb er als Paralytiker in einer Irrenanstalt, welcher er
gleich nach der qu. That überwiesen werden musste. Flatten (Cöln).
d) Toiicelogisches; Berufskrankheiten und deren Verbeuguugg-
■aassregeln»
Arsenik in Haushalt. Das Octoberheft 1888 der Chemical News enthielt
einen Aufsatz von A. W. Stokes über das häufige Vorkommen von Arsenik im
Haushalt, aus welchem wir nachfolgende Einzelheiten entnehmen. Stokes hatte
sowohl im Aufträge von grösseren Firmen, als auch von Privatpersonen mehr als
hundert Proben von damals modernem Indischen Muslin und Cretonnes unter¬
sucht. Die qualitative Analyse wurde nach Marsh vorgenommen, und nur solche
Proben wurden als arsenikhaltig bezeichnet, bei welchen die Reaction innerhalb
5 Minuten eingetreten war. Einzelne Proben waren auch quantitativ untersucht
worden, und der höchste Arsengehalt betrug 2'/ 1(l Gran auf eine Quadratelle.
Bei den rothen und grünlich-braunen Terra-Cotta-Farben war am häufigsten
Arsenik gefunden worden.
Zur Entscheidung der Frage, ob diese Stoffe Arsenikdämpfe abgeben können,
brachte Stokes 300 Quadratzoll der arsenikhaltigen Muselins und Cretonnes in
eine ä'/j Fuss lange und B / 4 Zoll im Durchmesser haltende Glasröhre und leitete
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literalurnotizen.
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6 Standen lang Lnft mit Zimmertemperatur durch dieselbe. Das Resultat war
ein negatives und blieb auch dasselbe, als die Glasröhre 6 Stunden lang einer
Temperatur von 100 0 P. (Blutwätme) ausgesetzt worden war. Und doch waren
6—8 Arbeiterinnen, welobe längere Zeit mit diesen Stoffen beschäftigt waren,
an Symptomen erkrankt, welche auf die Diagnose der chronischen Arsenik¬
vergiftung führten, und die von dem behandelnden Arzte zur Analyse über¬
gebenen Stoffproben waren denn auch ziemlich stark arsenikhaltig.
Stokes untersuchte darauf 30 andere im Haushalt vorkommende Artikel,
fand aber nur bei einer grüngefärbten Matte aus Flachs und bei dem grünen
Ueberzug einer Schachtel geringen Arsengehalt.
Ungünstiger war das Verhältniss der untersuchten Tapeten, von welchen
10 pCt. Arsen enthielten.
Wenn auch Erkrankungen, welche auf den Gebrauch solcher Stoffe im Haus¬
halt, oder auf die Beschäftigung mit denselben zurückgeführt werden können,
äusserst selten sind, so ist doch Stokes der Meinung, dass in England der Ar¬
senik von der Fabrikation uud der Färbung dieser und anderer Artikel gesetzlich
ausgeschlossen werden müsse, wie dies in anderen Staaten längst geschehen sei.
Ebertz (Weilburg).
Ela fall vaa Selbstvergiftaag mit Kaliamblehra mat. Von Dr. Klimesch. Wiener
klinische Wochenschr. 1889. S. 733.
Ein 43jähriger Tischler, welcher 2—3Grm. Kal. bichromat. zerrieben und
ohne Nachspülen mit Wasser eingenommen hatte, erkrankte unter den Anzeichen
einer toxischen Gastritis mit Dyspnoe, Kopfschmerz. Schwindel, Oligurie, Milz¬
tumor und den Beschwerden diffuser Verätzung der Mundschleimhaut. Er starb
am 10. Tage nach der Vergiftung. Die Section ergab Lungenbämorrhagien,
Schleimhautblutungen und die Zeichen einer frischen Nephritis neben alten
Nierenveränderungen. Die Fäces waren (intra vitam) frei von Harnstoff und
Chrom, enthielten 0.1247 pCt. Ammoncarbonat. Dagegen war Chrom im Harn in
nicht unbedeutender Menge am ersten Tage der Erkrankung, nur noch spurweise
am zweiten Tage nachweisbar. Am zweiten Tago wurden auch Albumen und
granulirte Cylinder nachgewiesen, nicht aber Harnsäure. Wenn der letztgedachte
Befund in Anbetracht des älteren Nierenleidens nur mit grosser Reserve auf die
Einführung des Chroms zu beziehen ist. so illustrirt der vorliegende Fall doch in
klarster Weise die schnelle Ausscheidung desselben aus dem Organismus.
Platten (Cöln).
Ein Fall von acuter Antifebrinvergiftung wurde von Dr. Marenchaux
(Deutsche med. Wochenschrift, S. 885) mitgetheilt: Faul H., 5 Monate alt,
litt seit einigen Tagen an Darmcatarrh. Am 19. August verordnete M. Calomel
0,01, 3stündlich ein halbes Pulver zu geben. Durch ein Versehen wurde ver¬
abfolgt: Antipyrin 0,5, Calomel 0,05, Sach. 0,05. Von letzterem Pulver wurde
dem Kinde früh 2 8 Uhr die Hälfte des Antifebrin, 0.25. eingegeben. Naoh
Aeusserung der Mutter wurde das Kind um 10 Uhr, nach 2'/ a Stunden, überden
ganzen Körper blau, verdrehte die Augen und lag wie bewusstlos da.
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
Nachmiltags 2 L’hr loi es folgendes Bild: Hochgradige Cyanose über den
ganzen Körper, tiefe Blaufärbung der Lippen, Kälte der Nasenspitze, der Ohren,
der Hände und Küsse. Die Augen waren halb geöffnet, nach oben gerollt, Pu¬
pille mittel weit, ohne Ueaction auf Lichtfall. Athrnung beschleunigt, 72 Athem-
züge in der Minute. Puls äusserst klein und schnell, IGO Schläge in der Minute.
Haut kalt, leichter kalter klebriger Schweiss.
Zunge grau belegt, feucht. Zuweilen leises, ganz heiseres Wimmern. M.
verordnete Ungarwein, stündlich einen TheelöfTel voll, um der drohenden Herz-
liihmung vorzubeugen; ausserdem eine feuchte Einwickelung des ganzen Körpers
und Einhüllen in eine wollene Decke zur Hebung der Hautturgors und Schweiss-
beförderung. Nach 8 Stunden lag das Kind in profusem Schweiss. Die Haut
fühlte sich warm an, der Puls war wieder etwas kräftiger, aber die Frequenz
unverändert. Die Augen waren etwas geschlossen, die Pupillen reagirten träge
auf Lichtschein. Gehör und Sehorgan schienen nicht gelitten zu haben. Die
Temperatur, in der Leistenbeuge gemessen, betrug 37,2® C. Der Wein wurde
fortgegeben. Abends war bedeutende Besserung eingetreten; leichter Schweiss,
Abnahme der Cyanose, reichliche Entleerung dünnen, grün gefärbten, aashaft
stinkenden Stuhls (Calomel).
Keine Urinretention, kein Erbrechen. Die Besserung schritt rasch vorwärts.
Nach Verabreichung von Gerstenschleim waren auch die Stuhlgänge wieder von
normaler Beschaffenheit. Irgend eine Intoxicationserscheinung ist nicht zurück¬
geblieben. Kelp (Oldenburg).
§ie Kernentintoxiefttion und deren Beziehung zur Sublimat- und Leuehtgasver-
giftung» Von Dr. W. Hencke. In der Festschrift zur Feier von A. v. Zenker’s
Jubiläum. 1887.
Unter Fermeutintoxication versteht man bekanntlich die Folge der Trans¬
fusion fremdartigen Blutes. Die charakteristischen Befunde fanden sich auch bei
CO-Vergiftung. H. hat mikroskopisch die Wirkungen der beiden genannten Ver¬
giftungen verfolgt und gefunden, dass bei rasch verlaufender Sublimat¬
vergiftung in Lungen, Leber und in der Rindensubstanz der Nieren blutige
Imbibition, körniger Zerfall und auch Aufnahme von Blutpigment in die Zellen
sich nachweisen lasse.
Bei länger dauernder Vergiftung fand sich die Leber von ausge¬
breiteten Extravasaten, von körnig zerfallenem Blutfarbstoff durchsetzt, wie auch
deren Parenchym in eine körnige gelbbraune Masse ohne Kernfärbung umgewan¬
delt Die Milz zeigte sich wenig verändert.
Bei der Leucbtgasvergiftung kamen in den Lungen Bezirke mit voll¬
gestopften Gelassen, aber auch Blutleere (Ischämie), daneben Extravasation vor.
Die Thromben, ganz oder im Kerne weisse (fortgeschwemmte), gleich¬
zeitig rothe und weisse Thromben (autochthone und embolische) finden sich auch
in der Leber, Milz, Niere, Gehirn, nicht aber im Herzen, in der Magen- und
Darmwand, mit oder ohne gleichzeitige Extravasate; beide Vergiftungen führen
zu Thrombenbildung im kreisenden Blute, die Sublimat Vergiftung hauptsäch-
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Kleinere Mittheilungen, Referate, Literaturnotizen.
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lieh zu rothen, die Leuc ht gas Vergiftung zu weissen Thromben, So erklären sich
auch die Erweichungsherde im Gehirn nach Kohlenoxydvorgiftung.
Aus der Transfusion ist bei beiden Vergiftungen kein Heil zu erwarten.
Elbg.
Eia seltener Fall ran Kahlentxyd-Verglftaag. Von Prof. M. Litten. Deutsche
med. Wochenschr. 1889. S. 82.
Litten stellte einen Kranken vor, welcher neunzehn Tage zuvor eine schwere
Kohlenoxidvergiftung überstanden hatte, und bei welchem etwa 20Stunden nach
Wiederkehr des Bewusstseins Folgendes zu constatircn war: Der rechte Arm war
von den Fingern bis zur Schulter und diese bis zur Wirbelsäule hin durch teigig-
sulzige. nicht ödematöse Infiltration des Unterhautzellgewebes stark geschwollen,
einschliesslich der Schulter quoad motum et sensum total gelähmt. Dabei völliges
Erloschenscin jeglicher Reflexe und Verlust der elektrischen Erregbarkeit vom
Muskel und Nerven aus. Die Haut des Vorderarms und der Hand war blauroth,
der Oberarm und die Schultergegend citronengelb. Nachdem die Schwellung am
2. Tage noch erheblich zugenommen, nahm sie vom 3. Tage an ab. Der nicht
eiterige Inhalt auf dem Handrücken entstandener Pemphigusblasen wurde bald
resorbirt. Im Uebrigen trat, abgesehen von Spuren wiederkehrender Sensibilität
und von Schmerzen in dem Gebiete der Anästhesie bis zum 19. Tage keine
Aenderung des beschriebenen Zustandes ein.
Indem Verf. einräumt, dass der Kranke vielleicht während des Schlafens auf
dem rechten Arme gelegen, und bezüglich der Aetiologie vielleicht eine Druck¬
lähmung mit der Kohlenoxydeinwirkung concurrirte, erinnert er an einen von
Frerichs beobachteten analogen. Fall von Infiltration der Weicbtheile nach
KohlenoxydvergiftuDg, bei dem sich ein Erweichungsherd im gleichseitigen
Linsenkerne fand, nachdem die Verjauchung des Infiltrats den Tod veranlasst
hatte, und gelangt mit Rücksicht auf die Literatur der Kohlenoxydvergiftung zu der
Annahme, dass es sich im vorliegenden Falle sehr wahrscheinlich nicht um eine
centrale Blutung handele, wie diese besonders Klebs als Folge der durch die
Kohlenoxydvergiftung bedingten Erweiterung und Schlängelung der Arterien be¬
schreibt, sondern um eine etwa in Form eines hämorrhagischen Exsudates auf¬
getretene Erkrankung des Plexus brachialis. Dies, woil anderen Falles mit der
erfahrungsgemäss schon frühe beginnenden Resorption des Gohirncxtravasates oin
erheblicher Rückgang der Symptome bemerkbar wäre. Flatten (Cöln).
Über Naehkrankhelten der Kahleaaxydgas-Vergiftaag, speeiell über eiaea anter
deai Bilde der ■altiplea dissearinirten Sklertse des Ceatralaerrensysteais
verlaafeaen Fall. Deutsche medic. Wochenschr. 1889. S. 153.
Wie Becker berichtet, wurde ein von Alkoholismus. Luos und hereditärer
Belastnng freier, durch Leuchtgaseinathmung bewusstlos und hochgradig cyano-
tisch gewordener 47 jähriger, sonst gesunder Arbeiter, der erst nach zweistündiger
künstlicher Athmung wieder spontan regelmässig athmete, im Anschluss an die
Wiederkehr der Respiration von fibrillären Zuckungen in allen Muskeln befallen,
die nach 8 Stunden zu so heftigen Krämpfen anwuclison, dass Pat. von zwei
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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
kräftigen Wärtern gehalten werden musste; die freien Intervalle waren kurz; jede
Beröhrnng löste neue Krämpfe aus. An der Körperhaut überall zahlreiche rosa-
rothe Flecken. Kein Diabetes. Geringe Albuminurie. Die Convulsionen wurden
nach 2 Tagen geringer, hörten nach 8 Tagen völlig auf, um tiefem Stupor Platz
zu machen. Gleichzeitig entwickelte sich scandirende Sprache, sowie eine links¬
seitige Hemiparese, die binnen einer Woche schwand. Dagegen war Intentions¬
tremor und Amnesie (bes. bezüglich des Unfalltages) zu constatiren. Noch nach 7
Monaten bestand nach vorübergegangener Besserung das charakteristische Bild der
multiplen cerebrospinalen Sklerose. welche Verf. auf Grund der uns bekannten
Fälle von Nervenkrankheiten nach Kohlenoxydvergiftung in seinem Falle als Folge
der Leuchtgaseinathmung betrachten zu müssen glaubt. Flatten (Cöln).
Caaned vegetabiles aad lead paisaaing. Von Fallon Percy Wightwick.
(The Lancet, 8. Decemb. 1888.)
W. knüpft an drei mitgetheilte Fälle von chronischer Bleivergiftung in
Folge längeren Genusses von in zugelötheten Blechbüchsen aufbewahrten Tomaten
folgende Bemerkungen: Diese Fälle beweisen die Schädlichkeit solcher vegeta¬
bilischen Nahrungsmittel, welche im Handel als Präserven bekannt sind, eine
Schädlichkeit, auf welche schon, jedoch bis jetzt ohne Erfolg, von verschiedenen
Aerzten hingewiesen worden ist. Pauli (Köln).
In den Annales des mal. de l’oreille bringt Gelle die schädlichen Wir¬
kungen der längeren Beschäftigung am Telephon zur Spraohe. Eine
Reihe ihm aus diesem Anlass zugogangener Ohrenpatienten litt an allgemeiner
nervöser Erregung, Hyperästhesie auf dem betreffenden Ohre, Sausen, Schwindel
und führte die Erscheinungen theils auf die telephonischen Klänge selbst zu¬
rück, die zu bunt und zu nahe vor dem Ohre ihneD ertönten, theils auf die Er¬
müdung, welche das beim telephonischen Hören besonders angestrengte Gehör
erleide. — G. glaubt, in allen Fällen eine gewisse nervöse Prädisposition an¬
nehmen zu müssen, und zweifellos müsse auch an präexistirende pathologische
Veränderungen des Gehörorgans gedacht werden. .ch.
In der D. med. Wochenschr. (No. 46) bespricht B lasch ko (Berlin) die Haut¬
entzündungen, wolche er bei den Arbeitern in Galvanisirungsanstalten beobachtete.
Diese zeigen sich mit Vorliebe an den Rückenfllichen der Finger und Hände, des
Handgelenks und zuweilen auch des Ellbogens. Allein sie verbreiten sich unter
Umständen auch über weitere unbedeckte Körpertheile. wie Gesicht, Hals,
Nacken, und sie ergreifen sogar auch die gesammte Körperoberflächo. Die Haut
wird an bestimmt umschriebenen Stellen entzündet, rauh, brüchig, verdickt, sie
springt auf, und es zeigen sich viele leicht blutige Bindegewebsrisse. Die Ur¬
sache dieser lästigen Hauterkrankung liegt in der Berührung der Hände mit den
vor und bei dem Galvanisiren der betreffenden Metallgegenstände erforderlichen
flüssigen Substanzen, als da sind gesättigte Soda- oder Pottaschelösung, Benzin,
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Kleinere Mittheilungen. Referate, Literaturnotizen.
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Wiener Kalk. Während des Galvanisirungsprocesses bildet sich freie Salzsäure,
wahrscheinlich auch Spuren von Chlor, so dass die sehr grosse Wahrscheinlichkeit
einer Bildung von Chlorkalk in den obersten Hautschichten vorhanden ist, die
um so leichter erfolgen kann, je vollständiger vorher die Haut des Arbeiters
entfettet worden ist. Ein Schutz der Hände durch Gummihandschuhe, eine
Theilung der Arbeit des Abbürstens und des Galvanisirens zwischen mehreren
Personen, die Verwendung von Leinöl zum Einfetten der gefährdeten Körper¬
stellen — hält Bl. behufs einer rationellen Prophylaxe gegen diese Berufskrank¬
heit für geboten.
The Lancet vom 23. October er. weiss von einer noch nicht besohriebenen
Gewerbekrankheit zu berichten. Diese Krankheit tritt namentlich bei Konditoren
und Zuckerbäckern auf, welche viel mit Zuckerlösungen und Syrupen hantiren.
Die Nagelglieder verdicken und platten sich ab, ihre Umgebung wird entzündet,
die Haut berstet und es entstehen Bläschen. Sobald die betreffenden Gehilfen in
ihrer Arbeit eine Veränderung eintreten lassen, also beispielshalber lediglich
Teige kneten und dergleichen, verschwindet die oben genannte Nagelerkrankung,
um sofort wieder aufzutreten, sobald die ursprüngliche Beschäftigung aufgenom¬
men wird. Für die nähere Kenntniss und die Aetiologie des Leidens würde es
von Interesse sein, die Betheiligung gewisser Zuckerwaare-Farben an den zur
Hantirung gelangenden Mischungen und Lösnngen in Frage zu ziehen.
Arbeiter• Badeeinriehtnngen. Ansichten und Grundsätze des Preisgerichts
über die vom Deutschen Brauerbund ausgeschriebene Preisaufgabe. — Unter diesem
Titel ist in Carl Heymann’s Verlag in BerlinW. zum Preise von 50 Pf. soeben
eine Schrift erschienen, in welcher der stellvertretende Vorsitzende der Unfall¬
verhütungs-Ausstellung, B. Knoblauch, die Ergebnisse der Concurrenzaus-
Schreibung des Brauerbundes zusammenstellt. Auf besonderen Beifall aller Der¬
jenigen, welche an den Fortschritten volkshygienischer Bestrebungen Antheil
nehmen, darf besonders die Beifügung der „Grundsätze für die Einrich¬
tung von Arbeiterbädern“ Anspruch erheben, da dieselben auch für Volks -
badeeinrichtungen bestimmende Geltung haben dürften. Zur Veranschaulichung
sind dem Schriftchen überdies zwei Pläne mit sehr übersichtlichen Zeichnungen
beigegeben.
e) Parasiteaknade and Bakteriologie (Desiafectioa).
Die Parasiten des ülenschen «ad die von ihnen herführenden Krankheiten. Von
Dr. Rudolf Leuckart. Ein Hand- und Lehrbuch für Naturforscher und
Aerzte. I. Bd. 4. Lieferung. 2. Auflage, mit 131 Holzschn. Leipzig und
Heidelberg, C. F. Winter’scher Verlag 1889. S. 97 — 440.
Es würde geboten erscheinen, auf das mit sicherer Regelmässigkeit vor¬
schreitende Parasitenwerk Leuckart’s als auf eine bedeutende Literaturerschei-
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Kleinere Mitthoilungen, Referate, Literaturnotizon.
nung hinzuweisen, auch wenn sich der Arbeitsplan des Verf.’s nicht mit solcher
Hingebung, Vorliebe und Unermüdlichkeit auf das medicinische Theilgebiet des
Gegenstandes bezöge, wie es thatsächlich der Fall ist. Bei jedem kleineren und
grösseren Abschnitt des klassischen Handbuches wird dem Leser die Gewissheit
einleuchtender: „So und zwar ausschliesslich auf diese Weise, indem jedes
Glied in der Kette jener Erscheinungen, wie das complicirte Parasitenleben sie
darbietet, in ursprünglichster und bedächtigster Gestaltung aasgearbeitet wird,
kann der Mediciner mit Nutzen in diese noch vor Kurzem so chaotisch daliegende
Materie eingeweiht werden“. — Die soeben erschienene Lieferung beschäftigt
sich mit der Entwicklung der Cercarien und Distomen, wobei hinsichtlich der
Arten der letzteren eine Vollständigkeit der Uebersicht erreicht wird, wie nie¬
mals vordem. D. clavatum, crassum, conjunctum, echinatum, endemicum, endo-
lobum, filiferum, heterophyes, japonicum, innocuum, lanceolatum, macrostomum,
ophthalmobium, ovocaudatum, pulmonale; — D. Ringeri, Rathonisi etc. finden
sich nach Bedarf — die meisten in mehreren Entwicklungstadien oder Lagen —
abgebildet; das D. hepaticum, als wichtigster Repräsentant dieses entomologi-
schen Kapitels, nicht weniger als 65 Male bildlich dargestellt. Die Statistik der
durch dieses Entozoon inficirten Thiere, die Infectionsweise beim Menschen er¬
fahren dieselbe Sorgfalt in der Behandlung wie jedes Stadium der hochinter¬
essanten Entwicklungsgeschichte. Hoffen wir, dass diese, wie jede folgende Lie¬
ferung dem Werke und seinem Gegenstände neue zahlreiche Freunde unter den
Aerzten zuführt.
P. Gibier giebt in den Comptes rendus (1889, No.14.) eine Fortsetzung
seiner Untersuchungen über die Lebensfähigkeit der Trichina spiralis,
denen zufolge er als festgestellt ansiebt, dass die letztere im eingekapselten Zu¬
stande ihre Vitalität noch behält, wenn man sie innerhalb - frischen Muskel¬
fleisches einer Kälte von —25° für die Dauer von 2 Stunden aussetzt.
.ch.
las Schicksal der pathogenen frganismen in todten Körper. Von Dr. E. v. Es-
march. Zeitschrift f. Hygiene. 7. Bd. S. 1.
Verfasser impfte Thiere mit Organtheilen und, wenn die Organe durch wei¬
ter vorgeschrittene Fäulniss bereits zerstört waren, mit dem verflüssigten KÖrper-
höhleninbalt von in Wasser, an der Luft oder in verschiedener Tiefe der Erde
während verschieden langer Zeit gewesenen Thiercadavern. Da letztere durch
Infection gesunder Thiere mit Reinculturen gewonnen waren, konnte die Lebens¬
dauer und die Dauer der Virulenz der qu. Bakterien in den betr. Cadavern un¬
schwer festgestellt werden.
Es ergab sich u. A. Folgendes: Mäusesepticaemiebacill en. zeigten
eine hohe Abhängigkeit von den Fäulnissbedingungen, denen die Cadaver aus¬
gesetzt gewesen, ln Mäuseleichen, welche in der Erde langsam vermodert waren,
behielten sie ihre Virulenz mehr als 90 Tage lang, während sie dieselbe in
Wasserleichen um Vieles früher verloren hatten. Ebenso erwiesen sich die Bak¬
terien des Schweinerothlaufs aus einem 88 Tago lang in 3 m Tiefe unter
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Kleinere Mittheilungen. Referate, Literaturnotizen.
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der Erde gelegenen Mausecadaver völlig virulent. Dies war bei Milzbrand¬
bacillen nur in einem Falle noch am 18. Tage nach dem Tode des Wirthes der
Fall, während sie in der Regel früher zu Grunde zu gehen scheinen, ebenfalls
um so früher, je frühzeitiger und intensiver die Fäulniss von Statten geht. In
der die Cadavor umgebenden Sand- oder Erdschicht, die mit Cadaverabgängen
dicht durchsetzt war, wurden virulente Milzbrandbacillen niemals gefunden. Aus
Cadavern, die in Wasser gelegon hatten, waren sie bereits am 5. Tage ver¬
schwunden. In einem Cadaver, welcher 79 Tage an der Luft gefault hatte,
fand sich keine einzige Bakterienart lebend vor, die unter gewöhnlichen Bedin¬
gungen zum Weiterwachsen geeignet war. Dagegen fanden sich in diesem Falle
einige Anaeroben vor. Anders, wenn in den Cadavern die Milzbrandbakterien
nicht in Form von Bacillen, sondorn als Sporen sich vor finden, ein Fall, der nur
denkbar ist, wenn der Cadaver vor dem Verscharrt werden einige Tage an der
Luft gefault hat. Wurden nämlich Milzbrandsporen an Seidenfäden in die Bauch¬
höhle vonMäusecadavem versenkt, und die letzteren in Gläser mit sterilem Sande
eingegraben und unter zeitweiser Befeuchtung mit Wasser in den Brütscbrank
gesetzt, so erwiesen sioh die 18 Tage nachher vorgenommenen Impfungen er¬
folgreich. Die betr. Mäuse gingen an Milzbrand zu Grunde.
Tetragenus fand sich in der Leiche einer am 13. Juli daran gestorbenen
Maus, die 84 Tage gemodert, nicht mehr vor. Die Bacillen des malignen
Oedems erwiesen sich noch 163 Tage nach dem Tode ihres Wirthes virulent.
Tuberkelbacillen hatten ihre Virulenz in einem Falle bereits am 204. Tage
eingebüsst, Tetanusbacillen am 35. Tage, die Bakterien der Cholera
asiatica am 21.Tage. Typhusbakterien wurden wegen des Mangels charakte¬
ristischer Culturen nicht in die Reihe der Versuche aufgenommen. —
Jedenfalls ist anzunehmen, dass die meisten der pathogenen Bakterien bald
nach dem Tode ihres Wirthes sich nicht mehr weiterentwickoln, und dass sie um
so früher zu Grunde gehen, je günstiger die Bedingungen für rasche und inten¬
sive Fäulniss im Einzelfalle sind. Flatten (Cöln).
Nach Neisser (Congress der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zu
Prag, 6.—12. Juni 1888. Münchener med. Wochenschr. No. 28. 1889) muss
die Frage, ob der Gonococcus als Virus der Gonorrhoe aufzufassen sei, nach
dem jetzigen Stande unserer Erfahrungen unbedingt mit Ja beantwortet werden.
Urethritiden, die durch mechanische oder chronische Reizungen, durch die
Einwirkung anderer Mikroorganismen erzeugt sind, unterscheiden sich, abgesehen
von ihrer Seltenheit, durch den klinischen Verlauf. Wenn bei der Gonorrhoe an¬
dere Organismen neben dem Gonococcus auftreten, was nicht sehr häufig ist. so
handelt es sich um eine MischafTection. Die von Lustgarten und Mannaberg
gefundenen. in der gesunden männlichen Harnröhre vegetirenden Diplokokken
unterscheiden sich dadurch vom Gonococcus, dass sie auf dem üblichen Nähr¬
boden gedeihen, der Gonococcus nur auf Blutserum. DifTerentialdiagno-
stisch ist derselbe bei Balanitis, in einzelnen forensischen Fällen, bei der
Urethritis und dem Cat. cervic. der Weiber, insbesondere für die Untersuchung
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Kleinere Mitteilungen, Referate, Literaturnotizen.
der Prostiluirten von grossem Werthe. (In Breslau werden s&mmtliche Prostituirte
auf Gonokokken untersucht.) Elbg.
Bi« Beitrag »■ Nachweise 4er Ctaekekkea. Von J. Schütz. (Frankfurt a. M.)
Münchener medic. Wochenschr. 1889. April 2. S. 235.
Verf. empfiehlt zur isolirten Färbung der Gonokokken folgende Methode.
Die nach der gewöhnlichen Weise vorbereiteten Deckglastrocken-Präparate gelan¬
gen für 5—10 Minuten in eine kalte, filtrirte, gesättigte Lösung von Methylen¬
blau in 5proc. Carbolwasser. Naoh Abspülung der Präparate taucht man sie
einen Moment (so lange es dauert, als man langsam 1, 2, 3 zählt) in Essigsäure¬
wasser (5 Tropfen Acid. acet. dilut. auf 20 ccm Aq. dest.) und lässt sofort eine
nochmaligejAbspülung in Wasser folgen. In derart gefärbten Präparaten sind nur
die Gonokokken bl&u geblieben; man kann sie alsdann mit einer sehr verdünn¬
ten, wässrigen Safraninlösung naoh ganz kurzer Einwirkung unterfärben.
Die Färbung eignet sich auch zu Dauerpräparaten in Kanadabalsam. Elbg.
Ueber den Einfluss von Kochsalz auf das Leben und Absterben von
Bakterien veröffentlichte Förster in der Nederl.Tijdschr. voorGeneesk. (IINo.8)
interessante Versuche. Aprioristisch neigt die allgemeine Meinung dahin, dass
das Fäulniss verhindernde Kochsalz der Entwickelung sämmtlicher oder doch
vieler Mikrobenarten hinderlich sein müsse. Wäre diese Annahme richtig, dann
brauchte man bei gesalzenem oder geräuchertem Fleische nicht so vorsichtig zu
sein wie bei frischem. Man könnte beispielshalber zur Bereitung von Pökel- oder
Rauchfleisch ganz gut Fleisch von etwa perlsüchtigen Thieren verwenden, ohne
befürchten zu müssen, durch den Genuss des Fleisches krank zu werden. Um zu
einem brauchbaren Ergebniss in dieser Hinsicht zu gelangen, wurden gewisse auf
festem Nährboden entwickelte Bakterienculturen mit gewöhnlichen Kochsalzlösun¬
gen behandelt, bis ein Sättigungsgrad erreicht war. Nun zeigte sich's, dass die
Einwirkung des Kochsalz auf die verschiedenen Baklerienarten sehr ungleich war.
Während die Cholerabacillen sehr bald zu Grunde gingen, wider¬
standen die Typbusbacillen und die Pilze der sogenannten Schweineseuche viele
Monate hindurch. Auch der Tuberkelbacillus zeigte eine ausserordentlich
hohe Widerstandsfähigkeit gegen die Kochsalzeinwirkung, so dass also durch
das Einsalzen oder Einpökeln von perlsüchtigem Fleisch die Gefahr einer Ueber-
tragung der mit derTuberculose identischen Perlsucht auf den Menschen nicht
ausgeschlossen ist. Ob durch das Räuchern oder Trocknen des Fleisches gewisse
Pilze oder Bakterien endgültig unschädlich gemacht werden können, darüber will
der genannte Forscher erst weitere Versuche anstellen. .ch.
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Kleinere Mittbeilungen, Referate, Literaturnotizen.
203
X
Eiperimea teile Beiträge in Iafeetiesität der Milch taherealeser Bähe. Aus dem
patholog. Institut zu München. Von Dr. Karl Hirschberger. Deutsches
Arohiv f. klin. Medioin. 44. Bd. 5.—6. Heft. 1889. S. 500.
Verf. ist auf Grund sehr zahlreicher Versuche zu dem Resultate gekommen,
dass die Gefahr der Infection durch die Milch perlsüchtiger Kühe
nicht nur vorhanden, sondern offenbar eine sehr grosse ist.
Betreffs der Frage, bei welchen Formen und Graden der Perlsucht
die Milch infectiöse Eigenschaft hat, lautet die Antwort dahin, dass Letzteres
der Fall ist, wenn die Tuberculose bei der Kuh generalisirt oder das
Euter selbst erkrankt ist.
Bei tnberculösen Kühen mit sehr sohlechtem Ernährungszustand
scheint die Milch gewöhnlioh infectiös zu sein, während bei gutem Ernäh¬
rungszustände die Infeotiosität nur in ca. 30 pCt. vorhanden ist.
Das Alter der Kühe hat insofern einen indirecten Einfluss auf die Gefähr¬
lichkeit der Milch, als mit zunehmendem Alter die Kühe relativ häufiger perl-
süchtig sind. Die Möglichkeit einer Infection durch die Milch einer luberculösen
Kuh wird um so wahrscheinlicher, je ausgebreiteter die Tuberculose bei dersel¬
ben ist and je schlechter der Ernährungszustand ist, besonders bei miterkrank¬
tem Eater.
Dass gekochte Milch unschädlich ist, hat man daroh Versuche dar-
gethan.
Uebrigens glaubt Verf. nicht, dass etwa jeder Mensch, der eine den Mikro¬
organismus der Tuberculose enthaltende Milch genossen hat, nothwendig inficirt
werden müsse, jedenfalls muss die Möglichkeit zugegeben werden. Ausschlag¬
gebend für den einzelnen Fall ist einerseits die individuelle Disposition, anderer¬
seits die Menge und Energie der eingeführten Keime. Verdünnte Milch erwies
sich bei Verdünnungen von 1:40, 1:50 etc. wirkungslos.
Was die mit der Milch in den Darmcanal eingeführten Tuberkelbacillen
betrifft, so dürfte wohl der grösste Theil derselben durch einen normalen Magen-
und Darmsaft unschädlich gemacht werden. Ob dies auch für die Sporen zu¬
trifft, ist mindestens zweifelhaft. Ein Theil derselben passirt vielleicht den
Darmcanal und wird mit den Faeces wieder ausgeschieden. Ein anderer Theil
dürfte gelegentlich resorbirt werden und gelangt dann zunächst in die Chylus-
und Lympbgefässe. Da nun bekanntlich die Tuberkelsporen längere Zeit, d. h.
2—3 Wochen brauchen, um sich za Bacillen auszubilden und vor dieser Um¬
wandlung nur als kleinste Fremdkörper wirken, so kommt Alles darauf an, ob
sie vor dieser Zeit wieder aus dem Organismus (duroh die Nieren etc.) ausge¬
schieden werden.
Bei einem gut functionirenden Lymphgefäss- und Lymphdrüsensystem wer¬
den sie aber jedenfalls rascher transportirt, als wenn dasselbe auf hereditärer
Grundlage im Allgemeinen oder durch andere Ursachen local geschädigt ist.
Dann können die Keime z. B. in irgend einer Lymphdrüse liegen bleiben und
Zeit finden, sich zu Bacillen aaszubilden — und von hier aus kann dann die In¬
fection des ganzen Organismus stattfinden. Elbg.
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204
Kleinere MittheilungeD, Referate, Literaturnotizen.
Besinfecti** tm Bücher*. Ein sehr empfehlenswertes Verfahren wendet
nach einer Mittheilung in dem Sanitary Record Mac Lauchlan, der erste Bi¬
bliothekar der öffentlichen Bibliothek von Dundee (Schottland), an, um der Ge¬
fahr einer Uebertragung ansteckender Krankheiten durch Bücher, welche aus
inficirten Stadttheilen zurückkommen, vorzubougen. Sobald der Bibliothekar
Kenntniss erhält, dass in einem Stadtteile ansteckende Krankheiten herrschen,
lässt er diejenigen Bewohner, welche Bücher in Händen haben, auffordern, diese
bis auf weitere Benachrichtigung zurückzubehalten. Nach dem Erlöschen der
Epidemie werden sodann die wieder eingelieferten Bücher einer gründlichen Des-
infection unterworfen. Der dazu benutzte Apparat besteht aus einem aus Weiss¬
blech hergestellten Schranke, welcher von oben geöffnet werden kann, in der
Mitte durch ein Drahtgitter abgetheilt ist und am Boden eine kleine Thüre
enthält.
Die Bücher werden mit dem Rücken nach oben und mit dem freien Rande,
soweit als möglich geöffnet, auf das Drahtgitter aufgestellt, der Deckel ge¬
schlossen, und durch die Thüre am Boden brennender Schwefel eingeführt. Die
etwa in den Büchern vorhandenen Krankheitskeime sollen nach wenigen Minu¬
ten durch die zwischen die Blätter eindringenden Schwefeldämpfe unschädlich
gemacht werden. Ebertz-Weilburg.
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1Y. Amtliche Verfügungen.
Erlass des Königliohen Ministers der etc. Medioinal-Angelegenheiten, Kurse
über Gesundheitspflege und Heilgymnastik für Seminar-Turnlehrer betreffend.
Berlin, den 22. December 1888.
Durch §28 der Lehrordnung und des Lehrplanes für die Königlichen Schul¬
lehrer-Seminare vom 15. October 1872 ist angeordnet worden, dass die zweite
und dritte Klasse des Seminars wöchentlich je zwei, die erste Klasse aber eine
Stunde praktisches Turnen haben, und letztere daneben die nöthigen Belehrungen
über den Bau und das Leben des menschlichen Körpers, über die ersten noth-
wendigen Hülfsleistungen in Fällen von Körperverletzungen, über die geschicht¬
liche Entwickelung des Turnwesens, über Zweck, Einrichtung und Betrieb des
Turnens, sowie über die Einrichtung von Turnplätzen und Turngeräthen für
Elementarschulen erhalten soll.
Zu meiner Genugthung wird diesem Unterricht in den meisten Seminaren
die erforderliche Sorgfalt zugewendet, und es sind die Seminar-Turnlehrer durch
ihre Ausbildung in der hiesigen Turnlehrer-Bildungsanstalt auch fast ausnahms¬
los zur erfolgreichen Ertheilung desselben im Stande.
Die Gesundheitspflege bat indessen während der letzten Jahre so erhebliche
Fortschritte gemacht, und es ist ausserdem die Bedeutung der Sache in immer
weiteren Kreisen derart zur Anerkennung gekommen, dass dadurch auch den
Seminaren eine noch erhöhte Beachtung der in Betracht kommenden Unterriohts-
gegenstände auferlegt wird.
Das Königliche Provinzial-Sohulcollegium veranlasse ich deshalb, die Se¬
minar Directoren hierauf noch besonders aufmerksam zu machen.
Gleichzeitig halte ich es für geboten, dass nicht nur denjenigen Seminar-
Turnlehrern, welche die zur Ertheilung jenes Unterrichts ausreichende Vorbildung
überhaupt noch nicht erhalten haben, baldmöglichst Gelegenheit gegeben werde,
solche zu erlangen, sondern dass auch ältere Turnlehrer, welche mit den Fort¬
schritten der Gesundheitspflege und Heilgymnastik der letzten Jahrzehnte nicht
mehr bekannt geworden sind, in die Lage kommen, das Versäumte nacbholen zu
können.
Ich beabsichtige daher, zu diesem Zwecke hier besondere, etwa zwei- bis
vierwöcbentliche Kurse einzuriohten, und veranlasse das Königliche Provinzial-
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206
Amtliche Verfügungen.
Schulcollegium, wegen Einberufung von Seminar-Turnlehrern zu denselben mir
baldigst Vorschläge zu machen.
v. Gossler.
An sämmtliche Königliche Provinzial-Schulcollegien.
Oiroul&r-Brl&ss des Ministers des Innern vom 15. April 1889 an s&mmtliohe
Eönigl. Regierungspräsidenten etc., betreffend Bekämpfung der Verbreitung
der Sohwindsucht in Strafgefangenen- und Besserungsanstalten.
Euer pp. übersende ich anbei Abschrift eines Gutachtens der wissenschaft¬
lichen Deputation für das Modicinalwesen vom 13. März d. J., betreffend die Be¬
kämpfung der Verbreitung der Schwindsucht in öffentlichen Anstalten, mit dem
ergebensten Ersuchen, das darin bezeichnete Verfahren in den Strafgefan¬
genen- und Besserungsanstalten des dortigen Bezirks, mit den durch die localen
Verhältnisse bedingten Massgaben anwenden zu lassen.
Gutachten:
Gemäss dem hohen Erlass vom 15. Februar er. verfehlt die Unterzeichnete
wissenschaftliche Deputation nicht, über die in dem Bericht des Polizeipräsidenten
vom 24. Jannar er. vorgetragenen Vorschläge zur Bekämpfung der Verbreitung
von Sohwindsucht in Gefängnissen nachstehend sich gutachtlich zu äussern.
Nach den bisher geltenden Anordnungen sollen die Spuckgläser der mit
Sohwindsuoht behafteten Gefangenen mit einer Auflösung von Sublimat oder
Garbolsäure gefüllt und die Spucknäpfe in den Krankenzimmern häufig mit rei¬
nem Sand versehen werden, dem Carbol beigemischt ist.
Der Bericht des Polizeipräsidenten hebt mit vollem Recht hervor, dass diese
Bestimmungen eine zeitgemässe Aenderung erheischen. Denn sowohl Sublimat
wie Carbolsäure sind giftige Substanzen; deren Aufstellung gerade in Gefäng¬
nissen erheblichen Bedenken unterliegen muss. Ueberdies ist die Wirksamkeit
beider Substanzen, um Tuberkelbacillen unschädlich zu machen und damit deren
Uebertragung auf gesunde Gefangene zu verhindern, eine unsichere. Endlich
haben die im hygienischen Institut hierselbst unter Leitung von Geheimrath
Koch angestellten Untersuchungen zu dem Ergebniss geführt, dass für die Ueber¬
tragung der Tuberkelbacillen auf Gesunde nur der getrocknete Auswurf gefähr¬
lich ist, indem derselbe fein verstäubt der Athmungsluft zugeführt und dnreh
dieselbe im gesunden Körper aufgenommen werden kann.
Hiernach erscheint die Desinfection des Auswurfs durch chemisohe Stoffe
weder erforderlich noch räthlich. Vielmehr ist dafür Sorge zu tragen, dass der
Auswurf sich nicht getrocknet der Luft beimischen kann. Zu diesem Zwecke ist
zu verhindern, dass der Auswurf des Brustkranken auf Fussboden, Wände, Wäsche
oder in Taschentücher entleert wird, er soll vielmehr in Spuckgläser gesammelt
und diese häufig entleert und mit kochendem Wasser gereinigt werden.
Auf diese Tbatsache und Deduction stützt sich der Seite 6 des Berichts
formulirte Antrag: die Verwendung des Sublimats für deu in Rede stehenden
Zweck ganz zu untersagen.
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Amtliche Verfügungen.
207
Wir schliessen uns diesem Anträge als vollkommen begründet an and haben
zu den angeschlossenen Vorschlägen zur Verhütung der Verbreitung der Schwind¬
sucht in Gefängnissen Folgendes zu bemerken:
1. Der Auswurf soll weder in Taschentücher noch in dem Aufenthaltsraum,
sondern in die überall aufzustellenden Spuoknäpfe entleert werden, welche letz¬
tere etwas Wasser enthalten.
Wir stimmen dieser Vorschrift durchaus bei und halten es auch für sehr
zweckmässig, wenn, wie es rorgeschlagen ist. alle Strafgefangenen, welohe
husten, an diese Art des Auswerfens gewöhnt werden.
2 . Alle Zellen, in welchen hustende Gefangene untergebraclit waren, sollen
bei etwaigem Wechsel der Insassen sorgfältig gereinigt und naoh deD bestehenden
Vorschriften sorgfältig desinficirt werden.
Diese Bestimmung dürfte auf die Zellen solcher Insassen zu beschränken
sein, welche nach dem ärztliohen Urtheile an der Tuberculose erkrankt, oder der¬
selben verdächtig waren.
3. Die Anschaffung eines geeigneten Desinfectionsapparates für die Straf¬
anstalten ergiebt sich als nothwendige Folge.
4. Gefangene, welche nach ärztlicher Feststellung tuberculös erkrankt sind,
welche aber noch arbeiten können, sollen bei der Anfertigung von Gebrauchs*
gegenständen soweit thunlioh nicht beschäftigt und von den gesunden Gefangenen
möglichst ferngehalten werden.
Auch diesen Vorschlägen sohliessen wir uns an.
Berlin, den 13. März 1889.
Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen.
Verfügung, betreffend die Einholung und Bezahlung der Gutaohten der Medl*
cinalbeamten bei der Prüfung von an Begr&bnisapl&taen bestimmten Grund*
stüoken, vom 10. September 1889. (Uin.*Bl. f. d. ges. i. Verw. 8.163).
Anf den gefälligen Bericht vom 14. Juni d. J. erwidern wir Ew. etc. er*
gebenst. dass wir die in demselben dargelegten Ansichten nur für zutreffend
erachten können.
Bei der Prüfung der zn öffentlichen Begräbnissplätzen bestimmten Grand-
Stücke zu dem Zwecke, um die Entscheidung über die erforderliohe Genehmigung
der Aufsichtsbehörden vorzubereiten, wird die Thätigkeit der Medicinalbeamten
in erster Linie nicht für Interessen in Ansprach genommen, deren Befriedigung
den Gemeinden gesetzlich obliegt. Diese Prüfung gebt vielmehr über die ört¬
lichen Interessen hinaus und betrifft hauptsächlich allgemeine landespolizeiliche
Interessen, so dass es Sache der staatlichen Verwaltungsbehörden ist, das Gat¬
achten des Kreisphysikns za erfordern, und die Zahlung der hierfür erwachsenden
Kosten ans der Staatskasse sich rechtfertigt.
Ew. etc. ersuchen wir ergebenst, gefälligst der Ober-Rechnungs-Kammor
unter Bezug auf die in der Ministerialinstanz geltende Auffassung zu antworten.
Berlin, den 10. September 1889.
Der Minister der geistl. etc. Angelegenh. Der Minister des Innern.
I. V.: Nasse. I. V.: v. Zastrow.
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208
Amtliche Verfügungen.
Erlass der Minister des Innern (gez. Herfurth) II No. 12101, der eto Medi-
cinalangelegenheiten (gez. i. A.: Löwenberg) M. No. 8542 und der Justiz
(gez. i. V.: Nebe-Pflugstädt) I No. 3431 vom 11. October 1889 an alle
Königl. Regierungspräsidenten, betreffend Berechtigung der Chef-Aerete der
Militärlazarethe zur Ausstellung von Leichenpässen.
In den Circular-Erlassen vom 6. April 1888. vom 23. December und
29. December desselben Jahres ist bestimmt worden, dass nur ein beamteter Arzt,
d. h. ein Kreisphysikus, die zu einem Leichenpasse erforderliche Bescheinigung
über die Todesursache, sowie darüber auszustellen berechtigt ist, dass seiner
Ueberzeugung nach der Beförderung der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht
entgegenstehen. Diese Bestimmung erweitern wir dahin, dass auch den Chef¬
ärzten der Militär-Lazarefhe hinsichtlich der in letzteren verstorbenen Personen
die Befugniss zur Ausstellung der gedachten Bescheinigungen in gleicher Weise
zusteht, wie den Kreisphysikern auf Grund der No. 2 des Circular-Erlasses vom
6. April 1888.
Ew. Hochwohlgeboren ersuchen wir ergebenst, die in Betracht kommenden
Behörden hiervon gefälligst in Kenntniss zu setzen und wegen der Veröffentlichung
dieses Erlasses durch das dortige Amtsblatt das Erforderliche zu verfügen.
Bekanntmachung, betreffend die Prüfung der Apotheker.
Auf Grund der Bestimmungen im § 29 der Gewerbeordnung für das Deutsche
Reich hat der Bundesrath beschlossen, wie folgt:
Die Bekanntmachung vom 5 März 1875, betreffend die Prüfung der Apo¬
theker (Central-Bl. S. 167) erhält hinter § 17 folgenden Zusatz:
§ 17a. Die Prüfung darf nur bei der Commission fortgesetzt oder wieder¬
holt werden, bei welcher sie begonnen ist. Ausnahmen können nur aus beson¬
deren Gründen gestattet werden.
Die mit dem Zulassungsgesuch eingereichten Zeugnisse (§ 4, Abs. 3) sind
dem Kandidaten erst nach bestandener Gesammtprüfur.g zurückzugebon. Ver¬
langt er sie früher zurück, so sind vor der Rückgabe sämmtliche Behörden (§ 1)
durch Vermittelung des Reichskanzlers zu benachrichtigen, dass der Kandidat
die Prüfung begonnen, aber nicht beendet hat, und dass ihm auf seinen Antrag
die Zeugnisse zurückgegeben worden sind. In die Urschrift des letzten Univer¬
sitäts-Abgangszeugnisses ist ein Vermerk über den Ausfall der bisherigen Prüfung
einzutragen.
Berlin, den 6. Juli 1889.
Der Reichskanzler.
In Vertretung: v. Boetticher.
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Gedruckt bei L. 8chumacher ln Berlin.
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I. Gerichtliche Medicin.
l.
Superarbitrium
der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen
vom 20. November 1889,
betreffend Kindesmord.
(Erster Referent: Skneeske.)
Ew. Excellenz beehrt sich die gohorsamst Unterzeichnete Wissen¬
schaftliche Deputation unter Wiederanschluss der Anlagen und Acten
das von ihr in der Untersuchungssache gegen die Wittwe H. F. zu
Z. wegen Mordes auf Ersuchen des Königlichen Landgerichts II zu B.
von ihr durch hohe ßr. ra. Verfügung vom 31. October d. J. er¬
forderte Obergutachten im Nachstehenden ehrerbietigst zu erstatten.
Geschieh tserzählung.
Die geisteskranke und in hohem Grade schwachsinnige unverehelichte E. F.
' Lebensalter nicht festgestellt), welche schon vor einigen Jahren einmal geboren
hatte, ist an einem nicht sicher bestimmten Tage, aber wahrscheinlich am
.‘3. oder 4. October v. Js., in der Wohnung ihrer Mutter, der angeklagten Wittwe
F. zu Z.. wiederum niedergekommen: Letztere hatte die von mehreren Personen
bemerkte Schwangerschaft ihrer Tochter stets in Abrede gestellt und leugnete
längere Zeit auch jede Kenntniss von der Niederkunft ihrer Tochter ab, gestand
aber schliesslich (131. 17) ein, dass dieselbe geboren habe und dass von ihr, der
Angeklagten, die Leiche des Kindes beseitigt sei, behauptete aber letztere erst
am 1 1. October v. Js. im Bette ihrer Tochter beim Ordnen desselben zufällig ge¬
funden zu haben und blieb auch später bei der Behauptung, sie wisse nicht,
wann ihre Tochter geboren habe, ob das Kind lebend zur Welt gekommen und
welches eventuell die Ursache seines Todes gewesen sei, weil sie in den dem Auf-
V i<*rte IJah rat? hr. f. ger. Med. N. F. L1I 2
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14
Original fro-m
UNIVERSUM OF IOWA
210 Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation.
finden der Kindesleiche vorangegangenen 8 Tagen sehr viel zu thun gehabt habe
und den ganzen Tag über von Hause entfernt gewesen sei. Mannigfache, die
Angeklagte belastende Momente übergehen wir hier als für unser technisches
Gutachten unerheblich. — Die E. F. ist zweimal und zwar derart vernommen
worden, dass ihr be-timmte Fragen zur Beantwortung vorgelegt wurden. Fol¬
gende Fragen und Antworten beziehen sich mehr oder weniger auf die Todesart
des Kindes:
(Vernehmung vom 10. October v. J. Bl. 89 fT.)
Wer hat denn das Kind weggenommen?
Mutter hat es in den Schmortopf eingepackt.
Hat denn das Kind geschrieen? Wer hat es aus dem Bett genommen?
Das weiss ich auch nicht mehr. Mutter haut nicht mehr. Sie sagt, sie
haben es ihr schon geholt.
Hat Mutter das Kind geschlagen?
Ich weiss gar nichts davon. Ich habe nichts gesehen.
Hat Mutter Asche darauf gemacht?
Ja, Asche hat sie darauf gemacht.
(Vernehmung vom 7. November v. J. Bl. 99.)
Hat denn Dein letztes Kind gelebt?
Ja, es hat geschrieen wie ein Hund oder wie ein Vogel.
Hat Deine Mutter das Kind gegen die Wand oder gegen den Tisch ge¬
schlagen?
Sie hat das Kind gegen den Tisch geschlagen, dass das Blut 'rum¬
spritzte und hat’s dann in den Schmortopf gepackt.
Die Leiche des Kindes wurde den Angaben der Angeklagten gemäss hinter
einer Scheune, wo sie es ihrer Aussage nach „eingebnddelt“ hatte (Bl. 17 v.).
gefunden und zwar „in einem umgewandten eisernen Topf, dessen Rückseite (?)
mit Roggenkaff und einem Pantinen bedeckt war“ (Bl. 18).
Die am 16. October v. Js. ausgeführte gerichtliche Obduction
der Kindesleiche ergab folgende für unser Gutachten erhebliche Be¬
funde (Bl. 23 ff.):
Aeussere Spuren einer Verletzung sind an der ganzen Leiche nicht vor¬
handen (20). Die natürlichen Oeffnungen sind frei von fremden Körpern (21).
Die weichen Schädelbedeckungen sind an der Stirn unverletzt (63). Ueber beiden
Scheitelbeinen, namentlich aber nach links gewahrt man zahlreiche dunkle Blut¬
ergüsse, die ein dickliches Gefüge haben. Die grösste Flächenausdehnung ist
rundlich und hat einen Durchmesser von 2 mm; 3 mm beträgt die grösste Dicke
der Blutaustrelung. Die Blutaustritte reichen zum Theil bis in die Knochenhaut.
Zwischen den Blutergüssen ist das Gewebe geröthet (64).
Auch über dem Hinterhaupt, namentlich links, finden sich vielfache, insel¬
förmig zerstreute, meist rundliche Blutergüsse, deren grösster Durchmesser
1 1 / 2 mm beträgt (65).
Die Knochen der Schädeldecke sind massig durchscheinend, aber unver¬
letzt (66).
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betreffend Kindesmord.
211
Der obere Längsblutleiter enthält viel dunkles dickflüssiges Blut (67).
Die mit dem Schädeldach lose verwachsene harte Hirnhaut zeigt strotzend
mit dunklem Blut gefüllte Gefässe und linkerseits, entsprechend ungefähr der
Verbindung von Pfeil- und lfinterhauptsnalit, einige kleine, flache Blut¬
ergüsse (68).
Auch in die Maschen der weichen Hirnhaut der Convexiiät ist linkerseits
etwas Blut ergossen, und beiderseitig sind die Gefässe stark gefüllt (69).
Das Gehirn ist so weich, dass es nur innerhalb der Schädelhohle untersucht
werden kann, und auoh da bald zerfliesst (76). Es lässt sich nur feststellen,
dass die grosse Hirnrinde stark geröthet ist (71). Auch die Adergeflechte sind
stark gefüllt (72) und die obere Gofässplatte geröthet (73j. Die übrigen Hirn-
theile lassen sich nicht unterscheiden (74).
Die Blutleiter der Schädelgrunüflädie erscheinen siimmtlich stark gefüllt
i 75) und die harte Hirnhaut an der Schädelgrundfläche ist blutreich (76). Die
Knochen der Scbädelgrundflache sind unverletzt (77).
Die Obducenten, Kreisphysikus Professor Dr. F. und Kreiswund¬
arzt G., gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab:
1. Das Kind ist ein reifes, lebensfähiges.
*2. Es hat nach der Geburt gelebt.
3. Die verschiedenen Blutergüsse am und im Kopfe erklären
den Tod.
4. Auf Befragen: Diese Blutergüsse sind höchst wahrscheinlich
erst nach der Geburt entstanden und durch Einwirkung einer
stumpfen Gewalt erfolgt (Auffallen oder Stoss oder Schlag
mit einem stumpfen Körper).
Bei der ordnungsmässigen Quartalsrevision der Obductionsver-
handlungen aus der Provinz Brandenburg sah sich das Mcdicinal-
collegium betreffs dieser Obductionsverhandlung zu der Revisionsbe-
raerkung veranlasst, dass die Todesart nicht so apodictisoh in den
Vorgefundenen Blutergüssen hätte erblickt werden sollen und dass die
Beschreibung derselben weniger vermuthen lasse, dass sic, wie die
Obducenten angenommen hätten, wahrscheinlich erst nach der Geburt
und durch Einwirkung einer stumpfen Gewalt erfolgt seien, als viel¬
mehr, dass sie in Folge des Geburtsactes sich bildeten und nicht
durch Auffallen oder Schlag oder Stoss mit einem stumpfen Körper.
Das Medicinaicollegium beantragte die Mittheilung dieser Bemer¬
kungen an die Gerichtsbehörde (Bl. 181) und theilte zugleich in dem
vorgeschriebenen Wege dem Herrn Minister Abschrift derselben mit,
worauf sic zur Superrevision an die Wissenschaftliche Deputation ge¬
langten. Letztere trat in der gutachtlichen Aeusserung vom 13. Mär/
d. J. der Supcrrevisionsberaerkung des Medicinalcollegiums im Wesent-
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UNiVERSITV OF IOWA
212
SnperarVitrium der K. wissenschaftlichen Deputation.
liehen bei (Bl. 194), was gleichfalls der Gerichtsbehörde /,ur Kennt-
niss gebracht wurde.
Da das Medicinalcollcgium seine Bemerkung auch aufrecht erhielt,
nachdem ihm der mittlerweile von den Obducenten unter dem 12. De-
eember v. ,1s. erstattete und in seinem Schlüsse mit dem vorläußgcn
Gutachten übereinstimmende Obductionsberiehl mitgethcilt worden war,
wurde von der Staatsanwaltschaft ein Superarbitrium des Medicinal-
collegiums eingeholt, welches, unter dem 17. Mai d. Js. erstattet, zu
dem Schlüsse gelangte, dass 1) anzunehmen sei, dass der Tod des
Kindes infolge des Geburtsactes durch Blutüberfüllung der Schädel¬
höhle ertolgt sei, 2) dass nicht erwiesen sei, dass eine äussere Ge¬
walteinwirkung auf den Kopf stattgefunden habe (Bl. 197—204).
ln der Schwurgerichtsverhandlung vom 18. Oetober d. Js. wurde
sodann auf Antrag der Staatsanwaltschaft beschlossen, das Obergut¬
achten der Wissenschaftlichen Deputation für das Mediciualwesen über
die Frage cinzuholen,
ob nach dem vorliegenden Material anzunehmen ist, dass
eine äussere Gewalteinwirkung auf den Kopf des Kindes
stattgefunden hat,
oder ob diese Annahme durch den Befund ausgeschlossen
und anzunehmen sei, dass der Tod des Kindes in Folge
des Geburtsactes durch Blutüberfüllung der Schädelhöhle er¬
folgt sei (Bl. 242 v.).
Mit der Beantwortung dieser Fragen sind wir nunmehr beauf¬
tragt worden.
Gutachten.
Darüber, dass das Kind der E. F. ein reifes und lebensfähiges
war, sowie dass es lebend zur Welt gekommen ist, besteht unter den
Vorgutachten Uebereinstiramung und auch wir treten dem auf Grund
der zweifellosen Befunde bei.
Da die bei der Obduction der Kindesleiche nachgewiesene Blut¬
überfüllung der Gehirnhäute, Adergeflechte, Blutleiter der harten Hirn¬
haut und (so weit sich dies noch nach weisen Hess) anscheinend auch
des Gehirns selbst, zu welcher auch noch einige kleine Blutaus-
tretungen an der harten und weichen Hirnhaut hinzukommen, den
Tod des Kindes herbeizuführen als geeignet erachtet werden müssen
und Befunde nicht festgestellt sind, welche auf eine andere Todesart
hindeuten, ist diese Blutüberfüllung als Todesursache anzunehmen.
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UMIVERSITY OF IOWA
betreffend Kindesmord.
213
Nach Lage der äusseren Umstände wäre die Möglichkeit des Er¬
stickungstodes in Betracht zu ziehen, jedoch geben die Befunde keinerlei
Anhalt zur Annahme desselben.
Wir stimmen somit, was die unmittelbare Todesursache betrifft,
mit dem Gutachten des Medicinal-Collegiums völlig überein und müssen
auch seinen gegen die Ausführungen des Obductionsberichtes zu Ziffer 3
geltend gemachten Bedenken in vollem Maasse beitreten.
Es ist unrichtig, dass, wie die Cbducenten annehmen, die kleinen
Blutaustretungon unter der Kopfhaut und „einige kleine flache Blut¬
ergüsse* an der harten Hirnhaut nebst „etwas in die Maschen der
weichen Hirnhaut ergossenes Blut«, dass also „die Blutergüsse am
und im Kopfe« den Tod des Kindes erklären, vielmehr ist auf die
von den Obducenten nur nebensächlich berücksichtigte Blutüberfül¬
lung der vorbezeichneten Organe der Schädelhöhle das Hauptgewicht
zu legen.
Die Blutaustretungon unter der Kopfhaut kommen als Todes¬
ursache überhaupt nicht in Betracht, und es ist unverständlich, wie
in dem Obductionsbericht von schweren Gewebs-Veränderungen, bezw.
Trennungen, von umfangreichen Blutaustretungon über Scheitel und
Hinterhaupt gesprochen werden konnte, wenn letztere nur bis zu 2 mm
im Durchmesser und höchstens 3 mm in der Dicke maassen, sowie von
eben solchen zwischen den Hirnhäuten, während auch diese nach dem
Wortlaut des Obductionsprotokolls durchaus nicht umfangreich, son¬
dern recht unbedeutend waren. Auf eine Erschütterung und Quetschung
des Gehirns zu schliessen, geben die Befunde vollends keine Berechti¬
gung, da die weiche Beschaffenheit desselben nach seiner Beschrei¬
bung lediglich als Folge der Fäulniss anzusehon ist.
Was nun die Veranlassung der als Todesursache anzunehmenden
Blutüberfüllung der inneren Organe der Schädelhöhle betrifft, so
müssen wir auch hierin dem Obductionsbericht in Uebereinstimmung
mit dem Medicinal-Collegium entgegentreten.
Für diese Frage sind die Blutaustretungen an den Weichtheilen
des Schädels von eben so grosser Bedeutung, wie sie als Todesursache
von geringerer sind.
Derartige über die Scheitelbeine und das Hinterhauptbein zer¬
streute, wenn auch auf der einen Seite häufigere, kleine, kaum erbsen¬
grosse, runde, von einander abgegrenzte Blutaustretungen unter der
Kopfhaut können durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand gegen
den Kopf des Kindes, oder Gegenschlagen des letzteren gegen solche
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UNIVERSUM OF IOWA
214
Superarbitrinm der K. wissenschaftlichen Deputation,
Gegenstände, oder Sturz auf solche nicht hervorgebracht werden.
Ausserdem treten bei derartigen Einwirkungen, wenn sie mit einiger
Kraft stattfinden, meist mehr oder weniger erhebliche Verletzungen
der bei neugeborenen Kindern noch sehr dünnen Schädelknochen ein,
und bei gewaltsamer Tödtung eines Kindes in dieser Weise fehlen sie
erfahrungsgemäss fast niemals.
Wenn die E. F. die ihr vorgelegte Frage, ob ihre Mutter das
Kind gegen die Wand oder gegen den Tisch geschlagen habe, dahin
beantwortet hat, dass sie es gegen den Tisch geschlagen habe, dass
das Blut herumspritzte, so ist hierauf bei dem Geisteszustände der
ersteren und bei der Art und Weise, wie ihre Aussago zu Stande kam,
wohl kaum etwas zu geben. Was insbesondere ihre Angabe betrifft,
dass bei dem Schlage das Blut herumspritzte, so ist darauf hinzu¬
weisen, das Blut des Kindes nicht heruraspritzen konnte, weil eine
äussere Verletzung am Kopf wie am ganzen Körper desselben nicht
vorhanden war.
Dem gegenüber kann durch den Geburtshergang sowohl die Ueber-
füllung der Schädelorgane mit Blut, als auch der Austritt von Blut
innerhalb und ausserhalb der Schädelhöhle in der Menge und der
Form, wie es hier beobachtet worden ist, sehr wohl erzeugt sein. Die
hiergegen im Obductionsbericht gemachten Einwendungen entsprechen
nicht der Erfahrung, nach welcher auch bei Mehrgebärenden, ohno be¬
sondere unregelmässige Verhältnisse am Körper der Mutter oder des
Kindes oder erhebliche Unregelmässigkeiten bei dem Verlauf der Ge¬
burt durch den Druck der mütterlichen Geburtstheile auf den Kopf
des Kindes an letzterem Veränderungen, wie die hier Vorgefundenen,
hervorgebracht werden können.
Insbesondere kann als zutreffend nicht anerkannt werden, dass,
wenn die raehrerwähnten Blutaustretungen und Blutanhäufungen durch
den Geburtsakt zur Entstehung gelangt wären, das Kind todt oder
scheintodt hätte zur Welt gekommen sein müssen. Vielmehr ist es
keineswegs unmöglich oder auch nur sehr ungewöhnlich, dass unter
solchen Umständen ein Kind nach der Geburt noch in der Art athmet?
dass die Lungen die hier Vorgefundenen Veränderungen zeigen, und
dass es dann doch in Folge der Blutüberfüllung in den Organen der
Schädelhöhle stirbt.
Trotzdem nehmen wir Anstand mit der Bestimmtheit, wie es
Seitens des Medicinal-Collegiums geschehen ist, auszusprechen, dass
das Kind in Folge des Geburtaktes gestorben ist, weil der Beweis
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betreffend Kindesmord.
215
nicht geführt werden kann, dass die mehrgedachte Blutüberfüllung
lediglich Folge des Geburtsaktes gewesen ist, und beschränken uns
auf die Angabe, dass die Befunde einer Entstehung sowohl dor Blut¬
überfüllung der Schädelorgane, als auch der Blutaustretungen durch
den Geburtsakt vollständig entsprechen.
Indem wir mit Beziehung auf die Fassung der uns vorgelegten
Fragen noch besonders bemerken, dass hier dem Sinne derselben ge¬
mäss die Einwirkung, welche der Geburtsakt auf das Kind ausübt, als
eine „äussere Gewalteinwirkung“ nicht angesehen sein soll, geben wir
unser Gutachten folgendermassen ab:
1) Nach dem vorliegenden Material ist nicht anzunehmen,
dass eine äussere Gewalteinwirkung auf den Kopf des
Kindes stattgefunden hat.
2) Eine äussere Gewalteinwirkung auf den Kopf des Kindes,
wie sie durch Schlag oder Stoss mittelst eines harten
Gegenstandes oder Gegenschlagen gegen einen solchen oder
in ähnlicher Weise bewirkt werden kann, ist ausgeschlossen.
3) Die Befunde entsprechen der Annahme, dass der Tod des
Kindes in Folge des Geburtsaktes durch Blutüberfüllung
der Schädelhöhle eingetreten ist.
2 .
lieber pestMertale Blit-Yeräidernngen.
Von
Prof. Dr. F. Falk in Berlin.
Aus dem Thier-physiologischen Laboratorium des Herrn Prof. Zantz in der
Königl. Landwirtschaftlichen Hochschule zu Berlin.) 1 )
Bekanntlich rührt die Benennung der centrifugalen Gefässe „Ar¬
terien“ davon her, dass Anatomen ältester Zeit, wohl durch die Beob¬
achtung verleitet, dass diese Adern in den Leichen (sei es von Men¬
schen, sei es von geopferten Thieren) blutleer und, vermeintlich, nur
lufthaltig seien, annahmen, dass sie auch bei Lebzeiten bloss Luft,
') S. diese Vierteljahrsschrift. N. F, Bd. 50, Uoft 2, S. 274.
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UNIVERSITÄT OF IOWA
216
Falk,
ät/Q, enthielten. Diese Ansicht wurde zuerst von Praxagoras, dann
namentlich von Erasistratus vertheidigt; wie A. von Haller')
glaubt, mochte letzterer zu diesem Irrthumc dadurch gelangt sein, dass
durch die weissliche, dicke, bindegewebige (cellulosa) Wand der Ar¬
terien das Blut nicht so wie durch die der Venen hindurchschimmern
könne. Der Autorität des Erasistratus sind dann u. A. Cicero,
Aretäus, Rufus gefolgt. Dieser Irrlehre vom Luftgehalte der Ar¬
terien im Leben ist aber schon Galen in einer besonderen, treff¬
lichen Experimental-Arbeit 1 2 ) entgegengetreten. Im weiteren Verlaufe
musste nun schon jene, gleichsam grundlegende Beobachtung der post¬
mortalen Blutleere der Arterien eine gewisse Einschränkung sich ge¬
fallen lassen. Schon von Harvey und einigen seiner frühen Nach¬
folger ist wahrgenommen und hinreichend hervorgehoben worden, dass
die Arterien nach dem Tode Blut enthalten, nach Ansicht Mancher
fast immer oder gar constant (Pasta), nach Meinung Andrer nur
exceptionell (Morgagni); nach Einigen findet man das Blut gewöhn¬
lich nur in den grossen Arterien-Stämmen nahe dem Herzen, und da
wieder nach der Meinung Einiger (z. B. Lancisi) ausnahmslos;
Einige aber begegnen ihm auch in kleineren Schlagadern; Etliche, wie
u. a. Haller, der auch hierüber das Historische bringt, nicht minder in
den kleinsten arteriellen Gefässen, quas rubor contenti sanguinis solus
conspicuas reddit. Einige mochten beim Anstechen grosser Arterien
der Leiche das Blut sogar spritzen sehn. Die Einen wollten das
Blut in den Arterien von Leichen Erstickter, Trunkener (Harvey,
Haller, ßichat, Williams) und an malignen Fiebern Gestorbener^
(Wedemeyer) wahrgenommen haben. Dann fanden andre Autoren
z. B. beim Verblutungstode die Schlagadern in der Leiche sogar bis
zum Verschwinden des Lumens verengt, u. A. John Hunter die
Nabelschnur-Arterien. Einige haben den Grad der postmortalen Ver¬
engung der Schlagader-Lichtung gemessen und ihn hoch befunden
(H ewson), Andre (Treviranus) behaupten, dass die Entleerung
der Arterien nach dem Tode ohne nennenswerthe Lumen-Verminderung
vor sich gehe. Von Einigen, welche hier die Elasticität, nicht die
Contractilität der Arterienwand gelten lassen wollen, wird ferner
angegeben, dass die postmortale Entleerung erst nach Verlauf „einer
1 ) Vergl. A. v. Hai ler: Elemente physiologiae. 1777. Tom. I. Lib. III.
Sect. 1. § 1. pag. 195.
2 ) Elxarä <püoi\> iv dprr)p(at$ oifpa itepiiytTai. Edit Kühn. Tom.IV. pag. 703.
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UNIVERSUM OF IOWA
Uebar postmortale Blut Veränderungen.
217
geraumen Zeit-* (Wedemeyer) eintrete und nie bis zum gänzlichen
Verschwinden der Lichtung fortschreite.
Ich selbst habe nun ebenfalls im Laufe meiner forensisch-anato¬
mischen Thätigkeit im Verhältniss zu meinen ursprünglichen Erwar¬
tungen merklich oft Blut in Arterien der Leiche, und zwar in Schlag¬
adern verschiedenen Calibers angetroffen. Ich fand es dann in flüssigem,
andre Male, anscheinend seltener, in geronnenem Zustande; allerdings
stachen hier die dünnen, länglich-platten Coagula in den Arterien von
den dicken, massigen Pfropfen in den benachbarten Venen oft genug
deutlich ab, wie ich auch eine „strotzende“ Füllung der Arterien des
grossen Kreislaufes mit flüssigem Blute gewöhnlich vermisst habe.
Immer auch blieb die Blutfülle der Arterien, wie hinter deren intra¬
vitalen Füllung 1 ), so auch hinter der der entsprechenden Blutadern
zurück. Nur konnte ich bisher auf jenem empirischen Wege der
Sectionen menschlicher Cadaver zu keinem abschliessenden Urtheilc
zunächst schon über die Häufigkeit jenes Vorkommnisses im allgc-
gemeinen gelangen. Wenn die Angaben über die Frequenz des jeden¬
falls erwähnenswerthen Befundes, wie erwähnt, so differirend lauteten,
so ist hierbei die Abweichung in der Obductions-Technik der verschie¬
denen Autoren (z. B. der Eröffnung grosser Arterien voraufgehende
Unterbindung derselben oder Unterlassung dieser Procedur) gewiss von
Bedeutung. Es kommt aber darauf an, wie sich die Häufigkeit des
postmortalen Befundes von Blut in den Arterien bei constant gleicher
Technik eines und desselben Dissectors darstellt; ich wiederhole, ich
bin darüber noch nicht zu genügender Klarheit gelangt. Wie ich
weiterhin aus meinem bisherigen Materiale einen durchschlagenden
Einfluss endarteritischer Veränderung nicht herauslesen konnte, so bin
ich vor allem noch zu keiner stringenten Conclusion in Bezug auf die
Todesarten gekommen, die etwa für die Gestaltung des Befundes von
jener Bedeutung sein könnten, die eben manche Autoren haben formu-
liren wollen. Grade in der Annahme, dass das Vorhandensein oder
das Fehlen des Befundes möglicherweise praktisch-beachtenswerthe
Rückschlüsse auf Vorgänge vor dem Tode zulassen könnte, habe ich
geglaubt, mich dieser Frage auch mit einigen Thier-Versuchen zuwenden
zu dürfen. Selbstverständlich muss, wenn wir zu einer Erklärung
') Durchscbnittszahlen-Angaben für die Aorta s. bei F. Strassmann:
Die Todtenstarre am Herzen. Diese Vierteljahrsschrift Bd. 51. Heft 2. S. 310. —
Von der gefüllten Aorta heben sich meist schon die leeren Intercostal-Arterien ab.
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UMIVERSITY OF IOWA
218
Falk,
kommen wollen, warum bei der einen Section Blut, bei der andren
keins in den Arterien gefunden wird (bisher habe ich, auch wenn
mir die Vorgänge vor dem und im Sterben bekannt waren, vor der
Obduction nichts über den Befund in den Arterien vorherzusagen ge¬
wagt), von der Erklärung der Ursachen des als Norm zu betrachtenden
Befundes arterieller Blutleere der Leichen ausgegangeu werden. Ich
füge hier ein, wie es doch auch zur Norm gehört, dass eine intra
vitam bestandene arterielle Congestion an der Leiche geschwun¬
den ist.
Es sei mir nun zuvörderst eine etwas eingehende Vorführung der
verschiedenen im Laufe der Zeit geäusserten Theorieen gestattet. Ich
bemerke, dass bei den früheren Physiologen dieser Punkt öfters be¬
rührt wird, wenn sie die vielbehandelte, mitunter heftig bestrittene
Frage erörtern, ob den Arterien ausser der (physikalischen) Elastici-
tät auch eine (biologische) Contractilität zuzusprechen sei. Ich will
die Autoren lediglich nach ihrer Zeitfolge vorführen.
Eine Erklärung für die postmortale Leere der Schlagadern ver¬
suchte zunächst schon W. Harvey 1 ): »Die Lungen stehn still und
können das Blut von den Venen nicht aufnehmen, welches bei Fort¬
dauer der Herzthätigkeit in die Arterien und von dort weiter gepumpt
wird; stehn Lungen und Herz gleichzeitig still, wie bei Ertrunkenen
oder in Syncope und plötzlich Verstorbenen, so sind die Arterien
nach dem Tode in gleichem Grade mit Blut gefüllt wie die Venen.“
' A. v. Haller 2 ) äussert sich wörtlich: »Arteriae fere se contra-
hunt exsiccatione, pressione corporum incumbentium et frigoris vi et
attractione spontanea fibrarum cellulosarum, ex quibus componuntur.“
Parry 3 ) setzt auseinander, dass die Verengung der Arterien nach
dem Tode zwei Ursachen habe, den »Ton“ (us), der als ein vitales
Phänomen 1—2 Tage post mortem verschwindet, und die Elasticität
der Arterienwand. Ersterer kann das Lumen vollkommen verschwinden
machen. Wirkt nach dem Auftreten dos „Tons“ die Elasticität allein,
so wird die Arterie wieder weiter. Aus Hunter’s Treatise on the
blood werden die Experimente am Nabelstrang reproducirt, dessen Ar¬
terien, angeschnitten, den Inhalt gänzlich entleeren und nach kurzer
') Exercitatio anatomica altera de circulationo sanguinis. (Edit. 1737.
F. 135.)
2 ) Loc. citat. §11. pag. 197.
3 ) Ueber den arteriösen Puls, übers, von E. v. Embden. Hannover 1877.
S. 93.
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Ueber postmortale Blut-Veränderungen.
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Zeit zu festen Strängen werden. Die Blutleere der Arterien nach dem
Tode erklärt Parry wesentlich durch den „Ton“, welcher den Inhalt
entleere, der nun auch später, wenn die Arterien sich durch ihre Ela-
sticität erweitern, nicht zurückkehre.
Als Beweis für die Existenz rausculöser Kräfte auch in den grossen
Arterien (Carotis, Aorta abdominalis) galt Parry die ihm öfters ge¬
glückte Beobachtung, dass eine einzelne Stelle einer dieser Schlag¬
adern sich contrahiren kann, als läge eine unvollkommene Ligatur
darum, während die Arterie oberhalb und unterhalb weit bleibt.
Wedemeyer 1 ) meint, „dass die Erscheinung der Blutleere der
todten Arterien nicht hinlänglich erklärt ist und noch viel Dunkles
enthält.“ Sie ist ihm (wörtlich) „theils Produkt der grösseren Ela¬
sticität 2 ) der Arterien häute, die das Blut nach den weiteren Capillaren
und Venen treibt, theils im Gesetz der Schwere begründet, theils Ca-
pillar-Attraction, welche die Häute der Gefässe auf das in ihnen auf¬
gelöste Blut ausüben, Aufsaugung des Blutes durch die Wand, Transsu¬
dation und Evaporation des Blutwassers, theils vielleicht noch fort¬
wirkende vitale Anziehung des Blutes nach den Haargefässen. “
Allan Thomson 2 ) lässt dem entgegen die Blutleere der Ar¬
terien der Leichen lediglich eine Folge langsamer Zusammenziehung
des gesammten [weiten Arterien-Rohres durch Contractilität (tonic
power) der Schlagader-Wandung sein.
Job. Müller 4 ) widmet der Erscheinung folgende Erörterung:
„Die Blutleere der Arterien nach dem Tode rührt zum Theil daher,
dass, je schwächer der Herzschlag, um so mehr die Elasticität der
Arterien dem Antriebe des Blutes das Gleichgewicht halten kann, um
so enger die Arterien sind und um so weniger Blut sie im Verhält-
niss zu den Venen enthalten. Die Arterien sind eigentlich nach dem
Tode grössten theils nicht ganz leer, sondern viele enthalten so viel
Blut, als sie im verengten Zustande zu fassen vermögen.“
Untersuchung über den Kreislauf des Blutes. 1828. S. 415.
2 ) Schwenke hatte in seiner Hämatologie, S. 81, die Anschauung go-
äussert, dass, wenn durch Fäulniss der Säfte (bei Trinkern, bösen Fiebern) die
Elasticität der Arterien geschwunden ist und Hindernisse in den kleinsten
Capillaren obwalten, das Blut post mortem nicht in die Venen getrieben
werden kann.
3 ) Todd’s Cyclopädie. Tom. I. 1836. Circulation: slow contraction of the
whole of the Jarge arterial tube.
4 ) Handbuch der Physiologie des Menschen. 1838. Bd. 1. S. 202.
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Falk,
Bei Bergmann'), der auf „ Parry’s vortreffliche Untersuchungen“
hinweist, lesen wir, dass nach dessen und seinen eigenen Darlegungen
die contractile Faser ohne Unterstützung des elastischen Gewebes, ja
selbst gegen das elastische Gewebe wirkend, eine „bedeutende Ver¬
engung selbst an grossen Arterien hervorbringen kann“ und „diese
Erscheinung das Einzige ist, was bis jetzt einen positiven Anhalts¬
punkt für die Erklärung der Leerheit der Arterien nach dem Tode
giebt.“
0. Funke 2 ) argumentirt: „Die völlige Leere der Arterien im
Leichnam lässt sich nur dadurch erklären, dass nach Herstellung des
Druckgleichgewichts in Arterien und Venen in Folge der Sistirung der
Herzthätigkeit die Arterien sich noch vollständig zusammenziehen und
alles Blut in die Haargefässe und Venen treiben. Das Blut würde
auf diese Weise in den Venen eine ausserordentliche Druckhöhe er¬
reichen, wenn nicht nach dem Tode die Gefässwände permeabler würden
und so besonders durch reichliche Transsudation aus den Qaargefässen
in die Gewebe jene Druck-Erhöhung sich ausgliche. Die eintre¬
tende Gerinnung verhindert ausserdem den Rücktritt des Blutes aus
den Venen in die wieder erschlafften Arterien.“
In ihren Versuchen über „die Locomotion des Blutes durch die
glatten Muskelfasern 8 )“ kommen auch v. Bezold und Gscheidlen
auf die uns hier interessirende Frage mitteninne zu sprechen. Sie
stellen eine Reihe von Experimenten an curaresirten Thieren derart an,
dass sie in die Carotis und Jugularis Soda-Monometer einbinden und
dann nach Abbindung und elektrischer Tödtung des Herzens die Span¬
nungen messen. Bei unversehrtem Rückenmark war eine Minute nach
der Abbindung des Herzens der Venen- und Arteriendruck gleich und
betrug im Mittel 86 mm Blutsäule. Bei vorher durchschnittenem
Rückenmark war die arterielle Spannung nach einer Minute auch gleich
86,6 mm, der venöse aber nur 43,4 mm. Trotz des vorher niedrigen
Arterien-Druckes war also die Spannung nicht mehr gefallen, der ve¬
nöse aber war viel weniger hoch gestiegen. Wurde bei derselben An¬
ordnung eine Minute nach Abbinduug des Herzens das Halsmark ge¬
reizt, so war der Effect bei vorher intactem Marke minimal; wenn
') Handwörterbuch der Physiologie. Bd. 2. S. 260.
2 ) Lehrbuch der Physiologie. 1860. Bd. 1. S. 111.
3 ) Untersuchungen aus dem Würzburgor physiologischen Laboratorium.
1867. II. Heft.
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Ueber postmortale Blut-Veränderungen.
221
aber das Rückenmark durchschnitten worden, hatte die Reizung meist
erhebliches Sinken des arteriellen, stets aber stärkeres Steigen des
venösen Druckos zur Folge. Jene Autoren gelangen darauf zu dem
Schlüsse: Die Erscheinungen der postmortalen Blutleere der Arterien
und Blutfüllo der Venen sind als das Resultat einer die Arbeit dos
absterbenden Herzens überdauernden automatischen oder reflectorischen
Hirnthätigkeit zu bezeichnen; den Veränderungen im Elasticitäts-Grade
der Gcfässwandungen gebührt möglicherweise ein Antheil, ein unge¬
mein wichtiges Moment ist aber hierbei die Innervation der Muskeln
in den kleinen Gelassen des Körpers.
Im Verlaufo von Untersuchungen, welche er unter H. Kro¬
ne cker's Leitung „über arterielle Blutungen“ angestellt hat, glaubt
schliesslich v. Kireeff 1 ) seine Ergebnisse kurz auch für die Blutleere
der Arterien nach dem Tode verwerthen zu könuen. Er hat an leben¬
den Thieren festgestellt, dass Anämie einen starken Contractions-Reiz
für die Gefässwandungen abgiebt und dass sich (bei Verblutungen)
kräftige Arterien nach beiden Seiten contrahiren; mit der Anämisi-
rung will er die Leere mittlerer und kleiner Schlagadern bei Blut-
haltigkeit der allergrössten nach dem Tode erklären. —
Aus dieser Blüthenlese geht hervor, dass diejenigen Forscher,
welche in (zu andren Zwecken angestellten) Experimental-Unter¬
suchungen jene Frage streiften, das Hauptgewicht für die Erklärung
der postmortalen Arterien-Leere auf die Contractilität, d. h. auf die
Thätigkeit musculöser Apparate in der Gofässwand legen, und zwar
namentlich Parry vor, v. Bezold und Gscheidlen nach Fundi-
rung der Lehre vom vasomotorischen Nervensysteme, und es hat übri¬
gens diese Arbeit der letztgenannten Autoren grade noch in neuerer
Zeit gerechtfertigte Berücksichtigung von gerichtsärztlicher Seite er¬
fahren 2 ).
ln der That wird durch die Heranziehung der Gefässrauskeln und
des Gefassnervensystems zur Erklärung des Befundes von vornherein
das Verständnis für manche dahin gehörige Beobachtungen eröffnet;
wir nennen hier vor allem die Thatsache der Abweichung im Ver¬
halten verschiedener Gefäss-Provinzen, denn die Erregbarkeit der ver¬
schiedenen Gefässnerven-Bezirke ist eine differirende, und es hat na¬
mentlich Owsjannikow dargethan, dass zum mindesten gewisse Ab-
Sitzung der Physiologischen Gesellschaft zu Berlin vom 20. Juli 1883.
2 ) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 1887. S. 514.
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Falk.
thoilungen des vasomotorischen Systems in einer gegenseitigen Unab¬
hängigkeit zu den centralen Reiz-Apparaten stehn können. Nun ist
vor allem der Blutgehalt in den Verzweigungen der Lungenschlag¬
ader im Gegensatz zur Leere andrer Arterien besonders häufig, der¬
art u. a., dass man die Ueberfüllung der Lungen-Arterie unter den
charakteristischen Sectionsresultaten beim Erstickungstode anführen
konnte 1 ). Es darf nun dies abweichende Verhalten der Lungen-Arterie eben
schon dadurch erklärt werden, dass, wie Aubert, Badoud, Licht¬
heim, Hofmokl, Zuntz, Knoll erwiesen haben, der Lungen-Kreis-
lauf sehr viel weniger von dem Nervensysteme abhängig ist als der
Körper-Kreislauf, norvöse Einflüsse sich auf die Lungengefässe, wenn
überhaupt, wofür Lichtheim’s Versuche zu sprechen scheinen, die
Existenz vasomotorischer Lungen-Nerven anzunehmen ist, jedenfalls
in viel geringerem Grade, als auf die Gefässe des grossen Kreislaufes
geltend machen. Allerdings mag hier sein Theil auch dem mecha¬
nischen Momente zukommen, dass die Druck-Differenz, „das Gefall“
der Blutströmung im kleinen Kreislauf merklich geringer als im
Aorten-Systeme ist. In dritte Reihe könnte dann vielleicht schwächere
Versorgung kleiner Pulmnalarterien-Aeste mit contractilen Elementen
gestellt werden.
Auch was Arterien des grossen Kreislaufes anlangt, so mag sich
schon aus der Dürftigkeit oder dem Fehlen von Muskeln der beson¬
ders häufige Blutgehalt einerseits des Anfangstheiles der Aorta*),
andrerseits der kleinsten Arterien-Verzweigungen in den Nieren ab¬
leiten lassen; auf die oft auffallend starke Gefässfüllung in den Mal-
pighi’schen Nieren-Knäueln, also rein arteriellen Theilen, hat Virchow
gelegentlich aufmerksam gemacht, indem er grade hierbei betonte,
dass selbst bei hohem Grade arterieller Injection in der Leiche die
Färbung von der dunkleren (blaurothen oder blauschwarzen) vieler
venöser Hyperämieen nicht abweicht.*).
Grade vom Standpunkte nahezu ausschliesslicher Berücksichti¬
gung der Gefäss-Innervirung ist nun im Verlaufe seiner umfassen-
•) J. L. Casper: Practisches Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1864.
lid. 2. S. 488.
2 ) lieber die Anordnung der contractilen Elemente auch in den grössten
Arterion: s. Ranvier, Traite technique d’histologie.
3 ) ikrtions Technik.
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Ueber postmortale Blot- Veränderungen.
223
den Untersuchungen über das vasomotorische Nervensystem Vul-
pian'), ohne früherer Forscher wenigstens mit Namen zu gedenken,
an die hier vorliegende Frage mit bald zu erwähnenden Experimenten
unmittelbar herangetreten, während wir nach solchen in den Arbeiten
der Leipziger Schule, der wir doch die zahlreichsten Bausteine zur
Lehre von der Gefäss-Innervation überhaupt verdanken, vergebens
suchen.
Wie wir annehmen, dass in Folge von agonaler oder postmor¬
taler, sich dem gewöhnlichen Gefäss-Tonus hinzugesellender Erregung
des vasomotorischen Nerven-Apparates die Arterien nach dem Tode
leer sich darstellen, so ist auch schon durch andersartige Beobach¬
tungen die Persistenz der Irritabilität der Arterien (vom Centrum wie
von der Peripherie aus) bis Stunden lang nach dem endgiltigen Auf¬
hören der Circulation erwiesen, und überhaupt sehn wir die glatten
Muskeln in den vom Sympathicus innervirten Organen in und noch
nach dem Tode in lebhafte Action treten: ich denke hier vor allem
an die Pupillen, die Därme, und von der Milz hat Bochefontaine
dargethan, dass sie im Sterben vom cerebro-medullaren Centrum aus
auf den Bahnen der Nerv, splanchnici eine Reizung erfährt, die (beim
Hunde) eine starke Contraction des Organs zur Folge hat 2 ).
Es hat nun, um an Vulpian anzuknüpfen, dieser zunächst darauf
hingewiesen, dass, was an Leichen mit dem Blute vor sich geht, ex¬
perimentell auch mit andren Flüssigkeiten geschehen kann: wenn
man unter sehr schwachem Drucke Milch in die Arterien eines eben
getödteten Thieres injicirt, so tritt dies Fluidum durch die Capillaren
in die Venen über. Dann hat jener Autor einige Special-Versuche an
Fröschen angestellt: er entfernte ihnen das Herz und liess das Blut
ausfliessen, dann exstirpirte er auf der einen Seite das Ganglion cervi-
case supremum und bemerkte an der Zunge, dass die postmortale Er¬
fassung nur auf der intacten, normal innervirten Seite auftrat. In
einer andren Versuchsreihe durchschnitt Vulpian auf der einen Seite
alle sympathischen Nerven, die vom Abdominal-Plexus zu den Lumbo-
Sacral-Nerven gehn. Wenn diese Frösche hernach (bis zu 3'/ 2 Mo¬
nat nach der Operation) starben, so konnte er beobachten, dass die
Gefässe der hinteren Extremität auf der operirten Seite mehr oder
') Le^ons sur l’appareil vasomoteur. 1875.
2 ) Vulpian, loc citat. T. 2. p. 333. Anm.
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224
Falk.
minder blutgefüllt blieben, während die der entgegengesetzten Glied*
maasse fast blutleer waren ’).
Die durch vasomotorische Erregung bedingte postmortale Ver¬
kleinerung der Gefässlichtung braucht sich nicht auf die Stämme und
Aesto der Arterien zu beschränken; sehn wir doch auch an lebenden
Thieren, dass bei Reizung des Nervus sympathicus am Kopfende sich
nicht blos die Arterien verengen, sondern auch die Capillar-Bezirke
und die aus ihnen hervorgehenden Venen-Wurzcln erblassen, während
die Venenstämme gefüllt bleiben. Nur muss doch, wenn wir die post¬
mortale Entleerung der Arterien auf die rausculöse Thätigkeit ihrer
Wandung zurückführen, folgendes in Betracht gezogen werden, was
auch Vulpian nicht entgangen ist: nach übereinstimmender An¬
schauung der Physiologen 2 ) könnten die Muskeln der (lebenden) Ar¬
terien nur dann einen Einfluss auf die Bewegung des Blutes gewinnen,
wenn sie sich regelmässig in centrifugal fortschreitender Weise zu-
sammenziehn würden; dies ist aber erfahrungsgemäss unter normalen
Kreislaufs-Verhältnissen nur ausnahmsweise der Fall. Hauptsächlich
sind ihre Contractionen tonisch und darauf beruht ihre Bedeutung
vorzugsweise. Allerdings behaupten Legros und Onimus, dass die
Arterien bei Lebzeiten peristaltische Bewegungen, denen des Darmes
analog, ausführen, doch ist dies grade lebhaft auch von Vulpian
bestritten worden. Wenn wir also Fortschwemmung des Blutes aus
den Arterien durch Gefässmuskel-Action annehmen, so muss diese
letzte Folge vasomotorischer Erregung, anders als die intravitale,
sich in einer rhytmischen, peristaltischen Thätigkeit der Arterien wand
abspielen, wie solche noch postmortal lebhaft an den glatten Muskeln
der Wandung des Digestions- und des Genital-Canales zur Beobachtung
kommen kann. Aber die Annahme einer derartigen Abweichung von
der sonstigen Form der Contraction hat nichts gezwungenes. Wenn
wir mit Fick, Hermann und Brown - Sequard, zu alter An¬
schauung zurückkehrend, die Starre der willkürlichen Muskeln als die
lotzte Contraction derselben, ihre finale Lebensäusserung aufzufassen
uns anschicken, so bietet doch auch diese immer noch beachtens-
') Vulpian, loc. citat. p. 375. Er weist gleichzeitig darauf hin, wie
jene Vorgänge im sympathischen (Pupillar-, Abdominal-, vasculären) Gebiete, die
sich als gewöhnliche nach dem Tode abspielen, in vivo im pathologischen Bilde
der Syncope zur Erscheinung kommen.
2 ) Vergl. namentlich Aubert: Die Innervation der Kreislaufs-Organe in
L. Hermann’s Handbuch der Physiologie. Bd 4. I.
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UMIVERSITY OF IOWA
Ueber postmortale Blut-Veränderungen.
225
werthe Unterschiede von dem Vorgänge normaler intravitaler Zu-
sammenziehung dar; um so weniger brauchen derartige Abweichungen
an der bei Lebzeiten in stetem Tonus befindlichen Gefässmusculatur
auffällig zu erscheinen. Ist aber in obigem die Erklärung des ge¬
wöhnlichen Befundes arterieller Blutleere der Leichen gegeben, so ist
damit noch nicht dargethan, warum er doch oft genug vermisst wird,
auch unter Verhältnissen, die jenen von Vulpian experimentell an
Fröschen durch Gefassnerven-Durchschneidung erzeugten nicht an die
Seite gesetzt werden können ( ).
Es liegt nahe, von vornherein daran zu denken, dass ein Moment
dazwischen tritt, welches, bevor die gewöhnliche postmortale Fort¬
bewegung des Blutes durch die Arterien sich in’s Werk gesetzt hat,
oder bald nach deren Beginn dem Umlaufe hemmend entgegentritt,
das Blut in arteriellen Bahnen gleichsam fixirt. Als ein solches
Moment kann für gewöhnlich kaum etwas anderes als der die Be¬
wegungen an der Gefässwand vorläufig abschliessende Zustand der
Starre ihrer Muskeln erscheinen.
Wenn wir schon im allgemeinen dem Vorgänge der Starre in
den glatten Muskeln weniger Beachtung geschenkt finden, so wird in
Sonderheit jenes Zustandes an den Gefässmuskeln kaum je, auch
nicht in grösseren physiologischen Werken, auch nicht in jener Vul-
p.ian’schen Monographie gedacht. Indessen haben wir begreiflicher¬
weise gar keinen Anlass für die Annahme, dass grade nur die Ge-
fässmuskeln dem Rigor nicht anheimfallen sollten. Tritt dieser be¬
sonders früh ein, so könnte die Entleerung der Arterien wirksam auf¬
gehalten werden, ganz besonders wenn gar die Gefässmuskel-Starre
sich unmittelbar an die letzte vitale Contraction zeitlich anschliessen
sollte, wie solches zwar an quergestreiften Muskeln nur ein aus¬
nahmsweises, an glatten aber ein viel häufigeres Vorkommniss 3 ) dar¬
stellt. Um namentlich auch nach dieser Richtung hin Klarheit zu er¬
langen, habe ich eine Reihe von Experimenten an Warmblütern an¬
gestellt.
Ich bemerkte hierbei zunächst, dass bei diesen Experimenten an
den gewöhnlichen kleinen Versuchs-Säugethieren der postmortale Bc-
') Der Pall von arterieller Blutfülle, den Morgagni deswegen besonders
auffallend getänden hat. betraf eine Rückenmarks-Erschütterung. De sedibus et
causis morborum. Lib. IV. Epist. LIV. § 25. Aehnlicbes habe ich selbst zu
beobachten Gelegenheit gehabt.
*) Vergl. Verf.: Diese Vierteljahrsschrift. Bd. 50. Heft 2. S. 370.
Vierteljahrttehr. /. ftr. Med. N. F. LU. 9.
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Falk,
(und von Blut in den Arterien ein häufigerer zu sein schien als in
menschlichen Leichen; Brust- und Bauch-Aorta zeigten sich, auch bei
erst 24 Stunden nach dem Tode vorgenommener Section, oft bis weit
über ihre ersten Theilungsstellen hinaus mit dunklem (bei Kaninchen
meist geronnenem) Blute 1 ) gefüllt, der Art, dass es sich im nach¬
stehenden vielfach nicht um den Unterschied: voll oder leer, sondern
nur um quantitative Differenzen in der Blutfülle handeln kann. Man
braucht hierbei nicht an Unterschiede in der vasomotorischen Erregbar¬
keit von Mensch und Thier zu denken, auch nicht auf die leichte
Coagulations-Fähigkeit des Kaninchen-Blutes ein Hauptgewicht zu
legen, sondern darf sich schon daran halten, dass wir es bei unsern
Kaninchen-Versuchen ausnahmslos mit Opfern gewaltsamer, das Ge-
fässnervensystem mehr oder minder stark in Mitleidenschaft ziehender
Todesarten zu thun haben, wie ja auch an menschlichen Leichen
forensische Obductionen häufiger als andre Sectionon den uns hier
interessirenden eigenthümlichen Befund erkennen lassen.
Was dann die postmortalen Vorgänge an und in den Arterien
der Thiere anlangt, so lehrte die Beobachtung der während der
Tödtung blossliegenden Carotiden, dass dieselben alsbald nach dem
Auf hören der Herz-Arbeit zusehends rasch sich stark verengten; es
ist dies leicht erklärlich, indem die Ausdehnung der Blutgefässe nicht
von dem Contractions-Zustande ihrer Muskeln allein, sondern auch
von dem Druck des Blutes, welcher durch die Thätigkeit des Herzens
gesetzt wird, abhängig ist. Es wäre derartiges auch ohne eigene Con-
traetion jener Gefässe erklärlich. Ist die Arterie nun zuerst nach
Fortfall der Dehnung passiv eingesunken, so nimmt dann durch active
Thätigkeit der Gefässwand das Lumen weiterhin ab, bis zu band¬
artiger Constriction. Mit diesem Collaps der Gefässlichtung ist aber
die Blutentleerung noch lange nicht vergesellschaftet: anscheinend
ganz zusammengefallene Arterienstämme können Anfangs noch eine
ansehnliche Menge Blut enthalten und bei Oeffnung der Adern heraus¬
befördern lassen. Etwa eine Stunde später fand ich in Arterien-Aesten
des Carotiden- oder des Crural-Bezirkes, die auch bei jenen kleinen
Thieren meist blutleer angetroflfen wurden, diese Anämisirung in voll-
l ) Ich habe bereits früher (Virchow’s Archiv, Bd.59, S.37) angedeutet,
dass man oft unter Verhältnissen, die uns an Menschen, z. B. beim Erstickungs¬
tode, flüssiges Leichenblut erwarten lassen, in Kaninchen, schon bald nach dem
Absterben wie später, zusammenhängende intravasouläre Fibrin-Coagula vor¬
finden kann.
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Ueber postmortale Blut-Veränderungen.
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stem Gange oder schon abgeschlossen. Was nun den postmortalen
Blut-Befund in den Arterien, vor allen auch den grösseren betrifft,
so fand ich, um an die oben erwähnte Harvey’sche Anschauung an¬
zuknüpfen, im Gegensatz zu derselben keinen Unterschied, ob das
Herz oder die Lungen zuerst ihre Thätigkeit eingestellt hatten: zum
Vergleich wählte ich Thiere, die in Folge von doppelseitigem Pneumo¬
thorax und solche, die durch Amylnitrit-lnhalation gestorben waren.
Da ich nun in der Starre der Gefässmuskeln einen bedeutsamen
Factor vermuthete, so glaubte ich, starken Blutgehalt der Arterien
nach dem Tode dann zur Beobachtung bekommen zu können, wenn
ich versuchte, kurz vor dem Tode das vasomotorische Nervensystem
(vom Centrum aus) stark zu erregen und dadurch, dessen Erschöpfung
befördernd, eine schnelle Erstarrung in der Gefässwand hervorzurufen.
Vor Augen standen mir dabei analoge Wahrnehmungen namentlich an
der willkürlichen '), doch, wie das Verhalten des Herzens*) erweist,
auch an der unwillkürlichen und, wie namentlich die Erscheinungs¬
weise der Cutis anserina lehren kann, der glatten Musculatur 3 ). In
vorangegangenen Versuchen hatte ich mich bemüht, womöglich eine
schnelle Paralysirung des Gefässnerven-Centrums direct, d. i. ohne
vorgängige Reizung desselben herbeizuführen; aber eine derartige,
rasch letale Afficirung des vasomotorischen Central-Apparates, z. B.
durch toxische Eingriffe wie durch Amylnitrit zu erzielen, gelang
nicht recht.
Ich ging somit an Erstickungs-Proceduren, und zwar indem ich
die Suffocation an dem eiuen Thiere durch festes Zusammenschnüren
der Trachea schnell, am andren durch allmälige Luftröhren-Ein¬
engung langsamer und an noch andren durch Erstickung unter einer
Glasglocke ganz allmälig herbeiführte. Die Veränderungen am Lumen
der Ohrgefässe konnten den Erregungs-Zustand der vasomotorischen
Nerven-Apparate wiederspiegeln. Ich setzte voraus, dass wenn der
Paralvsirung nur kurze Perioden vasomotorischer Erregung vorange¬
gangen, ein früher Eintritt der Starre in der Gefässmusculatur nicht
begünstigt war. Die Section machte ich hier (wie bei den noch zu
besprechenden Experimenten) gewöhnlich gegen 24 Stunden nach dem
f ) Hier bereits von Brücke und von G. G. Mitscherlich beobachtet.
(Vergl. Dubois-Reynoond: Untersuchungen über thierische Electricität. 1849.
Bd. 2. S. 164.)
*) F. Strassmann, loc. citat.
*) Verf. a. a. 0.
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UNiVERSITY OF IOWA
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Falk,
tödtlichen Ausgange der Versuche. Fand ich nun den Blutgehalt der
Arterien nach dem Tode bei allen diesen Erstickten deutlich, so war
er bei den Thieren der zweiten und dritten Kategorie stärker als bei
denen der ersten Reihe, besonders ausgeprägt bei den durch allmälige
Tracheal-Constriction verendeten. Aber so constant waren diese ana¬
tomischen Ergebnisse denn doch nicht. Anschaulichere Resultate
glaubte ich dann von mechanischer Lädirung der intracraniellen Contra
erwarten zu dürfen, und deshalb wurde der Nackenstich nach Flou-
rens, die Vernichtung des noeud vital vorgenommen. Gelang diese
Procedur derart, dass die Thiere blitzartig todt umfielen oder unter
geringen Zuckungen verendeten, war danach zu vermuthen, dass eine
wesentliche Ueberreizung der vasomotorischen bulbären Centren ver¬
hütet, so konnte auch der Weg für eine frühe Erstarrung der Gefäss-
muskeln nicht geebnet sein. War es aber nicht zu vermeiden, dass
noch ein deutlicher Todeskampf mit heftigen klonischen Zuckungen
dem Nackenstich erst folgte, so konnte auch ein starker Reiz-Zustand
jener Gefassnerven-Apparate als hervorgerufen gelten. In der That
zeigte sich in der ersten Kategorie von Fällen der postmortale Blut-
gehalt der Arterien morklich weniger dentlich, unverkennbar schwächer
und minder ausgedehnt als nach der zweit-erwähnten Versuchs-Ge¬
staltung. Besonders augenfällig erschien die Differenz in den Arterien-
Bezirken vom Hiatus aorticus diaphragmatis an. Aber — leider war
das Ergebniss auch in dieser Versuchsreihe nicht immer das gleiche:
in einigen, wenn auch seltenen Fällen stellte sich der Befund anders,
wenigstens nicht so überzeugend und zweifelsfrei dar, wie ich vor der
Section glaubte erwarten zu sollen und Vorhersagen zu dürfen. Es
kommt hier vermuthlich auch eine verschiedene vasomotorische Erregbar¬
keit der einzelnen Thier-Individuen zur Geltung. Dennoch glaubte ich,
noch an Eingriffe, die ganz besonders das vasomotorische Nerven¬
system in Erregung zu versetzen geeignet sind, herangehn zu dürfen und
sollen. Darauf gestützt, dass nach Untersuchungen von L. Traube,
CI. Bernard, J. Rosenthal und Grünhagen') eine solche Gefäss-
nerven-Erregung durch Nicotin verursacht wird, injicirte ich dies Al¬
kaloid einigen Thieren, um sie dann durch Constriction der Luftröhre
zu ersticken. Am albinotischen Kaninchen konnte ich zunächst eruiren,
welche Dosen nöthig waren, um eine deutliche Arterien-Verengerung
Siehe L. Hermann: Lehrbuch der experimentellen Toxicologie. 1874.
S. 321.
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UNIVERSUM OF IOWA
Ueber postmortale Blot-Veränderungen.
229
zu erzielen. Letztere war dann bei diesem und dom anderen Thiere
von nahezu gleicher Grösse (bei merklicher Erregung der Skelett-
Musculatur) eine vorübergehende und durfte dies auch hier in so fern
sein, als nicht Tod durch Nicotin beabsichtigt war; auch wurde deshalb
am nämlichen Thiere nur wenige Male injicirt, wobei übrigens mit
der Nicotin-Dose schon gestiegen werden musste. Der Gefasskrampf
wurde relativ ausgeprägter, die Wirkung des Alkaloids auf die übrige
Musculatur schwächer, wenn ich statt des reinen Nicotins ein solches
injicirte, welches mehrere Tage an Licht und Wärme gestanden hatte:
ich konnte hierbei eine gelegentliche Angabe von CI. Bernard be¬
stätigen, nach welcher reines Nicotin jene Wirkungen auf die Körper-
Musculatur, das alterirte die auf die Gefässe in den Vordergrund
treten lässt').
Wenn ich nun diese Thiere nach dem Gefasskrampf oder gar
noch während desselben durch feste Constriogirung der Trachea er¬
stickte, so ergab allerdings die Section eine starke Füllung der Ar¬
terien, und so könnte dem eine entscheidende Bedeutung beigelegt
werden, wenn — nicht auch einfach erstickte Thiere mehrfach einen
gleichen Obductions-Befund dargeboten hätten.
Um endlich eine noch intensivere Erregung vasomotorischer Cen¬
tral-Apparate zu bekommen, wurde Tetanisirung des Rückenmarkes
in Angriff genommen, und zwar wurden von Herrn Prof. Zuntz die
Electroden, um einen zu jähen Tod der Thiere zu verhüten, zwischen
6. und 7. Hals- und 4.—5. Brustwirbel angebracht. Derselbe nahm
im ersten dieser Versuche, um den Grad der erzielten Gefäss-Ver¬
engerung erkennen zu lassen, die kymographische Prüfung zu Hülfe.
An einem mittelgrossen Kaninchen wurde durch die erwähnte Reiz-Methode
and die von ihr bewirkte Gefäss - Verengerung der Anfangs-Blutdruck bei
72 Rollen-Abstand des von einem schwachen Bunsen’schen Element gespeisten
da Bois’schen Schlitten-Inductoriums am 50mm.Hg, durch eine darauffolgende
Reizung bei gleichem Rollen-Abstande um 34 mm., durch eine dritte Reizung
bei 60 R.-A. um 46 mm. erhöht. Eine neue Reizung bei 40 R.-A. blieb ohne
Effect: nach derselben trat unter allmäliger Abnahme des Blutdruokes Exitus
letalis ein, wesentlich duroh Aufnahme der zur Verhinderung der Blutgerinnung
angewandten (25%gen) Magnesia sulf.-Lösung bedingt. Die Dauer des ganzen
Experimentes betrug 5 1 /, Minuten.
An einem zweiten, etwa gleich grossen Thiere kam es bei einem Rollen-
Abstande von 72 zu Tetanus (Opithotonus), desgleichen, nach 1 Minute Pause,
') Lebens sur les effets des substanoes toxiques et mädicamenteuses. 1857.
pag. 411.
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Falk,
bei 110R.-Ab., dann wieder bei 100, bis schliesslich bei 80 unter starker Rei¬
zung des vasomotorischen Nervensystems und durch deren Einfluss der Tod nach
einer Versuchsdauer von 5 Minuten erfolgte.
Bei beiden Thieren erreichte hiernach die postmortale Arterien-
Füllung die höchsten Grade dieses in den früheren Versuchen beob¬
achteten Befundes. Vollends kann ich es aber aussprechen, dass nach
Grad und Ausdehnung besonders hervorstechender Blutgehalt der Ar¬
terien bei der Section eines dritten Thieres zur Wahrnehmung ge¬
langte.
An diesem (albinotischen) Thiere wurde, um Tod durch electrische Reizung
zu verhüten, das Rückenmark in angegebener Weise zuerst bei Rollen-Abstand
von 120 tetanisirt; es zeigt sich nur minimale Einwirkung auf Skelett- und (wie
die Betrachtung der Ohrgefässe klar erwies) auch der Arterien-Muskeln; beides
wird dann aber bei 110 R.-A. deutlich und nach Aufhören der Reizung ist auch
die reactive Hyperämie unverkennbar. Es wird nun wiederholt bei R.-A. von
105 tetanisirt und jedesmal eine erhebliche Gefäss- Verengerung erzielt. Schliess¬
lich wird gleich im Anschlüsse an diesen Gefässkrainpf die Trachea constringirt,
worauf es in den ersten Stadien der Erstickung zu einer fast völligen Depletion
der Ohr-Arterien kommt.
Das Sections-Ergebniss ist dann das erwähnte maassgebliche. Ob¬
wohl nun grade auch, und besonders diese letzte Experimenten-Reihe
eine Bestätigung der theoretischen Combination zu liefern schien, so
mag ich doch selbst kein allseitig abschliessendes Gewicht darauf
legen, da die Versuchs-Anordnung eine etwas complicirte und über¬
dies die Anzahl dieser, weniger zur Entscheidung als zur Anregung
bestimmten, Experimente eine bescheidene ist.
Immerhin aber darf ich wohl das Facit ziehen, dass ausser der
Art der vasomotorischen Erregung der Eintritt der Starre als ein
cardinales Moment hervorgetreten ist. —
Abgesehn nun von den angeführten, gleichsam centralen Bedin¬
gungen für die Gestaltung des Befundes von Blut-Gehalt oder -Leere
in den Arterien der Leiche dürfen auch periphere, locale Verhältnisse
nicht ausser Betracht gelassen werden. So war von der verschiedenen
Erregbarkeit verschiedener Gefässnerven-Provinzen bereits die Rede.
Aber auch mechanische Verhältnisse kommen zur Geltung: oft habe
ich an menschlichen Leichen beobachtet, dass eine blutgefüllte Aorta
thoracica in eine ganz blutleere Aorta abdominalis überging.
Dieser Befund dürfte in den Druck Verhältnissen der Bauch- und
Brusthöhle seine genügende Erklärung finden. Auch nach dem Tode
steht der Inhalt der Brusthöhle unter merklich niedrigerer Spannung,
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Ueber postmortale Blut-Veränderungen.
231
als der auf dem übrigen Körper lastende Atmosphärendruck, wenn
auch dieser „negative Druck“ etwas geringer ist, als bei Lebzeiten,
so lange normale Athembewegungen gemacht werden (Donders).
Der Bauchinhalt steht dagegen unter einer Spannung, welche in der
Regel den Atmosphären-Druck merklich übertrifft (Schatz). Diese
Spannungs-Differenz fördert, wie bekannt, beim Lebenden den Strom
des venösen Blutes nach dem Herzen wesentlich (Schweinburg);
für die Blutbewegung in den Arterien kommt sie als Hinderniss wenig
in Betracht, weil die absolute Spannung in den Arterien sehr hoch
ist und im Thorax mit jedem Herzschlag einen Zuwachs erfährt. Dies
ändert sich, sobald das Herz still steht und die Spannung im ganzen
Arteriensystem auf ein Minimum gesunken ist. Jetzt wird die geringe
noch vorhandene Blutmenge von dem Orte höherer nach dem niedri¬
gerer Spannung bewegt werden müssen, d. h. von der Bauchhöhle
nach der Brusthöhle. Der positive Druck, welcher auf der Bauchaorta
lastet, ist aber nicht in jedem Falle gleich. Bei schlaffen Bauch¬
decken und wenig gefüllten Eingeweiden übertrifft er nur wenig den
Atmosphärendrack; anders bei straffen Bauchwänden und stark ge¬
blähten Därmen. Häufig wächst die Spannung im Innern der Bauch¬
höhle rasch und erheblich nach dem Tode. Die Gährungsprocesse im
Darmcanale dauern an und entwickeln grosse Gasmengen, welche
nicht mehr wie intra vitam theils resorbirt, theils durch die natür¬
lichen Oeffnungen entleert werden. Sie blähen daher die Bauchhöhle
auf und da diesem Aufblähen durch die Elasticität der Wandungen,
besonders nach Eintritt der Muskelstarre, erheblicher Widerstand ge¬
leistet wird, muss die Spannung im Innern der Unterleibshöhle ent¬
sprechend ansteigen. Bei so erhöhtem Druck in der Bauchhöhle ist
es natürlich auch möglich, dass ein Theil des Inhalts der Bauch¬
arterien in der Richtung nach den untern Extremitäten verdrängt
wird, wodurch die Blutleere in den Bauch-Arterien noch vollkomme¬
ner werden muss.
Man könnte den Einwand erheben, dass die geschilderten mecha¬
nischen Verhältnisse auf den Inhalt der Venen ebenso wie auf den
der Arterien sich erstrecken und daher auch die grossen Venen¬
stämme der Bauchhöhle post mortem blutleer sein müssten, was doch
nicht der Fall ist. Hiergegen ist zu erinnern, dass die mechanischen
Bedingungen, welche an den Arterien erst nach dem Tode in Folge
des Sinkens des intravasculären Druckes wirksam werden, an den
Venen schon intra vitam sich voll geltend machen, ja hier sogar
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Falk,
stärker wirken, weil der negative Druck im Thorax starker war. Es
hat sich demnach die vitale Füllung des Venensystems unter dem Einfluss
derselben Bedingungen etablirt, welche nach dem Tode wirksam sind;
es ist also nach dem Tode kein Grund zu einer stärkeren Entleerung
der Bauchvenen vorhanden. Nur dann, wenn durch Gasentwicklung
post mortem der Abdominal-Inhalt unter stärkeren Druck versetzt
wird, dürfte eine theilweise Entleerung der B&uchhöhlen-Venen nach
dem Thorax hin Platz greifen; eine Entleerung nach den untern Ex¬
tremitäten wird auch in diesem Falle durch die Klappen verhindert.
Falls es noch flüssig ist, kohrt aber ein Theil des verdrängten Blutes
in die Bauchhöhle zurück in dem Momente, in welchem bei der Section
durch Eröffnung der Höhle der positive Druck in ihr aufgehoben
wird. Der Anatom wird also auch in diesem Falle die relative Blut¬
leere der Bauch venen nur selten zu Gesicht bekommen. —
Es ist ferner auf folgenden Punkt hinzuweisen: wenn in voran¬
gehendem so vielfach von der Action der Gefässmuskeln die Rede ge¬
wesen ist, so wurde stillschweigend nur die constringirende Thätigkeit
der Ringmusculatur in’s Auge gefasst; wir wissen aber durch Unter¬
suchungen von Räuschel, Max Schnitze, R. Remak, Kölliker,
L. Auerbach, Eberth, Exner, K. Bardeleben, Ewald, dass
den Gefässen, speciell den arteriellen, auch Längsmuskeln nicht fehlen,
durch deren Contraction, und sei dies auch nur ausnahmsweise, Ge-
fässerweiterung hervorgerufen wird. Nun beweisen aber Kölliker wie
Bardeleben auch die grosse Variabilität dieser Muskel-Elemente
nach Individuen und in den Einzelheiten. Danach kann wohl auch
von dieser Seite her ein, wenn auch vielleicht bescheidener Einfluss
auf die Gestaltung des uns hier beschäftigenden Befundes sich Geltung
verschaffen. Der Reichthum der Arterien an Längsmuskeln steht nicht
in Beziehung zum Caliber der Gefässe, und wenn dann K. Barde¬
leb en 1 ) darthut, dass die Carotis externa eine stärkere Ringmuscu¬
latur als die Carotis interna und die Subclavia hat, in welcher die
Längsmuskeln absolut stärker sind, dass das Verhältniss von Längs¬
muskeln zu den antagonistischen Ringmuskeln in der äusseren Kopf¬
schlagader nahezu das Doppelte von dem in der Carotis interna be¬
trägt, so darf ich hier meine Beobachtung heranziehn, dass sich oft
genug neben ziemlich gefüllter Carotis interna die (an Ring-
') Sitzungs-Bericht der Jenaischen Gesellschaft für Medicin und Natur¬
wissenschaften vom 10. Mai 1878.
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Ueber postmortale Blut-Veränderungen. 233
muskeln reiche) Carotis externa menschlicher Leichen ganz leer
erwies. —
Schliesslich könnte auffällig erscheinen, dass, wenn auf die post¬
mortale Bewegung des Blutes durch Gefässmuskel-Action Gewicht ge¬
legt wird, der Strömung durch die Thätigkeit auch der Venen-Wan¬
dung hierbei gar nicht Erwähnung geschieht; doch kann, von andrem
abgesehn, auch hier kurz auf K. Bardeleben’s') Darlegungen ver¬
wiesen werden, nach denen er die glatten Venen-Muskeln nur für ein
Corrigens der elastischen Nachwirkung erachtet, sic zu activer selbst¬
ständiger Thätigkeit im Venensystem weniger gelangen können; active
Beförderung des Blutstromes durch Venen-Gebieto vermochte Barde¬
leben durch Faradisirung nicht zu erzielen. —
Wenn wir nun versuchen wollten, aus unsern obigen Experi¬
menten und Erörterungen practische Schlussfolgerungen zu ziehn, d. h.
aus dem anatomische Befunde des Blutgehalts oder der Blutleere in
Arterien Rückschlüsse auf die Todesart oder sonstige praemortale
Vorgänge aufbauen möchten, so wäre doch noch eine gewisse Zurück¬
haltung geboten. Die nämliche Todesart kann anatomisch mit oder
ohne auffälligen Arterien-Befund sich darstellen. Auch die Frage, ob
der Tod ein besonders rascher gewesen oder nicht, darf, nach obigem,
nicht immer bestimmt daraus beantwortet werden, u. a. weil vollends
beim Menschen in Betracht kommende individuelle Verschiedenheiten
der Erregbarkeit und Erschöpfbarkeit des vasomotorischen Nerven¬
systems obwalten können. Der Gerichtsarzt wird hier an eine andre
anatomische Erscheinung im Gebiete glatter Musculatur, nämlich die
bereits erwähnte „Gänsehaut“ in so fern erinnert, als auch deren
Vorhandensein oder Fehlen nicht unabänderlich an bestimmt fcstge-
stellte Verhältnisse geknüpft ist.
Es wird nun vor allem darauf ankommen, bei don Obductionen
auf den Befund systematisch zu achten und das empirische Material
zu fundiren.
Es ist übrigens klar, wie grade bei postmortaler Arterien-Fül-
lung Verletzungen, die nach dem Tode entstanden sind, zu ansehn¬
lichen Suffusionen führen können.
') Ebenda. Sitzung vom 20. Juli 1877.
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3.
lieber das Eiadriagea KrträHbugsiAssigkeit ii die
fiedirae.
Von
Dr. Ii. W. Fftgerlnnit
Assistent an dem pathologisch-anatomischen Institute und Docent der gerichtlichen Medicin zu
Helsingfors.
(Fortsetzung and Schluss.)
In der zugänglichen Literatur sind mir folgende Fälle begegnet,
welche geeignet sind, die Frage hinsichtlich des Eindringens des Er-
tränkungsinediums in die Därme zu beleuchten.
XI. Zwei Knaben von 11 und 12 Jahren, mit einer alten Frau auf einer
in’s Wasser führenden Treppe stehend, neckten und reizten dieselbe, bis sie die
Knaben in’s Wasser stiess. Der eine wurde gerettet, der andere ertrank. 3 Tage
nach dem Tode (bei -f- 18 Grad R. im Juli) fand sich bei der bereits faulen
Leiche im Magen etwas breiiger Speisebrei, in welchem Wasser nioht zu erkennen
war, das aber offenbar in den Dünndarm geflossen war, welcher hervor¬
gezogen und durchschnitten grosse Massen klaren Wassers aus-
fliessen liess. Die Vena cava sehr gefüllt 1 ).
XII. Männliche Leiche, noch sehr frisch. Der Magen enthielt nur wenig
Speisebrei, aber der ganze Dünndarm war mit klarem Wasser erfüllt.
Die Aussenfläche der Därme röthlich injicirt 2 ).
XIII. Ein 30jähriger Mann., der am 31. December im Wasser gefunden
worden, war vor 7 Wochen verschwunden und hatte auch dem Anschein nach
so lange im Wasser gelegen, denn der Kopf war schwarz, der Körper bis auf die
noch weissen Füsse grün, die Oberhaut aber (im Winter!) noch fest. Der
Magen war leer, aber der Dünndarm enthielt noch eine grosse
Menge klaren Wassers 3 ).
XIV und XV. Beide am 24. und 25. März im Wasser gefundene, ein
60jähriger und ein 30jähriger Unbekannter, waren faulgrün. Bei beiden
f ) Johann Ludwig Casper’s Handbuch der gerichtlichen Medioin. Neu
bearbeitet und vermehrt von Dr. Carl Li man. Berlin 1882, Bd. II, pag. 786,
Fall 375. (In der Auflage von 1876 Bd. II, pag. 751, Fall 353.)
2 ) Job. L. Casper’s Handbuch der gerichtlichen Medicin. Neu bearbeitet
und vermehrt von Dr. Carl Liman. Berlin 1882, Bd. II, pag. 786, Fall 376.
(In der Aufl. von 1876 Bd. II, pag. 752, Fall 354.)
3 ) Ibidem Bd. II, pag.787, Fall380 und J. L. Casper, Klinische Novellen
zur gerichtlichen Medicin. Berlin 1863, pag. 550.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 235
waren Magen and Dünndarm ganz voll Wasser, bei beiden die Vena
cava noch strotzend gefüllt 1 ).
XVI. Die sehr frisohe Leiche eines 26jährigen Mädchens warde im Juli im
Wasser, der Kopf vornüber im Morast steckend gefunden. Der Magen enthielt
etwas Speisebrei und war fast ganz mit morastigern Wasser angefüllt,
das sich auoh noch oinige Fuss tief im Dünndarm fand 2 ).
XVII. Am 20. Juni (-{- 12 Grad R.) war ein reifer, etwa 8 Tage alter,
mit einem Hemde bekleideter Knabe so dicht am Ufer gefunden worden, dass der
Kopf im Moraste steokte, die Füsse aus dem Wasser hervorragten. Am folgenden
Tage fanden sich im Magen gekäste Milch und Schlammpartikel, die sich
auch noch mit wässriger Flüssi gkeit im Duodenum ergaben 3 ).
XVIII. Die Leiche eines reifen neugeborenen Kindes männlichen Ge¬
schlechts wurde auf einem Hausflur gefunden. Erstickungserscheinungen stark
ausgeprägt. Der Magen enthält zähen glasigen Schleim und etwa ‘/ 4 Theelöffel
einer schiefergrauen, körnigen Masse, in welcher sich harte Krümchen nicht vor¬
finden. Im Dünndarm der gewöhnliche gelbliche Sobleim und im
oberen Theile ähnliche, schiefergraue, weiche Flocken wie itn
Magen. Im Dickdarm Kindspech. In der linken Lunge spärlich, in der rechton
reichlicher schmierige Flocken, die sich bis in die feineren Bronchien hinein ver¬
folgen lassen. Luftröhre und Kehlkopf zeigen eine geröthete Schleimhaut, ent¬
halten feinblasigen Sohaum und ziemlich grosse, schiefergraue Partikel, weich,
flockig, fast erbsengross, aber ohne messbare Dicke. Auch in der normalen
Speiseröhre sind diese Massen, sowie im Schlundkopf und im hinteren Theile der
Nasengänge. Die mikroskopische Untersuchung der im Magen und in den Luft¬
wegen gefundenen fremdartigen grauen Flocken zeigt, dass dieselben neben zahl¬
reichen Flocken nicht bestimmbarer Natur sehr zahlreiche, schwarze, unregel¬
mässig eckige Klümpchen und Schollen, ausserdem zahlreiche Fasern pflanzlicher
Natur enthalten. Beim Reiben der Massen zwischen Object- und Deckglas macht
sioh deutliches Knistern bemerkbar. — Die Erstickung war also herbeigeführt
dadurch, dass eine fremdartige Flüssigkeit nach der Geburt die Athemwege des
Kindes erfüllt hat 4 ).
XIX und XX. Zwei Kinder 4 und 7 Jahre, Mädchen, wurden an dem¬
selben Tage aus dem Wasser gezogen. Sie waren durch ihre geisteskranke Mutter
bineingestossen worden. Bei dem ersteren fand sich der Magen voll Speisebrei,
ohne Wasser. In den Därmen stark wässeriger Inhalt. Blase leer. Bei
dem 7jährigen Mädchen ergab sich im Magen viel Speisebrei und Wasser, auch
in den Därmen viel Wasser 5 ).
') Ibidem Bd. II, pag.788, Fall 381 u. 382 und J. L. Casper, Klinische
Novellen zur gerichtlichen Medioin. Berlin 1863, pag. 551, Fall 12 u. 13.
2 ) Ibidem Bd. II, pag. 788, Fall 384. (Resp. Bd. II, pag. 753, Fall 362.)
3 ) Ibidem Bd. II, pag. 791, Fall 391. (Resp. Bd. fl, pag. 755, Fall 369.)
*) Ibidem Bd. II, pag. 792. Fall 395. Ausführlicher: Casper-Liman’s
Handbuch. Berlin 1876, Bd. 11, pag. 758, Fall 373.
*) Joh. Ludw. Casper’s Handbuch der gerichtlichen Medioin. Neu be¬
arbeitet und vermehrt von Dr. Carl Linian. Berlin 1882. Bd. II, pag. 793,
Fall 398 und 399. (Auf!, von 1876. Bd. II, pag. 759. Fall 374 und 375.)
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236
Dr. Fagerlund,
XXI. Das junge 14jährige Mädchen hatte sich Nachts auf der Strasse von
ihrem Bräutigam entfernt und war den anderen Morgen im Wasser gefunden wor¬
den. Der Magen enthält etwas gelblichen Schaum, Dünndärme oben viel
Flüssigkeit').
XXII. Ein sehr hübsches ldjähriges Mädchen mit ganz frisoh eingerissenem
Hymen lag im December (bei -{-5Grad R ) zur Obduction vor. Vorgestern Abend
9 Uhr (also in finsterer Nacht) hatte ein Schutzmann am Canal eine Frau um
Hülfe schreien hören, die aber alsbald verschwand, und gleich darauf die Leiohe
im Wasser gesehen. Starke Gänsehaut. Füsse und Hände ganz normal und ohne
Spur irgend einer Verletzung. Gischt vor Mund und Nase. Alle 4 Augenlider
waren blau und blutunterlaufen. Links zeigte sich auf der Stirn eine schwach
sugillirte zweigroschengrosse Stelle, hinter dem linken Ohr ein nadelkopfgrosser,
sohwach blutiger Eindruck und an der Grenze des Unterkiefers links am Halse
ein 3 /^ Zoll langer, hellrother, nicht gefurchter, nicht blntiger Streif, sowie eben¬
daselbst rechts am Halse ein 2 Zoll langer, ähnlicher. Kopf anämisch. Luftröhre
mit zinnoberroth injicirter Schleimhaut, voll von weissem, feinblasigem Gisobt,
der beim Druck auf die Lungen in ausserordentlichen Massen emporstieg. Speise¬
röhre leer. Die Lungen ganz ungemein aufgebläht. Der Magen ganz ange¬
füllt mit klarem Wasser, das sich auch noch in den Dünndärmen
fand. Die weiteren Recherchen ergaben, dass der Liebhaber der Ertrunkenen ein
förmliches ihr gegebenes Eheversprecben zurückgezogen hatte, und es hatten des¬
halb schon wiederholt lebhafte Auftritte stattgehabt. Am Morgen des Todestages
hatte ein solcher sich zwischen den jungen Leuten wiederholt; am Abend stürzte
sich das Mädchen in’s Wasser 2 ).
XXIII. Die als irrsinnig recognosoirle 29jährige Frau Senft war im Juli
mit einer Schnittwunde am Halse aus dem Landwehrgraben gezogen worden. Der
Magen enthielt nur 2 Esslöffel klaren Wassers, massenhaft viel Wasser aber
der ganze Dünndarm. Vollständige Verwesnngsanämie im ganzen Körper 3 ).
XXIV. Auch der 18jährige Mielert wurde (im September) aus dem Wasser
gezogen mit einer horizontalen Halsschnittwunde. Der Magen zwar leer, zeigte
aber viel körnigen Schlamm, an der Schleimhaut anhaftend. Sehr viel Wasser
in den Dünndärmen. Alle übrigen Eingeweide bereits sehr verwest. Die
Schlingorgane waren unverletzt geblieben, und es war jedenfalls ungezwungener,
den Schlamm in Speiseröhre und Magen als Befund durch vitalen Schlingact,
als nach dem Tode hineingefiossen zu erklären, um so mehr als in diesem Falle
wohl auch derselbe Schlamm in die Luftröhre geflossen kein würde. So nahm G.
an: dass M. höchst wahrscheinlich nach durch eigene Hand zugefügter Halswunde
in’s Wasser gelangt und darin ertrunken sei. C. hatte später die Freude, diese
Epicrise des Falles insoweit bestätigt zu sehen, als bekannt wurde, dass M., der
eine harte Züchtigung von seinem Meister zu erwarten hatte, fortgelaufen und
*) Ibidem Bd. II, pag. 794, Fall 400. (Resp. Bd. II, pag. 759, Fall376.)
a ) Ibidem. Auflage von 1882. Bd. II, pag. 805, Fall 406. — In der
Auflage von 1876 derselbe Fall, Bd. II, pag. 773, Fall 383, aber weitläufiger.
3 ) Ibidem. Aufl. von 1882. Bd. II, pag. 806, Fall 407. — Aufl. von
1876. Bd. II, pag. 774, Fall 384.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 237
verschwunden war und dass man beim Auffinden der Leiohe einen Strick in der
Tasche und beide Rocktaschen mit Sand vollgestopft gefunden hatte!').
XXV. Unbekannter Mann, verwest. Viel Wasser fand sich im Magen
und in den Därmen 2 ).
XXVI. Ein Unbekannter mit schwarzem Kopf, grünem Rumpf und grossen
Verwesungsstriemen an den Extremitäten. Der Magen enthielt nur einen Ess¬
löffel klaren Wassers, womitaber der ganze Dünndarm gefüllt war 3 ).
XXVII. Nackte Kindesleiche aus dem Rheine aufgefischt.
Auf der Oberfläche der Leber bis zum Zwerchfell hinauf und in der Bauch¬
höhle reohterseits in der Gegend des Blinddarms fand sich weiss-schwarzer Sand,
dessen Gewicht im Ganzen etwa 15 g betragen mochte.
Zur Ermittelung der Quelle, woher dieser Sand gekommen, wurde der ganze
Darmcanal herausgenommen, nachdem vorher d<.s untere Ende der Speiseröhre
und der Mastdarm unterbunden waren.
Der durch einen Tubulus aufgeblasene Magen und Darmcanal liess alsbald
unterhalb des Pförtners eine Oeffnung erkennen, die eine halbe Linie im Durch¬
messer hatte.
Die Ränder derselben waren, des vorgeschrittenen Verwesungsprocesses
halber, nicht deutlioh zu bestimmen.
Zwei ähnliche Oeffnungen fanden sich einen halben Zoll von ersterer ent¬
fernt im weiteren Verlauf des Zwölffingerdarms.
Ausser den Verwesungssymptomen zeigten die äusseren und inneren Magen¬
häute nichts Abnormes; dagegen fanden sich 8'/ 2 g Sand von derselben Be¬
schaffenheit wie der in der Bauchhöhle in dem aufgeschnittenen Magen.
Die weitere Untersuchung des Darmcanals liess Spuren des¬
selben Sandes bis auf 20 Zoll Länge hin erkennen.
Aus der Brusthöhle ist zu bemerken:
In der aufgeschnittenen Luftröhre fanden sich 3 Körnchen Sand.
ln der Speiseröhre befand sich eine ziemliche Menge desselben Sandes, wie
solcher in den übrigen Organen vorgefunden worden war. Dieser Sand war weiss,
mit schwarzen Körnchen untermischt; letztere zeigten sich bei genauer Unter¬
suchung als Theile von Kohle, Schlacke oder von anderen unlöslichen Mineralien
(Glimmer, Basalt), die nicht absichtlich untermisoht waren 4 ).
XXVIII. Ein Kind war am 1. August um 8 Uhr noch in der Stube ge¬
wesen und wurde um 10 Uhr früh in dem am Wohnhause vorüberfliessenden
Wasser todt gefunden.
Der Magen stark ausgedehnt von gelblichem Wasser; seine Gefässe blut¬
reich. die Schleimhaut normal.
') Ibidem Bd. II, pag. 807, Fall 408. — Aufl. 1876. Bd. II, pag. 774,
Fall 385.
3 ) Gasper, J. L., Klinische Novellen zur gerichtlichen Medicin. Berlin
1863, pag. 551, Fall 14.
*) Ibidem pag. 551. Fall 15.
4 ) Märklin, Ueber Leben ohne Athmen Neugeborener. Vierteljahrssohrift
für gerichtliche und öffentliche Medicin, herausgegeben von J. L. Casper.
Bd. XVI, pag. 31. Berlin 1859.
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238
Dr. Fagerlund,
ln den dünnen Gedärmen ziemlich viel Wasser; in den dicken
flüssiger gelber Koth').
XXIX Legalsection der seit dem 31. Juli vermisston und am Tage vorher
im Dorfbache todt gefundenen verehelichten M.
Der Magen war ungewöhnlich ausgedehnt und weiss von Farbe. Derselbe
enthielt Luft und eine grosse Menge hell durchsichtiges Wasser, wohl in der
Quantität eines halben Quarts und darüber, in welcher gelbliche Schleimklumpen,
die sicli wie Sputa verhielten, schwammen. Die innere Fläche des Magens er¬
schien weiss und ganz rein abgespült.
Die dünnen Gedärme, äusserlich von normaler Beschaffenheit,
enthielten ebenfalls Wasser in erheblicher Menge, welches hier
hellgelb und getrübt erschien 2 ).
XXX. Ein 15 Jahre alter Knabe, der sieb aus Ueberdruss über sein körper¬
liches Leiden — er litt, wie auch der Sectionsbefund zeigte, an multiplen
Knochenabscessen — ertränkte.
Im Magen und in dem oberen Dünndarm viel gelbliche dünno
Flüssigkeit 3 ).
XXXI. 51 Jahre alte Frau. Selbstmord.
Im Magen an 300 ccm dünnen Inhaltes; seine Schleimhaat sehr bleich; im
Zwölffinger- und oberen Dünndarm gleicher, in den übrigen Thei-
len dickbreiiger Inhalt 4 ).
XXXII. 28 Jahre alte Frau. Selbstmord.
Magen und oberster Dünndarm enthalten dünne Flüssigkeit.
Doppelseitige Tuboovarialcysten 5 ).
XXXIII. Jean Brie . . ., 58 Jahre alt, am 29. April aus dem Canal des
Vertus gezogen und am 30. auf die Morgue gebracht; er ist nur einen Tag im
Wasser geblieben.
Der Magen enthält wenigstens 2 Liter sehr klares Wasser mit etwas unver¬
dauten Brotstückchen; die Schleimhaut weisslich gefärbt; die übrigen Theile
des Darmcanals enthalten auch Wasser und etwas Gas 6 ).
XXXIV. Guillot. . ., Jean, 52 Jahre alt, aus der Seine bei Surennes
gezogen.
Magen und oberer Tbeil des Dünndarmes enthalten viel Wasser 7 ).
‘) Snetiwy, Karl, Sammlung auserlesener gerichtlich-mediciniscber
Untersuchungen nebst Gutachten. Prag 1846, pag. 82.
2 ) Schaeffer, Albert Julius, Sammlung gerichtsärztlicher Gutachten.
Berlin 1852, pag. 136.
3 ) Paltauf, Arnold, Ueber den Tod durch Ertrinken. Wien und Leipzig
1888, pag. 23.
4 ) Paltauf, Arnold, Ueber den Tod durch Ertrinken. Wien und Leipzig
1888, pag. 24.
5 ) Ebenda.
6 ) Devergie, A., Mddecine Idgale, thäorique et pratique. Paris 1840.
Tome II, pag. 395.
7 ) Devergie, A., Medecine legale, th^orique et pratique. Paris 1840.
Tome II, pag. 397.
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Geber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 239
XXXV. Seine, Vitry. Vermnthlicb Ve. Besag... Einige Augenblicke
im Wasser.
Der Magen enthält Wasser in bedeutenden Mengen; der obere
Theil des Dünndarmes nur wenig davon 1 ).
XXXVI. Autopsie vom 15. October 1884; einige Stunden im Wasser,
10 Tage im Frierapparate, herausgenommen, aufgethaut und obducirt.
Der Magen enthält im Durchschnitt einen Liter Wasser, in welchem wir
keine Speisen antreffen. Im Dnodenum, welchen wir am Pylorus und
7 cm weiter nach unten unterbunden haben, ebenfalls Wasser 3 ).
Im Zusammenhänge hiermit will ich noeh eines von Professor
Uaschka beobachteten Falles erwähnen. Obgleich dieser Fall kein
Ertrinkungsfall ist, so ist er dennoch mit einem solchen analog und
eignet sich dazu, wenigstens in einem gewissen Maasse diejenigen
Umstände zu beleuchten, in denen ein sich vor dem Munde befinden¬
des Medium beim Erstickungslode in die Därme dringen kann. Er
fand nämlich bei der Obduction eines neugeborenen Kindes, welches
ungefähr 30 cm tief in der Erde vergraben aufgefunden wurde, Erd¬
partikeln bis 25 cm weit in dem Dünndarm eingedrungen. Professor
Maschka 3 ) beschreibt in folgender Weise diesen Befund:
Im Magen befand sich bloss eine schleimige Flüssigkeit ohne fremde Bei¬
mengung, dagegen wurden im Zwölffingerdärme, sowie im obersten
Theile des Dünndarmes, gemengt mit einem gelblichen Schleime.
Stückchen derselben erdigen Massen gefunden, wie solche im
Schlundkopfe wahrgenommen wurden. Diese im Dünndärme ge¬
fundenen Stückchen Erde hatten die Grösse einer Erbse bis zu
einer Bohne, lagen in Abständen von 3 bis 4 cm von einander, und
konnten dieselben bis auf 25 cm weit verfolgt werden, wo ihr Vor¬
kommen endete. Der Diokdarm war mit Kindspech angefüllt, in welchem
keine Beimengung von Erde wahrgenommen warde.
Die Erde, welche an der äusseren Oberfläche des Kindes und an der Pla-
centa vorkam, sowie jene, welche im Munde und im Darme vorgefunden wurde,
zeigte, sowohl makroskopisch, als auch mikroskopisch untersucht, ganz dieselbe
Beschaffenheit und sind somit identisch.
„Bemerkenswert!),“ sagt Maschka in seinem Gutachten, „sind
in diesem Falle namentlich zwei Umstände:
’) Devergie, A., Medecine lögale, theorique et pratique. Paris 1840.
Tome II, pag. 397.
3 ) Boagier, Henri, Peut-on diagnostiquer la mort par submersion?
These. Paris 1884, pag. 74.
3 ) Maschka, Mittheilungen aus der geriohtsärztlichen Praxis. Fall Ylll.
Diese Vierteljahrssohrift. Neue Folge. Bd. XLV. Berlin 1886, pag. 242.
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240
Dr. Fagerlund,
a) dass trotz des nachgewiesenen Erstickungstodes und der irn
Munde und im Kehlkopfe Vorgefundenen erdigen Masse keine
Spur derselben in den Lungen selbst vorgefunden wurde, und
b) dass im Schlundkopfe und irn oberen Theile des Dünndarmes,
bis auf eine ziemliche Strecke hinab, Stückchen dieser Sub¬
stanz in Schleim eingehüllt vorkamen, während dieselbe im
Magen vermisst wurde.
Was den Punkt a anbelangt, so dürfte derselbe darin seine Er¬
klärung finden, dass das Kind nach der Geburt, bevor es noch mit
Erde bedeckt wurde, athraete, — sodann, als es vergraben worden
war, durch einen Atherazug Erde inspirirte, welche jedoch wegen ihrer
festeren Consistenz bloss in den Kehlkopf gelangte und denselben ver¬
stopfte, so zwar, dass dann das Kind keine oder nur sehr schwache
Inspirationen mehr ausführte, wodurch auch das weitere Eindringen
der Erde in * die Luftröhre und deren Verästelungen verhindert wurde;
möglich ist es auch, dass das am Brustkörbe lastende Gewicht der
Erde den Brustkorb coraprimirtc und gleichfalls die Fortsetzung der
Athembewegungen hinderte.
Bezüglich des Punktes b, der allerdings ein sehr seltenes und
höchst interessantes Vorkommniss bildet, kann die Aufklärung dahin
gegeben werden, dass das Kind, von der Erde bedeckt, Schling¬
bewegungen machte, durch welche ein Stück der erdigen Masse ein¬
geführt wurde, von welcher ein Theil im Schlundkopfe haften blieb,
während ein anderer Theil in den Magen gelangte; dieser letztere
Theil wurde sodann durch die peristaltischen Bewegungen des Magens
und Darmcanales, welche nicht nur während des Lebens vorhanden
sind, sondern, wie bekannt, auch noch einige Zeit nach dem Tode
andauern, aus dem Magen in den Darm und in dem letzteren selbst
noch auf eine weitere Strecke fortgeführt.“ .
Weiterhin dürfte es nicht überflüssig sein, die Aufmerksamkeit
auf einen Umstand zu lenken, welcher seinerseits bei dem Studium
der von uns behandelten Frage beachtet zu werden verdient.
Wenn ein Kind geboren wird, so wird es durch diesen Act in
ein anderes Medium versetzt als das, in welchem es sich zuvor be¬
fand. Mit dem ersten Athemzuge dringt daher das neue Medium,
Luft, in die vorher vollkommen atelektatischen Lungen. Während
des intrauterinen Lebens der Frucht sind Magen und Gedärme frei
sowohl von Luft als auch von Darmgasen, ein Umstand, welcher ganz
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Ueler das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 241
unbeachtet geblieben war, bis dass Breslau 1865') darauf aufmerk¬
sam machte und 1866 die Bedeutung hervorhob, welche dieser Um¬
stand der gerichtlichen Medicin gegenüber haben könnte. Er zeigt
nämlich, dass zu gleicher Zeit mit den ersten Respirationsbewegungen
sich auch Schlingbewegungen einstellen, wodurch Luft in Magen und
Gedärme eingeführt wird. Er stellt bezüglich dieser Frage folgende
Sätze auf*).
I. Bei todtgeborenen Kindern, gleichviel ob sie während der Go-
burt zu Grunde gingen oder lange Zeit zuvor in faultodtem Zustande
im Uterus verweilen, ist niemals Gas in irgend einem Theile des
Darmtractus angehäuft.
II. Demgemäss schwimmt nie der Darmtractus todtgeborener
Kinder im Wasser, weder im Ganzen noch in einzelnen Theilen, son¬
dern sinkt sofort zu Boden.
III. Erst mit der Respiration beginnt die Gasentwickelung im
Darmtractus, und zwar von oben, vom Magen angefangen nach ab¬
wärts vorschreitend, zunächst unabhängig von Nahrungsaufnahme.
IV. Es giebt also das Verschlucken von Luft den ersten An-
stoss zur Gas- resp. Luftanhäufung im Magon und von da weiter
abwärts.
V. Schon nach den ersten Athemzügen kann sich Luft im Magen
befinden.
VI. In dem Maasse als die Respiration eine vollkommenere und
länger dauernde wird, werden auch sämmtliche Darmschlingen von
Gas mehr oder weniger ausgedehnt.
Und er fügt noch hinzu 3 ): „Erschwert wird die Füllung des Darm¬
canals durch seine bedeutende Länge, seine Windungen und Knickun¬
gen, seine mehrfach durch Klappon und Falten verengten Stellen und
endlich durch seinen fötalen Inhalt, dessen grösste Partie, das zähe
Meconium, weggeschafft werden muss, bevor Luft oder Gas seine
Stelle einnehmen kann. Das Verschlucken schafft die Luft in den
') Breslau, Vorläufige MittheiluDg über den Darmgasgehalt Neugeborener.
Monatsschrift für Geburtskunde und Frauenkrankheiten. Bd. 25. Berlin 1865,
pag. 238.
*) Breslau, Ueber Entstehung und Bedeutung der Darmgase beim neu¬
geborenen Kinde. Monatsschrift f. Geburtskunde und Frauenkrankheiten. Bd. 28.
Berlin 1866, pag. 1.
3 ) L. c. pag. 7.
VUriHlahr»*elu\ f. *er. Med. N. F. LH 2. 16
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Dr. Fagerlund,
24 2
Magen. Dort wird sie angehäuft und von dem Sphincter der C&rdia
von aussen abgeschlossen. Ob Schluckbewegungen vom Magen aus
die Luft auch in den Zwölffingerdarm oder Dünndarm u. s. w. be¬
fördern können, vermag ich nicht zu entscheiden. Unmöglich scheint
es mir nicht, denn man sieht ja auch hier und da Erwachsene,
welche durch willkürliche Deglutitionsacte sich den Unterleib tyrapa-
nitisch auftreiben können, wobei sie die Luft wohl weiter als bloss
in den Magen treiben. Wahrscheinlich ist mir aber, dass die Luft
vom Magen aus ihre Wanderung nach abwärts durch die übrigen Ab¬
schnitte des Darmcanals, von dessen peristaltischen Bewegungen ge¬
trieben, fortsetzt, wodurch dann gleichzeitig das im Dickdarme noch
befindliche Meconium entleert und der halbflüssige Inhalt der Dünn¬
därme in den Dickdarm fortgeschoben wird.“ — In Bezug auf diese
Frage äussert sich v. Hofmann schon 1881 in folgender Weise 1 ):
Eine grosse Reihe von Beobachtungen, die wir in dieser Richtung an¬
stellten, hat uns zunächst die allgemeine Richtigkeit des ersten der
Breslau’schen Sätze (1. c. pag. 13) bestätigt, dass schon mit den
ersten extrauterinen Athembewegungen Luft in den Magen gelange,
und diesen schwimmfähig mache, weshalb wir dieser Thatsache einen
hohen diagnostischen Werth zuschreiben müssen.... Dagegen kann,
und das ist eine besonders werthvolle Seite der Magendarm-Schwimm¬
probe, Luft in den Verdauungstractus auch dann gelangen, wenn eine
Aspiration von Luft in die Lungen wegen Verstopfung des Kehlkopfes
oder der Trachea mit Fruchtschleim und dgl. nicht möglich war, und
wir haben aus mehrfachen Beobachtungen die Ueberzeugung gewonnen,
dass gerade in solchen Fällen mehr Luft in dcu Magen und in den
Darm gelangt als bei unbehinderter Respiration. Wir haben in ein¬
zelnen Fällen, in welchen die Lungen wegen Verstopfung der Bron¬
chien fast vollkommen atelectatisch blieben, den Magen und den gan¬
zen Dünndarm aufgebläht gefunden, obgleich die Frucht wenige Augen¬
blicke nach der Entbindung gestorben war, während bei Kindern, die,
ohne dass die Lungenrespiration behindert war,. gleich nach der Ge¬
burt starben, in der Regel nur im Magen und im Zwölffingerdarm,
höchstens im Anfangsstücke des Jejunum und nur sehr selten tiefer
herab Luft gefunden wird.
') v. Hofmann, Eduard, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 2. Aufl.
Wien und Leipzig 1881, pag. 655. — 4. Aufl. 1887, pag. 748.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 243
Die von Ungar 1 ) und in letzter Zeit von Nikitin 2 ) veranstal¬
teten Untersuchungen und Beobachtungen bestätigen in den Haupt¬
punkten die von Breslau und v. Hofmann gemachten Erfahrungen.
Wenn nun diese Erfahrungen sich auch nicht unmittelbar auf die¬
jenigen Fälle beziehen lassen, in denen statt Luft Wasser aspirirt
wird, so deuten sie uns dennoch den Umstand an, dass eine ge¬
hemmte oder gestörte Respiration, wie sie beim Ertrinken vorkommt,
wahrscheinlich in einem hohen Grade das Eindringen von Ertränkungs-
flüssigkeit in den Verdauungstractus begünstigt.
Um diejenigen Verhältnisse, in welchen Ertränkungsflüssigkeit in
die Därme eindringt, näher zu studiren, habe ich sowohl an Leichen
als auch an lebenden und todten Thieren einigo Serien von Versuchen
angestellt.
Versuche an Leichen und todten Thieren.
Versuche I—XIII. Nachdem mehrere Forscher die Möglichkeit eines post-
mortalen Eindringens von Ertränkungsfliissigkeit in den Magen deutlich darge¬
legt, wollte ich mich überzeugen, ob nicht dieselbe Flüssigkeit auch bis in die
Därme post mortem eindringen könnte. Zu diesem Zwecke legte ich zu verschie¬
denen Zeiten 13 Kinderloichen in eine Lösung von Berlinerblau und zwar wurde
diese Flüssigkeit als eine leicht im Magen und in den Därmen erkenntliche ge
wählt. Das Material bestand aus Leichen solcher Kinder, die theils während der
Geburt, theils einige Zeit nach derselben gestorben waren. Gewöhnlich waren
etwa 24 Stunden zwischen ihrem Tode und ihrem Versenken in die farbige
Flüssigkeit verflossen. Bisweilen vergingen zwei Tage und alsdann wurden sie
während des zweiten Tages in einem Eisschranke verwahrt. Die Zunge wurde
hervorgezogen und vermittelst eines Stiches so gehalten, dass sich die Zungen¬
spitze etwas vor den Kiefern befand; der Mund wurde vermittelst eines soliden,
zwischen den Kiefern angebrachten Holzstäbchens aufgesperrt. Während den
Versuchen war die Temperatur des Zimmers etwa -j- 10° C. Die Ertränkungs-
flüssigkeit wurde einige Mal täglich in Bewegung gesetzt und umgerührt. Bei
der Obduction wurde immer, vor der Eröffnung des Verdauungstractus eine Li¬
gatur dicht oberhalb der Cardia, eine zweite dicht unterhalb des Pylorus, und
noch an verschiedenen Stellen der Dünndärme angebracht; die erwähnte Eröff¬
nung wurde in der Richtung von unten nach oben gemacht, d. h. zuerst die
Därme, dann der Magen, wonach der Inhalt dieser Organe nicht nur makrosko¬
pisch, sondern auch mikroskopisch untersucht wurde.
*) Ungar, Emil, Lieber die Bedeutung der Magen-Darmschwimniprobe.
Diese Vierteljahrsschrift. N. F. Bd. XLVI, Berlin 1887. pag. 62 u. Bd. XLVIII,
1887. pag. 234.
2 ) Nikitin, M., Die zweite Lebensprobe. Diese Vierteljahrsschrift. N. F.
Bd. XLIX. Berlin 1888, pag. 44.
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244
Dr. Fagerlund,
Von diesen 13 Kinderleichen wurden gelegt:
1 mit dem Kopfe nach unten, blieb 43 Stunden in der Flüssigkeit.
1 n v v n *i n
1 auf dem Rücken liegend „
2 » n i» y> n
3 „ „ Magen
1 „ der rechten Seite liegend „
2 n yi r> n *> n
1 r> » linken » « »
1 stehend mitdem Kopfe nach oben *
In keinem dieser Fälle konnte man Spuren der gefärbten Flüssigkeit im
Magen und noch weniger in den Dünndärmen entdecken; auch im Rectum, 1 cm
von der Analöffnung entfernt, wurde dieselbe nicht angetroffen l ).
Versuch XIV. Die Leiche eines etwa 2 Tage alten Hundes, welcher todt
gefunden worden war (von der Hündin erstickt?), wurde mit hervorgezogener
Zunge und aufgesperrtem Maule in eine Berlinerblaulösung gelegt, wo sie 4Tage
gelassen wurde. Bei der Obduction konnte man keine Spur des Farbestoffes
weder im Magen noch im Dünn- oder im Dickdarme entdecken.
Da vorzüglich in grösseren Städten neugeborene Kinder nicht
selten in den Kloakenröhren angetroffen werden und da sie, beson¬
ders wenn sie unter einer einmündenden Röhre gelegen, oder eine
solche zugestopft haben, einem gewissen, von der einfliessenden oder
oberhalb der Leiche in der Röhre stecken gebliebenen Flüssigkeit aus¬
geübten Druck haben ausgesetzt sein können, so habe ich folgende
Versuche angestellt, um durch sie auszuforschen, in wie hohem Grade
ein solcher Druck auf das Eindringen von Flüssigkeiten in den Magen
und in die Därme der Leichen, welche diesem Drucke ausgesetzt wer¬
den, einen Einfluss ausübt.
Versuche XV—XVIII. Zu diesem Zwecke liess ich aus Eisenblech eine im
Durchschnitt 20 cm messende Röhre verfertigen und zwar war das eine Ende
derselben vermittelst eines Blechbodens geschlossen, während das andere Ende
mit einem dicht zuschliessenden Deckel versehen war. In diese Röhre, und zwar
in der Nähe ihres Bodens, mündete winkelrecht eine zweite Röhre ein, welche
10 cm im Durchschnitt betrug und etwas über 3 m lang war. Der Apparat
wurde so aufgestellt, dass die letztere Röhre senkrecht stand. Eine Kinderleiche
wurde in die erstgenannte Röhre eingelegt, der Deokel wurde festgeschraubt und
der Apparat mit einer Lösung von Berlinerblau gefüllt und zwar so, dass die-
*) Hnevkovsky fand unter 26 von ihm in eine gefärbte Flüssigkeit ge¬
legte Leichen nur bei einer einzigen durch die Analöffnung eingedrungene
Flüssigkeit im Rectum vor. — Hnevkovsky, Johann, Das Schleimhautpolster
der Paukenhöhle beim Fötus und Neugeborenen. Wiener medicinische Blätter.
1883. No. 34.
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Uebor das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 245
selbe in jedem Versuche die ganze Zeit 3 m hooh in der senkrechten Röhre stand.
Am Ende der Versuche wurde die Flüssigkeit durch eine kleine, im Deokel be¬
findliche Oeffnung ausgeleort. welche bis dahin mit einem Pfropfen gesperrt ge¬
wesen war; hierdurch wurde die Flüssigkeit in eine strömende Bewegung gesetzt,
ebenso wie das Wasser in einer Kloakenröbre strömt. Die Versuche fanden im
Juli und August statt; das Material waren 4 während der Geburt gestorbene
Kinder, deren Leichen 2 Tage alt waren, als sie in den Apparat hineingelegt
wurden. Mit bervorgezogener Zunge, mit aufgesperrtem Munde wurden 2 der¬
selben mit dem Kopfe unter der senkrechten Röhre, 2 mit den Füssen unterhalb
derselben angebracht; 2 blieben während 2 Tage, 1 während 3 Tage und 1
während 4 Tage in dem Apparate eingeschlossen. Bei diesen und allen den fol¬
genden Obductionen wurden dieselben Vorsichtsmaassregeln wie bei den erst er¬
wähnten getroffen und die Untersuchungen wurden in gleicher Weise ausgefübrt.
Bei den 2 Leichen, welche 2 Tage im Apparate gelegen hatten, fand ich bei der¬
jenigen, welche mit den Füssen unter der senkrechten Röhre lag, weder in der
Speiseröhre noch im Magen, welcher im Wasser sinkt und graugelben Sobaum
enthält, irgend eine Spur vom Farbstoff; noch weniger kommt dieser vor in dem
Dünndärme, welcher in seinem oberen Theile gräulich gelben Schleim, im un¬
teren Meconium enthält. Auch Dick- und Dünndarm enthalten nur Meconium, in
welchem kein Berlinerblau angetroffen wird, nicht einmal 1 om vom Anus ent¬
fernt. Im zweiten Falle dagegen ist der ganze Oesophagus blau gefärbt und ein¬
zelne blaue Berlinerblaukrystalle Hessen sioh bereits makroskopisch in dem der
Cardia näohstliegenden Mageninhalte entdecken, welcher aus einer geringen
Menge roth gefärbter, schleimiger Flüssigkeit besteht. Dagegen konnte man in
dem der Mitte des Magens oder der Pylorusgegend entnommenen Mageninhalte
nicht einmal mikroskopisch eine Spur vom Berlinerblau entdecken. Ebenso wenig
in den Dünndärmen, welche gräulich gelben Schleim enthielten. Im Diokdarme,
seiner ganzen Länge nach, Kindspech, welches kein Berlinerblau enthält, nicht
einmal 1 cm vom Anus entfernt. Bei derjenigen Leiche, welche 3 Tage im Appa¬
rate gelegen, wurde in der Speiseröhre eine meconiumhaltige, braune Flüssigkeit
angetroffen, ebenso im Magen; an beiden Stellen kein Berlinerblau. In den
Dünndärmen ein gelbbrauner schleimiger Inhalt, ohne Spuren der genannten
blauen Farbe. Dickdarm fast leer, seine Schleimhaut mit einem dünnen Lager
von gelblich grünem Kindspeoh; I cm weit vom Anus kein Berlinerblau. Bei der
4 Tage im Apparate gelegenen Leiche (die Füsse unter der senkrechten Röhre)
worden schon in der Speiseröhre Spuren des Farbestoffes wahrgenommen und im
Magen kann man bereits makroskopisch in dem gräulich weissen schleimigen In¬
halte einige Flocken von Berlinerblau sehen; dieselben sind aber schon in dem
der Pylorusgegend entnommenen Mageninhalte nicht einmal mikroskopisch zu ent¬
decken. Im oberen Theile des Dünndarmes ein graurother Schleim, im unteren
Theile Meconium, beide ohne Spuren vom Berlinerblau.
1866 behauptete Engel 1 ), dass Flüssigkeiten ebenso wie breiige
f ) Engel, Der Eintritt flüssiger und breiiger Stoffe in die Luftwege der
Leiche. Wochenblatt der Zeitschrift der K. K. Gesellschaft der Aorzte in Wien.
1866. No. 31.
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246
Dr. Fage rl u nd.
Massen, wenn sie in der Mundhöhle der Leiche angesammelt sind,
durch wiederholte Thoraxcompressionen, in Folge der bei der Wieder¬
erweiterung des Brustkorbes eintretenden Aspiration in die Lungen
eingeschlürft werden und bis in die feinsten Bronchialverästelungen,
ja selbst in die Lungenzellen gelangen können; ja er meint, dass so¬
gar jener Druck, welchem die Thoraxwand ausgesetzt wird, wenn man
bei der Obduction, um den Brustkorb zu öffnen, das Messer gegen die
Brustbeinknorpel drückt, hinreichend stark sein könne, um zu be¬
wirken, dass die im Munde befindliche Flüssigkeit in die Lungen
aspirirt werde.
Skrzeczka 1 ) spricht zwar seine Zweifel hinsichtlich dieser Er¬
scheinung aus, da aber Engel’s Angabe nicht widerlegt worden ist,
beschloss ich, Experimente anzustellen, um zu sehen, inwiefern ein
auf die Brust- oder Bauchwand ausgeübter Druck möglicherweise das
Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit auch in die Därme veranlassen
könnte, was mir deshalb angezeigt schien, weil Wasserleichen oft, so¬
wohl in Folge des Wellenschlages, als auch aus anderen Ursachen
vorübergehenden Com pressionen von Brust und Magen ausgesetzt sind.
Versuohe XIX—XXIV. Das Material boten 6 Leichen von 1—8 Tage
alten Kindern, von denen drei 6 Tage lang in einem Eisschranke auf bewahrt
worden waren; die übrigen waren nur etwa 1 Tag todt gewesen. Nachdem die
Zunge hervorgezogen, der Mund aufgesperrt worden war, wurden die Leichen in
eine Berlinerblaulösung gelegt; darauf wurde der Brustkorb 50 Mal ziemlich
stark, theils von vorne, theils von den Seiten zusammengedrückt, desgleichen der
Bauch ebenfalls 50 Mal. Bei der Obduction wurde bei einer der 6 Tage alten
Leichen Farbestoff in der Speiseröhre und im Magen angetroffen; letzteres Organ
war von Gasen massig aufgetrieben und enthielt eine mit käsigen Klumpen ge¬
mengte graublaue Flüssigkeit, in welcher schon makroskopisch Berlinerblau ent¬
deckt werden konnte. Die Därme von Oasen massig gedunsen. Im Duodenum
gelbliche Excremente in geringer Menge, keine Spur vom Farbenstoff. In den
übrigen Dünndärmen, ebenso wie im Dickdarme gelbliche, mit Käseklumpen be-
mengte Excremente, in denen kein Berlinerblau, nicht einmal 1 cm vom Anus
entfernt, wahrgenommen wurde. An einer der 1 Tag alten Leichen konnte man
im Oesophagus, der ganzen Länge nach, den Befund des Farbestoffes beobachten;
im Magen, welcher eine gelblich braune, mit käsigen Klumpen bemengte Flüssig¬
keit enthält, kann dieser Befund makroskopisch nicht entdeckt werden, wogegen
mikroskopisch Spuren des Berlinerblaus zu unterscheiden sind. Die Därme leicht
an einander geheftet, die ganz in der Nähe des Nabels gelegenen Schlingen von
grünlich violetter Farbe, die SeroSa des Darmes glanzlos, mässig injicirt. In den
') Skrzeczka, Zur Lehre vom Erstickungstode. Vierteljahrsschrift für
gerichtliche und öffentliche Medicin. N. F. Bd. VII. Berlin 1867, pag. 251.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 247
Dünndärmen ein mit Käseklumpen spärlioh bemengter, farbloser Inhalt. Im Dick¬
darme bräunlich gelbe, breiige Excremente, welche noch 1 cm weit vom Anus
keine Spur von Berlinerblau zeigen. In keinem der übrigen Fälle war der Farbo-
stoff weiter als bis in den Schlund köpf und den obersten Theil der Speiseröhre
vorgedrungen.
Versuche XXV—XXVII. Nach dem Herrorziehen der Zunge und nach
dem Aufsperren des Mundes wurden die 1 Tag alten Leichen von 3 kurz nach
der Geburt gestorbenen Kindern in eine Lösung von Berlinerblau gelegt. Dann
wurde der Brustkorb ziemlich kräftig 50 Mal, theils von vorne, theils von den
Seiten zusammengedrückt, wobei zahlreiche Luftbläschen aus dem Munde empor¬
stiegen. Die Otduction zeigte, dass in einem der Fälle die Farbelösung nur in
den oberen Theil der Speiseröhre eingedrungen war, in den zwei übrigen Fällen
wurde in ihrer ganzen Länge Berlinerblau angetroffen, ohne dass es im Magen
oder in den Därmen vorhanden gewesen wäre, nicht einmal 1 cm innerhalb
des Anas.
Versuche XXVIII and XXIX. Die einen Tag alten Leichen eines acht¬
tägigen and eines vierzehntägigen Kindes wurden, nach Hervorziehen der Zunge
and naoh Aufsperren des Mundes, in eine Lösung von Berlinerblau gelegt, wo¬
rauf der Bauch 50 Mal ziemlich kräftig zusammengedrückt wurde, und zwar
wurde dieser Druck nicht nur an den oberen Partien, sondern auch an den Vor¬
der- und den Seitentheilen desselben ausgeübt. In beiden Fällen sah man nur
dann and wann ein Luftbläschen zum Monde oder zur Nase emporsteigen, wo¬
gegen keine solohe per Rectum abgingen. Im ersten Falle wurde der Farbestoff
in der ganzen Länge der Speiseröhre gefunden; im Magen und in den Därmen
aber kein Berlinerblau. Im zweiten Falle fand man eine geringe Menge Farbe¬
stoff im Magen, welcher letzterer übrigens znsammengefallen war und etwas mit
dem Farbestoff gemengten Schleim enthielt. Die Därme waren von Gasen auf¬
getrieben and enthielten spärliche, bräunlich gelbe, dünnflüssige Excremente ohne
Berlinerblau ').
Da nun alle diese Versuche gezeigt hatten, dass ein postmortales
Eindringen von Flüssigkeit in die Därme auf grosse Schwierigkeiten
*) In keinem dieser 11 zuletzt angeführten Fälle konnten Spuren von der
gefärbten Lösung in den feineren Bronchien entdeckt werden. Die Lungen dieser
sämmtlichen Leichen schwammen nebst dem Herzen und dem Thymus im Wasser,
waren überall lufthaltig und in 4 Fällen (darunter Fall XXIX) waren die feineren
Bronchien mit einem mucopurulenten Secrete gefüllt, welches in den übrigen
Fällen nicht vorkam. ln den Versuchen XXVIII und XXIX war die farbige
Flüssigkeit nicht in den Kehlkopf, in den übrigen Versuchen einmal in den oberen
Theil der Luftröhre, einmal in die Luftröhre bis zur Bifurcation derselben, 5 mal
endlich bis in die gröbsten Bronchien eingedrungen, und dennoch konnte man
niemals voraussetzen, dass der Brustkorb unter natürlichen Umständen so gründ¬
lich zusammengedrückt werden würde, wie in unseren Versuchen. Besonders ist
der Brustkorb bei Erwachsenen keineswegs so nachgiebig und lässt sioh nicht
so leicht zusammendrücken wie bei unseren Versuchsobjecten. Engel's Angaben
sind also übertrieben.
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248
Dr. Fagerlund,
stiess and in allen den Situationen nicht eintraf, in welche die Lei¬
chen der bisherigen Versuche versetzt worden waren, so stellte ich
folgende Serie neuer Versuche an, um dadurch möglicherweise ein Maass
jenes Widerstandes zu erhalten, welcher sich bei Leichen dem Durch¬
gänge der Flüssigkeit durch den Magen und besonders durch den
Pylorus entgegenstellt.
Versuch XXX. Ad der 1 Tag alten Leiche eines Kindes, welches in einem
Alter von einigen Wochen gestorben war, wurden die Nasenlöcher zugenäht und
im Munde wurde ein Kork angebraoht, durch welchen hindurch eine gläserne
Röhre verlief. Um diesen Kork herum wurde der Mund zugeschnürt, so dass er
dicht ansohloss; der Körper wurde mit dem Kopfe naoh unten aufgehängt und
die in den Mund einmündende Röhre wurde mit einem Gummisohlauche verbun¬
den, welcher letzterer wiederum-mit einem 3,25 m oberhalb des. Mundes der
Leiche gelegenen Trichter in Verbindung stand. In den Trichter wurde am
19. März, 11 Uhr Vormittags, eine Indigolösung gegossen und durch eine am
Schlauche angebrachte Klemme wurde die Strömung regulirt, so dass die
Flüssigkeit nur ganz langsam hineinströmte. Die Baoken dehnten sich aus und
nach einigen Minuten sah man die Conturen des Magens sich ganz deutlich duroh
die Bauchbedeckungen hinduroh abzeichnen. Noch eine kleine Zeit danach war
die rechte Regio hypoohondriaca eingefallen, bis dass sich der Brustkorb immer
mehr hob, indem auch der Bauch ansohwoll, bis er sohliesslich gleichmässig ge¬
spannt und fest anzufühlen war. Sobald das Gleichgewicht eingetreten war,
wurde der Gummischlauch durch die Klemme zugesohlossen und wurde die
Klemme nur dann und wann geöffnet, um neue farbige Flüssigkeit einströmen zu
lassen. Nachdem der Versuoh eine Stunde gedauert hatte, sah man Indigolösung
aus dem rechten Ohre ausfliessen, doch hörte diese Ausströmung auf, als eine
Ligatur um die Basis des äusseren Ohres angebracht wurde. Zum letzten Male
wurde die Klemme um 8 Uhr Abends geöffnet und blieb dann bis 8 Uhr den
nächsten Morgen geschlossen. Zu dieser Stunde wurde neue Flüssigkeit hinein¬
gelassen. Nachdem diese Prooedur nooh einige Male wiederholt worden war,
wurde der Versuoh 11 Uhr Vormittags am 20. März aufgehoben und gleich da¬
nach die Obduction vorgenommen; dabei wurde Nachstehendes aufgezeichnet:
Körper 54 cm lang, sehr ödematös; UmfaDg des Kopfes 35,5 cm. Brust stark
gewölbt; die Hant über den Rippeninterstitien von blaufleokiger Färbung (In¬
digo). Banch sehr ausgespannt, Bauchbedeckungen, besonders an der reohten
Seite, gleichmässig in’s Blaue (Indigo) spielend. Unterhautgewebe und Muscu-
latur an der Brust und am Bauohe stark ödematös und theilweise blau gefärbt.
Diaphragma stark nach unten gedrängt. Kehlkopf und Luftröhre mit' Indigo¬
lösung angefüllt. In beiden Pleurahöhlen eine bedeutende Quantität von klarem,
blauen Transsudat, ebenso im Herzbeutel. Das Herz bietet nichts Bemerkens-
werthes dar. Die Lungen aufgetrieben, ziemlich gleichmässig blau gefärbt, über¬
all lufthaltig. — In der Bauchhöhle Transsudat, klar, blau. Peritoneum parie¬
tale und viscerale, sowie die Leber- und die Milzkapsel stark blau gefärbt. Die
Därme nicht besonders aufgetrieben. Der Magen sehr ausgespannt; durch die
Berührung bei Anlegung der Ligatur an der Oardia und dem Pylorus nahm sein
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Geber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 249
Umfang rasch ab. Za gleicher Zeit ergoss sioh in die Baachhöhle eine Menge von
Indigolösaog; bei näherer Untersachang fand man, dass diese durch ein Loch im
Duodenum dioht unterhalb des Pylorus ausströmte. Das Duodenum war übrigens
sehr morsch und theilweise aufgeweicht. Aach die übrigen Därme waren morsch.
Im Magen eine reichliche Menge Indigolösang saurer Reaction. In den Dünn¬
därmen gelblich braune, sauer reagirende, mit Käseklampen gemengte Ex¬
cremente; in der nächsten Nähe unterhalb des Pylorus, in einer
Strecke von 29 cm, ist der Darminhalt blaa gefärbt. Nieren, Leber
and Milz zeigen nicts Bemerkenswertes; Harnblase leer.
Versaoh XXXI. Dieser Versaoh wurde sowie die vorhergehenden ange¬
ordnet, nur mit dem Unterschiede, dass die 1 Tag alte Leiche des im Alter von
14 Tagen gestorbenen Kindes auf den Rücken gelegt wurde. Die Druokhöhe be¬
trägt hier 3,25 m. Die Indigolösang wurde am 19. März, 11 Uhr Vormittags,
zagelassen, und der Versuch um dieselbe Stunde am 20 März unterbrochen. Bei
der Obdaction warde auch hier der Körper im höchsten Grade ödematös befan¬
den. Brost sehr gewölbt; die Haut über den Rippeninterstitien blaufleckig (von
Indigo). Bauch aufgetrieben, sehr gespannt. Unterbautgewebe and die Musou-
latar am Kopfe, am Halse and am Rumpfe sehr ödematös. — In den Pleura¬
höhlen eine klare blaae Flüssigkeit. Diaphragma, Kehlkopf, Luftröhre, Bronchien
and Langen wie im vorigen Falle. — In der Bauchhöhle ein Transsudat, klar
and blau gefärbt. Der Magen von einer beträchtlichen Menge sauer reagirender
Indigolösang sehr aasgedehnt; davon ist jedoch nichts in den Darm ein-
gedrungen, sondern sticht die helle Schleimhaut, welche die untere Seite vom
Sphincter pylori bekleidet, scharf gegen den stark dunkelblauen Inhalt and gegen
die ebenso gefärbte Wand des Magens ab. Im Uebrigen enthalten die Därme
braungelbe Excrementmassen von breiiger Gonsistenz.
Versuch XXXII. An der Leiche (1 Tag alt) eines etwa im Alter von
2 Wochen gestorbenen Kindes wurde derselbe Versaoh, wie in den beiden vorher¬
gehenden Fällen wiederholt. Drnckhöhe 3,25 m. Die Flüssigkeit bestand hier
aas einer Berlinerblanlösang. Der Körper warde mit dem Kopfe nach unten auf-
gebängt. Als der Druck 20 Minuten gewirkt hatte, fing die gefärbte Flüssigkeit
an aas dem linken Ohre herauszaströmen, dies hörte jedoch auf, als eine Ligatur
am die Basis des äusseren Ohres angebracht worden war. Der Versuch wurde
am 20. März ’/ 3 12 Uhr begonnen and um dieselbe Zeit am 21. März beendigt.
Bei der Obduction zeigte sich der Körper sehr ödematös. In den Lungensäcken
and in der Bauchhöhle ein klares, röthlich braunes Transsudat. Die Lungen hell-
blaa gefärbt, aafgetrieben. Schnittfläche blau mit hier und da eingestreuten,
röthlichen, broncho-pneumonischen Herden. Der Magen von der blauen Farbe-
flüssigkeit stark aasgespannt; diese Flüssigkeit wird auch in 3 / 3 der
Länge des Dünndarmes, d. h. bis 44 cm weit von Valvala Bauhini
angetroffen. In den übrigen Dünndärmen, sowie im Dickdarm bräunlich gelbe
Excremente, in denen kein Berlinerblau enthalten ist.
Versuch XXXIII. Der Versuch wurde in derselben Weise wie die vorher¬
gehenden angeordnet. Das Material war die einen Tag alte Leiche eines Kindes,
welches im Alter von etwa 2 Wochen gestorben war. Anfang am 20. März,
V a l2 Uhr Vormittags; unterbrochen am 21.März '/ 2 12 Uhr Vormittags. Druck¬
höbe auch hier 3,25 m; Flüssigkeit: Berlinerblau; die Nase konnte jedoch nicht
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Dr. Fagerlund.
vollständig zugeschlossen werden, sondern von Zeit zu Zeit sab man ein Tröpf¬
chen der Farbelösung daraus hervorquellen. Der Körper mit dem Kopfe nach
unten aufgehängt; der Bauch ziemlich gross und schlaff. — Bei der Obduolion
wurden Brust, Bauch, Unterhautgewebe, Musculatur, Pleurahöhlen und Lungen
in demselben Zustande wie in den vorhergehenden Fällen befunden. Im Bauche
klares, rothbraunes Transsudat. Der Magen mit der Farbelösung
gefüllt, welche in den Därmen bis zum S romanum vorgedrun¬
gen ist.
Versuch XXXIV. Der Versuch wurde ebenso wie die bis jetzt erwähnten
angeordnet und zwar diesmal an der 2 Tage alten Leiche eines 20jährigen Wei¬
bes, welches an einer septischen Blutvergiftung gestorben war. Die Leiche wurde
auf den Rücken gelegt. Druckhöhe: 3 m; Flüssigkeit: Berlinerblau. Der Ver¬
such wurde am 14. October, 11 Uhr Vormittags begonnen; um 11 Uhr Abends,
nachdem der Trichter von Neuem gefüllt worden war. wurde die das Einströmen
regulirende Klemme ganz fortgenommen. Am 15. October Morgens wurde der
Trichter nochmals einige Mal gefüllt, wonach der Versnob 11 Uhr Vormittags
unterbrochen wurde. Wie in den vorigen Fällen war auch hier die Leiche wäh¬
rend des Versuches sehr ödematös geworden, nicht nur am Kopfe, am Halse und
am Rumpfe, sondern auch an den Oberarmen und Oberbeinen. Brustsack, Lun¬
gen u. s. w. wie in den übrigen Fällen. Der Magen von einer grossen
Menge Farbelösung ausgedehnt, welche Lösung auch in reich¬
licher Menge in den Dünndärmen angetroffen wird, und zwar bis
140 cm weit von der Vulvula Bauhini, d. h. in etwa 2 /s des Darmes.
Versuch XXXV. Anordnung wie in den vorhergehenden Fällen. Versuchs¬
object: Die auf den Rücken gelegte. 4 Tage alte Leiche eines im Alter von etwa
10 Tagen gestorbenen Kindes. Druckhöhe: 2 m; Farbestofflösung: Berlinerblau.
Die Nase schloss nicht ganz zu. Der Versuch fing am 25. März 11 Uhr Vor¬
mittags an und wurde am 26. März um dieselbe Zeit unterbrochen. Beim Er¬
öffnen der Bauchhöhle fand sich in derselben eine grosse Menge der gefärbten
Flüssigkeit. Der Magen eingefallen, etwas Farbeflüssigkeit enthaltend. An der
vorderen Wand desselben eine 1 cm messende Zerreissung. In den Dünn¬
därmen ist di]e Flüssigkeit bis 65 cm weit von der Valvula Bauhini
vorgedrungen, d. h. in 2 / 3 des Darmes.
Versuch XXXVI. Anordnung wie vorher. Das Object, die Leiche (1 Tag
all) eines einige Tage nach der Geburt gestorbenen Kindes. Lage: auf dom
Rücken; Druckhöhe: 1,5 m; Farbelösung: Berlinerblau. Am 22. März 11 Uhr
Vormittags begonnen, wurde der Versuch am 23. März um dieselbe Stunde unter¬
brochen. Beim Eröffnen der Bauchhöhle fand sich daselbst eine getrübte, grau¬
braune Flüssigkeit. Peritoneum und Darmschleimhaut glanzlos, Gedärme frei,
weder an einander noch an der Bauchwand anhaftend. Der Magen von der far¬
bigen Flüssigkeit ausgespannt, dagegen lassen sich weder im Duodenum
noch in den übrigen Därmen Spuren des Farbestoffes wahrneh¬
men, daselbst nur gelbe, mit Käseklumpen vermischte Excrementmassen.
Versuche XXXVII und XXXVIII. Anordnung wie zuvor. Das Material
bilden 2 ^2 Tage alte) Leichen zweier gleich nach der Geburt gestorbener Kinder.
Beide Leichen liegen auf dem Rücken. Druckhöhe: 1 m; Farbelösung: Berliner-
blau. Die gleichzeitig gemachten Versuche fingen am 25. März, 11 Uhr Vor-
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsfliissigkeit in die Gedärme. 251
mittags an. Der eine wurde jedoch schon nach etwa 2 Stunden unterbrochen, da
bemerkt wurde, dass Berlinerblau ebenso wie Päces per Anum abgingen. Die
Obduction zeigte in der Thal, dass die Farbelösung den ganzen Darmcanal durch¬
drungen hatte. Der zweite Versuch wurde bis zum 26. März, 11 Uhr Vormittags
fortgesetzt; bei der alsdann gemachten Untersuchung des Bauches findet man
den Magen mit der nämlichen Flüssigkeit angefüllt, welche durch einen 0.5 cm
grossen Riss der Magenwand in die Bauchhöhle ausströmt. In den Dünn¬
därmen ist die Farbelösung bis 70 cm weit nach unten vorge¬
drungen.
Versuch XXXIX. Der Versuch ist so wie die vorhergehenden angeordnet,
und zwar an der etwa 1 Tag alten Leiche eines etwa im Alter von einer Woche
gestorbenen Kindes. Lage auf dem Rücken. Druokhöhe: 0,55 m. Farbelösung:
Indigoblau. Als das Gleichgewicht erreicht worden war. wurde die Klemme ganz
und gar entfernt und der Trichter fortwährend mit Farbeflüssigkeit voll gehalten.
Der Versuch begann am 19. März, 12 Uhr Vormittags, und wurde am 20. März
um dieselbe Zeit unterbrochen. Kopf und Rumpf etwas ödematös. In der Bauch¬
höhle Transsudat von rötblich blauer Farbe. Der Magen von der Farbelösung
ausgedehnt, welche 35 cm weit in den Dünndärmen vorgedrun
gen war.
Versuch XL. Anordnung wie vorher. Etwa 1 Tag alte Leiche eines kurz
nach der Geburt gestorbenen Kindes. Lage auf dem Rücken; Druckhöhe0.55 m;
Farbelösung: Berlinerblau. Am 20. März '/ 2 12 Uhr Vormittags angefangen, um
dieselbe Zeit am 21. März unterbrochen. In der Bauchhöhle ein klares, roth-
braünes Transsudat. Magen von der Farbelösung ausgedehnt, ohne dass die¬
selbe im Duodenum oder in den übrigen Dünndärmen nachweisbar
ist; diese enthalten nur bräunlich gelbe, mit Käseklumpen gemengte Excremente.
Versuch XLI. Die Anordung war die in den vorigen Fällen angenommene.
Das Versucbsobject war ein einige Stunden vorher geborener und gleich danach
gestorbener Hund, welcher vom Scheitel bis zur Schwanzwurzel 13 cm maass.
Druckhöhe: 1,5 m; Farbelösung: Berlinerblau. Nachdem der Druck 5 Minuten
gewirkt batte, sah man die Haut am Rücken sich sehr schnell blasenförmig er¬
weitern. weshalb auch der Versuch gleich unterbrochen wurde. Bei der sogleich
Torgenommenen Obduction fand sich in der Bauchhöhle eine ansehnliche Menge
Farbeflössigkeit; der Magen war zusammengeklappt und dicht am Pylorus zer¬
rissen. Dicht daneben zeigte auch das Peritoneum einen Riss, durch welchen
sich die Flüssigkeit einen weiteren Weg unterhalb der Haut an der rechten Seiie
und am Rücken gebahnt hat; an nämlichen Stellen ist die Haut von der Flüssig¬
keit unterlaufen. In den Dünndärmen war die Farbelösung ungefähr
in die obersten 2 /s derselben eingedrungen.
Versuch XLII. Anordnung wie im vorigen Falle, und zwar an eben solch
einem kleinen Hunde. Druckhöhe: 0,50 m; Farbelösung: Berlinerblau. Der
Versuch begann am 22. März, 2 Uhr Vormittags und wurde am 23. März um
dieselbe Zeit unterbrochen. In der Bauchhöhle klares, rothbraunes Transsudat;
Magen von der Flüssigkeit ausgedehnt, welche auch in das oberste
Drittel des Dünndarmes eingedrungen ist,
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252
Dr. Fagerlund,
Versuche an lebenden Thieren.
Unter allen früheren an Thieren gemachten Ertränkungsversuchen
hat man nur in einigen alleinstehenden Fällen das Eindringen der Er-
tränkungsflüssigkeit in die Dünndärme beobachten können. Dagegen
erklärt Evers (1753) ausdrücklich, er habe bei seinen zahlreichen,
mit Hunden angestellten Versuchen noch nie den Befund der Erträn-
kungsflüssigkeit weiter als im Magen angetroffen, und er fügt noch
hinzu, dass es nicht einmal wahrscheinlich sei, dass sie bis in die
Därme eindringen könne. „Denn welche grosse Kraft ist nicht er¬
forderlich, ein Umstand, der Niemandem unbekannt sein dürfte, um
den Inhalt des Magens znm Ueberschreiten des Pylorus zu bringen?
Augenscheinlich eine so grosse, dass sie bei dem Sterbenden nicht
vorhanden ist. Ja, ich habe diese Kraft bei einem ertränkten Hunde
ausgeforscht, dessen Magen eine grosse Quantität von Wasser enthielt,
und habe ich viel Kraft anwenden müssen, damit das Wasser den
Pylorus überschreite. Deshalb, so oft ich den Magen herausnahm,
unterband ich immer die Cardia, welche den Mageninhalt leicht durch-
lässt, nimmer aber den Pylorus. Ich schnitt dahej* unterhalb dieses
letzteren, und zwar gegen den Sphincter duodeni hin, den Darm ab,
und wurde dieser so zusammengedrückt, dass auch das Geringste da
nicht durchdringen konnte“ •).
Auch Schimm hob 1788 hinsichtlich aus den von ihm ange¬
stellten Thierexperimenten hervor, „dass in die Därme kein Wasser
dringe“ 2 ).
Die ersten an lebenden Thieren ausgeführten Ertränkungsver-
suche, von denen erzählt wird, dass Ertränkungsflüssigkeit bis in die
Därme gedrungen sei, gehören de Haen 3 ) an 1771.
Er beschreibt in folgender Weise diese seine Versuche:
„Nachdem ein grosses Gefäss mit von vieler Dinte schwarzem und von
Dintenbodensatz getrübtem Wasser gefüllt worden war, legte ich darin den Hund
') Experimenta circa submersos in animalibus instituto. Diss. Preside
J. G. Brendel, resp. auctor E. J. A. Evers. Gottingiae MDCCLI1I. § XXIII.
2 ) Schimm, Franc. Anton., De submersis. Diss. Argentorati 1788.
Citirt nach J. v. Müller’s Entwurf der gerichtlichen Arzneywissenschaft. Bd. IV.
Frankfurt am Main 1801, pag. 27.
3 ) Anlonii de Haen, Ration. Medendi continuatae. Tom I. Wiennae
MDCCLXXI, pag. 127 u. 131.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 253
No. 38, der sehr bald (die Zeit an der Uhr nicht beobachtet) starb, und liess ihn
eine ganze Stande im Wasser liegen, um zu sehen, ob er irgend etwas von dem,
sofort aus dem Ertränkungsmedium gezogenen Hunde Verschiedenes aufzuweisen
haben würde. Einmal aus dem Wasser herausgezogen, und zwar mit dem Kopfe
immer nach oben gekehrt, war der Anfangs weisse, dann gelb gewordene Hund
jetzt etiop gefärbt (schwarz) und vom unteren Theile des Körpers tropfte eben¬
falls gefärbtes Wasser lange ab, welches Wasser zwar, um zum 3. Male daran zu
erinnern, von den Kleidern der Ertrunkenen wie von den Haaren der Thiere ab-
sorbirt und am Munde und an der nach unten hängenden Nase herabströmend,
falscher Weise einen aus dem Magen und den Lungen herrührenden Wasserstrom
anzudeuten scheint. Ohne den geringsten Wiederbelebungsversuch anzustellen,
begannen wir gleich die Section. Die ganze Lunge gedunsen und von breiten,
theils rothen, theils purpurfarbigen und schwarzen Flecken gestreift. Nachdem
die Luftröhre unterbunden worden war, nahmen wir die ganze Lunge heraus,
wodurch wir das Phänomen näher und deutlicher beobachten. Als wir die eben
erwähnte Ligatur auflösten, fanden wir die Luftröhre leer, desgleichen alle ihre
grösseren, durch die einzelnen Lappen verlaufenden Verästelungen. Schaumige
Flüssigkeit in geringer Menge enttropfte den verwundeten Lappen. Wenn nun
einerseits die Zeichen von dem Vorhandensein des Wassers fehlten, so zeigte doch
zugleich der reichliche dintige Bodensatz, dass das Wasser sowohl in die Luft*
röhre als auch in die grösseren und kleineren Bronchien gedrungen war, und die
getbeilten Lappen fielen nicht in kleine Scheiben zusammen, wenn man sie nicht
zosammendrückte; that man aber dies, so gaben sie etwas Röthliches. Schau¬
miges ab. Die Herzräume enthielten körniges Blut und zwar die linken mehr als
die rechten. Im Magen von Dinte dunkelfarbiges und mit Dinten-
bodensatz reichlich gemengtes Wasser; Duodenum und Jejunum
waren jedoch noch mehr mit eben demselben Bodensätze gefüllt.
Hirnhäute normal: Sinus longitudinalis leer, Sinus laterales ebenfalls leer,
desgleichen Ventriouli snperiores. Plexus choroidei weder geschwollen noch röth-
lieber als gewöhnlich.
Einen grösseren Hund XL, welcher innerhalb einer Minute gestorben zu
sein schien, Hessen wir 2 Stunden im Wassergefäss; der Kopf nach oben, damit
nichts ausfliessen möge. Im Magen, Duodenum und Jejunum viel
schwarzes Wasser und reichlicher Dintebodensatz. In der Luftröhre
keine schaumige Flüssigkeit; die Lunge war aber sohr aufgetrieben und nach¬
dem sie durchschnitten worden war, entfloss ihr von selbst und in Strömen drei
Unzen einer röthlichen Flüssigkeit mit reichlichem Dintenbodensatz bemengt. In
beiden Herzhöhlen körniges Blut, in der linken reichlicher. Dura mater war viel¬
leicht etwas rötblicher; die Kammern und Sinus longitudinalis leer, Sinus late¬
rales fast leer.“
Hiernach findet man vor 1855 keine in dieser Hinsicht ge¬
machten Beobachtungen. Um diese Zeit sagt Thönissen: „Stirbt
eine Ziege unter Wasser und lässt man sie ruhig ihren Kopf senken,
so kann man die ausgeathmeten Bläschen sehr gut sehen. Die
Lungen marmorirt; Gischt in der Luftröhre; beim Durchschneiden
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254 Dr. Fag^rlund,
der Lungen Gischt da, wo Dintenflüssigkeit war. Därme und Magen
ft
ganz voll Dinte“ ').
Schliesslich führt Schuchardt 2 ) 1862 einen Fall an, in wel¬
chem Ertränkungsflüssigkeit in die Därme gedrungen war, bei einem
von ihm in folgender Weise behandelten Hunde.
Nachdem ein Hund, mit dem Kopfe voran. 1 Minute in eine Blutlaugensalz¬
lösung eingesenkt war. während welcher Zeit fortwährend Luftblasen in die Hohe
stiegen, wurde er herausgenommen, in ein warmes Bad gebracht und so lange in
demselben gelassen, bis er wieder ziemlich gut athmete. und nach 13 Minuten
durch einen Siich in Medulla oblongata getödtet. Section sogleich unternommen.
Die Ertränkungsflüssigkeit war nachzuweisen im Maule, über die Zungenwurzei
hinaus bis in’s Innere des Kehlkopfes. Die Luftwege waren frei von einer schau¬
migen Flüssigkeit; Blutlaugensalz weder in der Luftröhre noch in den Lungen zu
erkennen. An der inneren Fläche der Speiseröhre war Blutlaugensalz an ein¬
zelnen Stellen nachzuweisen. Im Inneren des Magens, der geronnene Milch und
eine helle Flüssigkeit enthielt, ist Blutlaugensalz in bedeutender Menge, so dass
es ausser Zweifel ist, das Thier hat wohl, kopfüber iu’s Wasser gestürzt, die in
den Mund dringende Flüssigkeit verschluckt und in den Magen geführt. Die
ganze obere Hälfte des Darmcanals reagirt im Innern sehr stark auf Fe Gl. Die
Nieren lassen keine Spur von Blutlaugensalz erkennen, ebensowenig der Urin
und die innere Fläche der Harnblase, welche strotzend mit Urin gefüllt ist.
Wenn ein Thier durch Ertrinken stirbt, kann man 3 Stadien
unterscheiden: Im ersten hält das Thier durch wenige Augenblicke
den Athem ein, das zweite ist das Stadium der Dyspnoe und das
dritte jenes der Asphyxie, v. Hofmann führt in Bezug auf diese
Frage Folgendes an 3 ): „Das Einhalten des Atheras im ersten Stadium
geschieht wohl meistens instinctiv, doch fand F. Falk, das3 auch
der durch die plötzliche Einwirkung des Wassers veranlasste Hautreiz
eine reflectorische Respirationshemmung bewirke, die, wenn das Thier
bereits durch frühere Versuche erschöpft war, in andauernden Respi¬
rationsstillstand übergehen konnte, woraus F. schliesst, dass Aehn-
liches auch beim Menschen, wenn Ermattung, psychische Aufregung
u. dgl. Einflüsse dem Gerathen in’s Wasser vorhergingen, oder auch
bei Neugeborenen sich ereignen könne. Im zweiten Stadium tritt Dys¬
pnoe ein, bei welcher Anfangs tiefe, jedoch kurze und von sofortigen
') Thönissen, Der Wassertod, nach der Natur gezeichnet. Vierteljahrs-
schrift für gerichtl. und öffentliche Mediciu. Bd. VIII. Berlin 1855, pag. 341.
2 j Schuchardt, Bernh.. Ueber den Tod durch Ertrinken. Henke’s Zeit¬
schrift für die Staatsarzneikunde. Jahrg. 42. Erlangen 1862, pag. 118.
3 ) v. Hofmann, Eduard, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. Wien und
Leipzig 1887. Bd. II, pag. 573.
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die Gedärme. 255
Exspirationen gefolgte Inspirationen eintreten, während später krampf¬
hafte Exspirationen sich einstellen, ein Verhalten, das analog ist dem¬
jenigen, das man bei der Dyspnoe anderer Erstickungsformen eben¬
falls beobachtet. Im Anfang der Dyspnoe sind sowohl Bewusstsein
als Reflexe erhalten und die kurzen stossweisen Exspirationen, die den
ersten Inspirationen folgen, geschehen offenbar reflectorisoh durch den
Reiz des die Stimmritze berührenden Wassers. Das exspiratorische
Stadium der Dyspnoe lässt sich beim Ertrinken ungleich deutlicher
unterscheiden, als bei übrigen Erstickungsformen, da der jedesmalige
Exspirationskrampf durch Ausstossen von feinblasigem Schaum mar-
kirt wird. Convnlsionen treten fast immer auf, doch sind sie von
verschiedener Heftigkeit. Wir haben sowohl klonische als Streck¬
krämpfe beobachtet. Im dritten oder asphyktischen Stadium finden
wir Bewusstlosigkeit und Daniederliegen der Reflexe und begegnen im
Anfang desselben jenen tiefen, in langen Intervallen sich wiederholen¬
den Inspirationen, die mit Aufreissen des Mundes und Zusammen¬
krümmen des Körpers verbunden sind, die wir oben als terminale
Athembewegungen bezeichnet haben. Letztere lassen sich beim Er¬
trinkungstode besonders deutlich verfolgen und treten in der Mehrzahl
der Fälle auf, dauern jedoch nicht immer gleich lange und bleiben
mitunter ganz aus, ohne dass man andere als innere (individuelle)
Bedingungen dieser Differenzen annehmen kann.“
Um jene Verhältnisse, bei welchen Ertränkungsflüssigkeit in die
Därme lebender Thiere dringen, zu erforschen, habe ich folgendo Ver¬
suche angestellt:
Versuch XLIII. Eine fast ausgetragene, durch den Kaiserschnitt entbun¬
dene junge Katze wurde unmittelbar in eine -j-35°C. warme Berlinerblaulösung
gelegt und 15 Minuten daselbst gelassen. — Herausgenommen, wurde sie so¬
gleich obducirt und wurden dabei Ligaturen sowohl um die Cardia als um den
Pylorus nnd an verschiedenen Stellen der Dünndärme angebracht; Beachtung der
in den vorhergehenden Obdoctionen getroffenen Vorsichtsmaassregeln. Lungen
blau marmorirt, im Wasser schwimmend. Im Magen unbedeutend Luft und eine
Menge klaren, zähen, mit Streifen von Berlinerblau gemengten Schleimes, ln
den Därmen kein Berlinerblau.
Versuch XLIV. Derselbe Versuch wurde an einer zweiten durch den
Kaiserschnitt entbundenen jungen Katze wiederholt. Bei dieser fand man die
Lungen von gleicbmässig blauer Farbe, im Wasser schwimmend. Im Magen nur
wenig Lnft und eine Menge zähen, klaren, mit Berlinerblaustreifen gemengten
Schleimes. In den Därmen kein Berlinerblau.
Versuch XLV. Eine durch den Kaiserschnitt entbundene, beinahe ausge¬
tragene, junge Katze Hess man 15 Minuten nach der Geburt leben, dann wurde
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25G
Dr. Fagorlund,
sie in eine -j- 35° C. warme Berlinerblaulösung gelegt, wo sie noch einige Mal
Luft einathmen durfte, so dass 3 Minuten vergingen, bevor sich die erste termi¬
nale Athembewegung einstellte; das Thier wurde nun 1 2 Stunde in der Farbe¬
lösung gelassen. Bei der Obdaction zeigten sich die Lungen von gleichmässig
blauer Farbe, im Wasser schwimmend. Magen und der obere Tbeil der Dünn¬
därme enthalten Luft, wogegen Berlinerblau nur im Magen, und dort mit einem
ziemlich reichlichen, zähen Schleime gemengt angetroffen wird.
Versuch XLVI. Wiederholung desselben Versuches an einer durch den
Kaiserschnitt entbundenen jungen Katze, welche eine halbe Stunde nach der Ge¬
burt hatte leben und beim Ertränken einige Mal hatte Luft einathmen dürfen.
5 Minuten vergingen, bevor sich die terminalen Athembewegungen einstellten.
Bei der Obduction zeigten sich die Lungen blau marmorirt. Der Magen und der
obere Theil des Darmes enthielten Luft; dagegen wurde Berlinerblau nur im
Magen angetroffen, und dort war es mit einem ziemlich reichlichen, zähen Schleim
gemengt.
Versuch XLVII. Eine träohtige Katze (Mutter der 4 vorigen), an welcher
unter Chloroformnarcose der Kaiserschnitt ausgeführt worden war, nach welchem
eine Ligatur am Uterus gelegt war und die Bauchwunde zugenäht, wurde, nach¬
dem sie vollkommen aus dem Chloroformschlafe erwacht war, in eine Lösung von
salpetersäurigem Silber untergetaucht. Bei der Obduction fand man den Magen
ganz mit grossen Stücken unverdauter Speisestoffe angefüllt. Flüssigkeit wurde
daselbst nicht wahrgenommen, nur in der Gegend der Cardia war die Speise
etwas angefeuchtet und bei Zusatz verdünnter Salzsäure entstand dort ein weisser
Niederschlag von Chlorsilber. In den übrigen Theilen des Magens zeigte sioh
diese Reaclion nicht, ebensowenig wie sie irgendwo anders im Darmcanale her¬
vorzubringen war.
Versuch XLVI1I. Eine Katze wurde eine Minute in einer Berlinerblau¬
lösung gehalten und dann herausgenommen. Nach 3 Minuten war die Respiration
wieder regelmässig. Das Tbier wurde alsdann vermittelst eines Stiches in die
Medulla oblongata getödtet. Bei der Obduction wurden die Lungen ziemlich
blaufleckig gefunden. Der Magen mit ziemlich grossen Speisestüoken angefüllt;
Berlinerblau mit der Speise vermischt; in den Därmen aber kein Farbestoff.
Versuch XLIX. Eine Hündin wurde während einer Minute in einer Ber¬
linerblaulösung versenkt gehalten. Herausgezogen, machte sie noch 6 terminale
Athembewegungen und während etwa einer Minute Hessen sich sogar Herztöne
vernehmen, das Thier konnte aber nicht mehr zum Leben gebracht werden, son¬
dern starb. 15 Minuten nachdem die Hündin aus der Lösung gezogen worden
war, wurde um den Pylorus herum eine Ligatur angebracht. Der Magen zeigte
sich von der Farbelösung und einer unbedeutenden Menge Schleim aosgespannt.
Bis 22 cm weit im oberen Theilo der Dünndärme wurde Berliner¬
blau mit kurzen Unterbrechungen streifenartig angetroffen; es
war innig mit dem Darminhalte gemengt, welcher letztere aus
einem gelblich grauen, trüben Schleime bestand.
Versuch L. Eine Katze wurde mit dem Rücken an ein Brett festgebunden
und dann, den Kopf voran, während 2 Minuten in einer Berlinerblaulösung ge¬
halten. Wieder herausgezogen, konnte das schon stehen gebliebene Herz durch
Klopfen in der Herzgegend wieder in Bewegung versetzt werden. 10 Minuten
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsfliissigkeit in die Gedärme. 257
nach dem Hervorziehen hatte sich das Thier schon recht gut erholt und die Re¬
spiration war wieder ganz regelmässig. Alsdann wurde ihr eine Spritze voll
Blausäure (welche einige Zeit gestanden hatte) injicirt und 5 Minuten später
Hessen sich keine Herzbewegungen wahrnehmen. 17 Minuten, nachdem das Thier
herausgezogeu worden, ward um den Pylorus eine Ligatur angebracht. Bei der
Obduction zeigte sioh der Magen zu l / z mit Farbefliissigkeit und unbedeutendem
Schleim angeföllt. Im Duodenum wird Berlinerblau bis 2 cm unter¬
halb des Pylorus' weiter aber nicht, wahrgenommen.
Versuch LI. Ein Hund, welcher 24Stunden gefastet hatte, wurde in eine
Berlinerblaulösung gelegt und 4 Minuten später todt herausgenommen. Bei
der nach 24 Stunden vorgenommenen Obduction wurden die Lungen blaumar-
morirt. der Magen von Farbelösung ausgedehnt gefunden; letztere war weder
im Duodenum noch im Jejunum nachweisbar; sie enthielten nur
einen zähen, gräulich gelben Schleim.
Versuch LII. Ein Hund wurde mit dem Rücken an ein Bett festgebunden
und dann so ertränkt, dass der Kopf und der halbe Körper während einer halben
Minute in der Flüssigkeit untergetaucht wurden; darauf wurde er herausgenom¬
men und durfte während 5 Secunden alhmen; während einer halben Minute
wieder untergetauoht, während 5 Secunden herausgezogen, wurde er schliesslich
noch einmal während einer halben Minute untergetaucht und nach 5 Secunden
herausgenommen, worauf er wieder in die Farbeflüssigkeit gelegt und 5 Minuten
daselbst gelassen wurde. Bei der Obduction zeigte sich der Magen von Luft ziem¬
lich ausgedehnt und ausserdem eine ansehnliche Menge der Farbelösung ent¬
haltend; dagegen lässt sich keine solo he in den Dünndärmen wahr¬
nehmen.
Versuch LIII. Ein Hund, welchen man 20 Tage hatte fasten lassen,
wurde in derselben Weise wie der im vorigen Falle ertränkt, nur mit dem Unter¬
schiede. dass der Hund 5 Mal Luft schöpfen durfte, jedes Mal während 5 Se¬
cunden. Bei der Obduction wurde ziemlich viel Farbeflüssigkeit im Magen ange¬
troffen; auch bis 21 cm weit in den Dünndärmen fand sich dieselbe
mit kurzen Zwischenräumen in Streifen vor und war mit dem die
W r ände bekleidenden, gelblich grauen, trüben Schleime innig ver¬
mischt.
Versuch LIV. Derselbe Versuch wurde an einem Hunde wiederholt, wel¬
cher seit 24 Stunden keine Nahrung erhalten hatte. Auch hier war die
Farbelösung 20 cm weit in die Därme vorgedrungen, trat wie zuvor
in Streifen auf und war ebenfalls mit dem die Wände bekleidenden
gelblich grauen, trüben Schleime innig vermisoht.
Versuch LV. Derselbe Versuch wurde an einem fastenden Hunde wieder¬
holt. welcher 3 Mal. jedesmal während 5 Secunden, Luft zu sich nehmen durfte.
Bei der Obduction zeigt sich der Magen von Gasen stark aufgetrieben; auch ent¬
hält er eine ziemlich grosse Menge der farbigen Flüssigkeit, welche nicht in den
Därmen angetroffen wird.
Versuch LVI. Derselbe Versuch wurde an einem fastenden Hunde wieder¬
holt, welcher 5 Mal Luft einathmen durfte (immer während 5 Secunden). Bei
der 24 Stunden später vorgenommenen Obduction fand man den Magen von der
Farbelösung mässig ausgespannt; diese ist auch 21 om weit in de n Dünn-
Yierteljahneelur. t ger. Med. N. F. UI. 8.
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darm ein gedrungen, wo sie mit dem daselbst befindlichen gelblich
braunen, zähen Schleime innig vermischt ist. Am reichlichsten ist die
blaue Farbe im unteren Theile vom Duodenum vertreten, ln den 3 letzten Centi-
metern kommt sie nur sehr spärlich, aber ohne Unterbrechung vor. Lungen blau
marmorirt.
Versuch LVII. Wiederholung desselben Versuches an einem fastenden
Hunde, welchor 5 Mal (jedesmal während 5 Secunden) Luft einathmen durfte.
Bei der 24 Stunden später vorgenommenen Obduction wurde eine ziemliche
Menge von Farbestoff im Magen angetroffen, so dass dieses Organ davon massig
ausgedehnt war. Im oberen Theile des Dünndarmes, 20 cm weit,
kommt auch Farbelösung vor. In den obersten 11 cm reichlicher, weiter
hinab spärlich und mit kleinen Unterbrechungen, überall aber mit dem Darm¬
schleime innig vermischt. Lungen blau marmorirt.
Versuch LVIII. Wiederholung desselben Versuches an einem fastenden,
5 Wochen alten Hunde, welcher 8 Mal (jedesmal 5 Secunden) Luft einholte.
Schon als man ihn zum dritten Male aus der Lösung hervorzog, schien er todt
zu sein. Die 24Stunden später vorgenommene Obduction zeigte, dass die Lungen
ganz hell gefärbt waren. Farbelösung wurde nur in den Bronchien am Hilus an¬
getroffen. Im Magen fand sich eine geringe Menge der Ertränkungsflüssigkeit, in
den Därmen aber keine Spur derselben.
Bei diesen sämmtlichen 16 Versuchsthieren war also die Er-
tränkungsflüssigkeit in den Magen, aber nur bei 6 derselben bis in
die Därme eingedrungen. Erforscht man die Factoren, welche hier
einen Einfluss geübt haben, so findet man, vdass besonders 2 Um¬
stände dem schnellen Befördern der Ertränkungsflüssigkeit durch den
Magen in die Därme hemmend entgegenzutreten scheinen; nämlich
erstens, wenn das Ertränken so schnell geschieht, dass jedes weitere
Einathmen von Luft unmöglich gemacht wird, und zweitens, wenn
beim Ertränken der Magen noch vorher genossene Speisen enthält.
Ein leerer Magen, eine „prolongirte“ Ertränkung mit wiederholter Ge¬
legenheit zur Luftrespiration scheinen dagegen das Eindringen der
Ertränkungsflüssigkeit in die Därme im hohen Grade zu begünstigen.
Ausserdem scheint hervorzugehen, dass die genannte Flüssigkeit eine
gewisse Zeit braucht, um noch vor dem Tode des Thieres durch den
Magen hindurch dringen zu können. Dass diese Zeit nicht lang zu
sein braucht, erweist sich dadurch, dass die Ertränkungsflüssigkeit
auch in den Fällen bis in die Därme vorgedrungen war, in denen
der Ertränkungsact nur durch kaum 3 Minuten prolongirt worden war.
Wenn ein Mensch den Erstickungstod durch Ertrinken erleidet,
so tritt die Bewusstlosigkeit sehr bald, nachdem die Respiration ganz
und gar unmöglich gemacht worden ist, ein, gewöhnlich schon vor-
Beendigung der ersten Minute und ihr Eintreten fällt mit dem der
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsfliissigkeit in die Gedärme. 259
allgemeinen Convulsionen und des Exspirationskrampfes zusammen,
welche in der ersten Hälfto der zweiten Minute ihre Höhe zu er¬
reichen pflegen. Zwar machen sich individuelle Verschiedenheiten ein
Wenig gelten, da ja nicht Jedermann den Athem gleich lange ein¬
zuhalten vermag. Da aber die Meisten kaum länger als 30—40 Se-
eunden den Athem einhalten können, und es ausserdem bekannt ist,
dass die geübtesten Taucher nie länger als 50 Secunden unter Wasser
auszuhalten vermögen, so können auch hierbei keine grossen Diffe¬
renzen Vorkommen. In verschiedenen Fällen wird jedoch das Ein¬
treten jenes Momentes, in welchem die Luftrespiration unmöglich ge¬
macht wird, durch mehrere Umstände verzögert und zwar ganz be¬
sonders durch bedeutende Körperstärke und Fertigkeit im Schwim¬
men. Auch wird, wie es v. Hofmann hervorhebt, die Erträn-
kungsflüssigkeit besonders im Anfänge des Stadiums der Dyspnoe
verschluckt und gelangt somit in den Magen.
Was nun die Zeitdauer anbelangt, welche ein in den Magen ein-
geführtcr Stoff unter gewöhnlichen Verhältnissen braucht, um ge¬
nanntes Organ zu durchschreiten und von da in die Därme zu ge¬
langen, so machen die Physiologen darauf aufmerksam, dass dies im
hohen Grade von der Menge und der Beschaffenheit der in den Magen
gelangten Stoffe abhängig ist, sie heben aber zugleich hervor, dass
man bei Menschen und Thieren mit Duodenal fisteln beobachtet hat,
dass der Austritt kleiner Speisetheilchen aus dem Magen 10 ä 20 Mi¬
nuten nach geschehener Nahrungsaufnahme beginnt'). Die oben mit-
gctheilten Thierexperimente deuten jedoch darauf hin, dass ein sol¬
cher Uebergang der in den Magen eingeführten Stoffe unter ver¬
schiedenen Umständen weit schneller vollzogen werden kann und dass
er besonders beim Ertrinken oder beim Erstickungstode überhaupt
wirklich viel schneller vollzogen wird. Dass in dieser Beziehung die
Umstände bei Menschen und Thieren gleich sind, wird unter anderem
durch folgenden, von Falk a ) mitgetheilten Fall dargelegt: „Ein
Gjähriger Knabe, welcher neben einem mit 30 Centner Kartoffeln be¬
ladenen Wagen einherlief, gerieth unter denselben und wurde derart
überfahren, dass ihm das linke Hinterrad über die Brust ging. Der
*; Wundt, Wilh., Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Erlangen
1873, pag. 211, und Busch. W., Beitrag zur Physiologie der Verdauungs¬
organe. Virchow’s Archiv Bd. XIV, pag, 140.
2 y Falk, Kurzes Verweilen von Ingesta im Magen. Vierteljahrsschrift für
gerichtliche Medicin. X. F. Bd. XLVI. 1887, pag. 155.
17*
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Dr. Fagerlund,
Kutscher, der dies noch sah, konnte den Knaben nicht gleich hervor¬
ziehen; als er sofort zu ihm eilte, sah er, wie dem Ueberfahrenen
Blut aus Mund und Nase strömte. Der Knabe bewegte noch Arm
und Bein und hielt krampfhaft die Hand des Kutschers fest. Als
er aber hervorgezogen werden konnte, fanden ihn der Kutscher und
der schnell hinzugekommene Vater bereits todt. Diese Katastrophe
spielte sieh erwiesenermäassen und begreiflicherweise innerhalb weni¬
ger Minuten ab. Vom Sectionsbefunde erwähne ich nur Folgendes:
Bei ziemlich unversehrten Hautdecken war der linke Schildknorpel
dicht neben der Mittellinie in seiner ganzen Länge durchbrochen;
dieser Bruch setzte sich durch den Ringknorpel und zwei Tracheal-
ringe fort; es klaffte der Spalt bis auf 5 mm Weite. Während die
Bruchränder nur wenig blutunterlaufen waren, fanden sich Blut an
der Zungenwurzel und dünne, dunkle Blutgerinnsel in zahlreichen
Abschnitten des Bronchialbaums. Auch die Speiseröhre enthielt Blut,
welches hier eine faserige Form hatte. Der Magen war sehr
stark .mit dunklem, dicklichen Blute gefüllt; solches fand
sich aber weichgeronnen nicht bloss im Duodenum, son¬
dern weit in’s Jejunum vorgedrungen. Eine Imbibition der
Darm wand hatte daselbst noch nicht Platz gegriffen; letztere war
vielmehr merklich blass und intact.“
Besonders ein Umstand ist beim Erstickungstode dazu geeignet,
das Eintreten der in den Magen gelangten Stoffe in die Därme zu
beschleunigen. Dieser Umstand ist das (seitdem man überhaupt phy¬
siologische Beobachtungen angestellt hat) bekannte Phänomen, dass
die peristaltischen Bewegungen des Magens und der Därme nach dem
Aufhören der Respiration und der normalen Thätigkeit des Herzens
im hohen Grade beschleunigt werden. Und diese beschleunigte postmor-
talo Magen- und Darmperistaltik befördert offenbar auch beim Ertrin¬
kungstode die während des Ertrinkens verschluckte Flüssigkeit aus
dem Magen in die Dünndärme hinein und in ihnen weiter hinab.
Hinsichtlich der Dauer dieser postmortalon Magen- und Darmbewe¬
gungen habe ich keine näheren Angaben angetroffen.
In den meisten der angeführten Fälle, in denen Ertränkungs-
flüssigkeit in den Därmen angetroffen wurde, sehen wir (und zwar
besonders deutlich da, wo das Ertrinken in einer mehr specifischeu
oder dick breiigen Flüssigkeit geschah) dieselbe innig mit dem Darm¬
inhalte vermischt und überhaupt nicht auf der ganzen Strecke, wo
sie angetroffen wird, gleichmässig verbreitet, sondern mit grösseren
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Ueber das Eindringen von Ertränkungsflössigkeit in die Gedärme. 261
und kleineren Unterbrechungen in querlaufenden Streifen angehäuft,
zwischen denen kaum Spuren derselben zu entdecken sind. Diese
beiden Erscheinungen zeigen auch deutlich, dass die peristaltischen
Bewegungen des Magens und der Därme die Kraft sind, welche die
Ertränkungsflössigkeit vorwärts befördert hat.
Da in dem Vorhergehenden gezeigt worden ist, wie schwierig das
postmortale Eindringen von Ertränkungsflössigkeit in den Magen ist,
und das Eindringen derselben in die Därme einer Leiche fast un¬
möglich, so muss der Befund von Ertränkungsflössigkeit in den Wär¬
men voraussetzen, dass das Individuum lebend in dieselbe gerathen
ist. Somit ist der Befund von Ertränkungsflössigkeit in den Därmen
eins der sichersten Zeichen des Ertrinkungstodes 1 ).
Hierbei kann nur ein Theil solcher Fälle (einige solche sind auch
oben roitgetheilt worden), wo, bei Wasserleichen der Magen leer oder
fast leer, die Därme mehr oder weniger mit Wasser angefüllt sind,
uns in Zweifel versetzen und gewissermaassen eine Ausnahme vom
obigen Satze bilden. Bisweilen kann man sich nämlich fragen, ob
diese Wassermasse bereits beim Ertrinken, oder ob sie erst nach dem
Tode aus dem Magen in die Därme eingeflossen ist. Da jedoch auf
diese Frage meine Untersuchungen keine bestimmte Antwort geben,
so muss sie bis auf Weiteres unbeantwortet bleiben. Indessen ist die
Wahrscheinlichkeit des Ertrinkungstodes in diesen Fällen um so viel
grösser, je grössere Mengen Flüssigkeit die Därme enthalten.
Aus dieser Abhandlung geht also hervor:
1. Dass Ertränkungsflüssigkeit unter gewöhnlichen Umständen
post mortem weder in den Magen noch per An um ein¬
dringt.
2. Dass Flüssigkeit, nur wenn sie mit einem besonders star¬
ken Drucke wirkt, post mortem vom Magen aus in die
Därme gelangen kann.
*) ln diesem Zusammenhänge dürften vielleicht die von dem Belgischen
Arzte Mattbysen an vergrabenen Thieren angestellten Untersuchungen genannt
werden. Aus ihnen geht hervor:• „dass bei einem Thiere, welches todt vergraben
worden ist, pulverförmige Stoffe in Mund, Schlund und Kehlkopf eindringen
können, aber damit sie tiefer und besonders in den Magen und in die Därme ein¬
dringen sollen, ist es durchaus nöthig, dass das Vergraben vor dem Tode ge¬
schehen. und das lebende Thier Schlingbewegungen ausgeführt hat.“ Annales
d’hygiene publique et mödecine ldgale. Paris 1843. Tom. XXX, pag. 225.
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Dr. Fagerlund.
3. Dass, wenn Jemand lebend in eine Flüssigkeit geräth und
darin umkorarat, jene Flüssigkeit gewöhnlich in dem
Magen, bisweilen auch in den Därmen angetroffen wird.
4. Dass der Pylorus in einem gewissen Maasse dem Ueber-
gange der Ertränkungsfliissigkeit aus dem Magen in die
Därmo hinderlich zu sein scheint.
5. Dass die peristaltischen Bewegungen des Magens und der
Därme jene Kraft sind, durch welche die Ertränkungs-
flüssigkeit aus dem Magen in die Därme und in ihnen
weiter hinab befördert wird.
6. Dass das Eindringen der Ertränkungsflüssigkeit aus dem
Magen in die Därme leichter bei einem leeren als bei
einem mit Speisen gefüllten Magen stattfindet.
7. Dass ein prolongirtes Ertrinken das Eindringen der Er¬
tränkungsflüssigkeit in die Därme zu begünstigen scheint.
4.
Feber ein lenes werthvolles Zeichea des Ertriakaagstades.
Von
Dr. C. Seydel,
Stadt Wundarzt zu Königsberg.
Der Ertrinkungstod gehört zu den interessantesten und daher auch vielfaoh
bearbeiteten Thematen der gerichtlichen Medicin; Paltauf in seinen 1888 in
Wien heraasgegebenen Studien über den Tod durch Ertrinken fährt die stattliche
Reibe von 157 Aufsätzen an, hierzu kommt sein eigener Aufsatz und einer ans
demselben Jahre von Brouarde) im Archiv gen. de physiologie. Die Erschei¬
nungen des Ertrinkungstodes bieten demnach eine solche Fülle von verschiedenen
Bildern, dass deren Erklärung die Autoren immer von Neuem anzuziehen im
Stande ist. Die bekannteren und in der Mehrzahl der Fälle wohl regelmässig
beobachteten Erscheinungen an Ertrunkenen sind nach den neuesten Lehrbüchern
von E. Hol mann z. B. 1) die auffallende Kälte der Leiche, nach Merzdorf zu
erklären durch die starke Durchfeuchtung der Haut und den stärkeren Wärmever¬
lust durch die rege Wasserverdunstung. Ein Symptom, das natürlich jeder län¬
gere Zeit im Wasser befindlichen Leiche eine gewisse Zeit lang eigentümlich
und gleichwertig mit der Aufquellung der Epidermis, wo sie in stärkeron
Schichten vorkommt, z. B. an Palma und Planta, ist.
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Dr. Seydel.
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2 ) Eine auffallende Blässe der Haut, sowie die besonders deutlich hervor-
tretende Gänsehaut, die Runzelung des Hodensackes bei Männern ist der Aus¬
druck der starken Contractioh der glatten Muskelfasern und wird bei frischen
Wasserleiohen wohl regelmässig nachzuweisen sein. Doch ist eine röthliche bis
bläulich rothe Verfärbung des Gesichtes, ähnlich wie bei Erhängten, wie ich mich
an fünf in diesem Sommer genau beobachteten Fällen überzeugen konnte, eine
schon wenige Stunden nach der Entfernung aus dem Wasser auftretende Er¬
scheinung.
3) Sohaum vor Nase und Mund, der sich von selbst bildet oder pilzförmig
bei Druck auf den Thorax und das Abdomen hervortritt, ist das wichtigste und
bei wirklichem Ertrinkungstode bes. bei kräftigen Personen wohl nie fehlende
Charakteristikum der Ertrunkenen. Den Grund und die Variationen dieser Er¬
scheinung werden wir später noch kurz besprechen.
4) Als Erscheinungen am Auge führt Hofmann ferner an: Ecchymosen in
der Conjunctiva. doch setzt er hinzu, sie wären beim Ertrinkungstode im Wasser
wohl nie, wiederholt aber bei in dicker Abortjauche Ertrunkenen, namentlich bei
Kindern beobachtet.
Zu den Erscheinungen am Auge, die ich näher zu besprechen habe, fügt
Paltauf hinzu: „Eoobymosen der Bindehäute sind an Erwachsenen selten. Hin¬
gegen sieht man die Conjunctiven nicht selten livid oder violett als Theilerschei-
nung der O^anose des gesenkten Kopfes. Bei Kindern sind ecchymosirte Con-
junotiven ein gewöhnlicher Befund. Manchmal nehmen auch die Augenlider und
deren äussere Haut Theil daran. *
Ueber alle'diese Erscheinungen sagt er, „sie wären nur im Stande zu be¬
weisen, dass die Leiche im Wasser, vielleicht annähernd wie lange gelegen habe,
einen Anhaltspunkt über das Punctum saliens der Todesursache gäben sie nicht.“
Als charakteristisch für den Ertrinkungstod giebt Pal tauf am Schlüsse
seiner Arbeit 1) das Eindringen von Ertrlhrkungsflüssigkeit in die Lungen an.
Von dieser Flüssigkeit lässt sich nachweisen, dass sie zunächst die an der Lun¬
genwurzel gelegene Gewebspartie erfüllt, sodann aber auch in die entferntesten
einzudringen vermag, und dass die Oberlappen im Allgemeinen die meiste Er-
tränkungsflüssigkeit enthielten. Dieses Eindringen findet seinen Grund in dem
Eintreten von Ertränkungsflüssigkeit in die Alveolen und von hier aus auf prä-
formirten Wegen (Kiltleisten und Saftspalten), mitunter auch durch kleine Lä¬
sionen der Alveolenwand in das Lungengewebe.
2) Das Blut eines Theiles der Ertrunkenen erfährt eine Verdünnung; die
selbe ist das Ergebniss einer vital von den Lungen her erfolgenden Aufnahme
von Ertränkungsflüssigkeit. Diese Blutverdünnung ist selten über den ganzen
Körper verbreitet, meist ist sie auf die linken Herzhöhlen und die Aorta be¬
schränkt. Der Nachweis der Verdünnung des Blutes könnte unter gewissen Be¬
dingungen als diagnostisches Hülfsmittel verwendet werden.
Diese Aufnahme von Flüssigkeit in das Blut hat Paltauf hauptsächlich
mit dem Fleis chl’schen Hämometer nachgewiesen, wie aus seinen mitgetheilten
Fällen hervorgeht mit sehr wechselndem Erfolge, ohne dass eine durchgreifende
Erklärung dafür von ihm erbracht worden wäre. Doeiine hat die Aufnahme von
Ertränkungsflüssigkeit in das Blut sohon früher in einer experimentellen Arbeit
nacbgewiesen und dasselbe im Transsudate des Herzbeutels im Praemediastinum
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Dr. Seydel.
und im perirenalen Bindegewebe nachgewiesen. Wasbuzki hat das Auftreten
chemisch differenter Stoffe aus der Ertränkungsflüssigkeit an Blut und Harn nach-
gowiesen und wie Ewald und Robert eine Verbreitung durch die Lymphbahnen
nachgewiesen.
Als Ausdruck dieser Aufnahme von Flüssigkeit in das Blut beim Ertrin¬
kungstode glaube ich eine Veränderung am Auge ansehen zu müssen, die von
Pal tauf zwar nicht in seiner citirten Arbeit, aber wie es scheint in einem Refe¬
rate über seine Studien in Wiener Vereinen kurz berührt ist. In einem Berichte
von Drasohe in der Wiener Klinik vom März d. J., der nebenbei einige starke
Uebertreibungen und Ungenauigkeiten enthält, heisst es, P. habe auf dem Auge
Ertrunkener kleine graue und röthliche Pocken und Ecchymosen in der Conjunc-
tiva nachgewiesen. Wenn diese Notiz bei dem allgemeinen Charakter des
Drasche’schen Referates nicht allzu viel Werthschätzung zu verdienen scheint,
so berührt sie doch einen Punkt, den ich nach mehrfachen Beobachtungen für
die Diagnose des Ertrinkungstodes als wesentlich zu halten mich berechtigt glaube.
Durch einen Zufall habe ich in diesem Frühjahr und Sommer mehrere, im
Ganzen 12 frische Leichen Ertrunkener, fast durchweg junger kräftiger Personen,
die grösstentheils beim Baden verunglückten, zu untersuchen Gelegenheit gehabt
und bei denselben fast übereinstimmend folgenden Befund erhoben: Die Augen¬
lider waren manchmal etwas blaurötblich verfärbt und etwas gesobwollen. manch¬
mal unverändert und nicht vollständig geschlossen. Auf dem in d*r Lidspalte
befindlichen, also unbedeckten Corneaitheile befanden sioh mehrere, 12—15
etwas über mohnkorngrosse, graue, phlyctänenartige Erhebungen, die in älteren
Fällen abgewischt, oder auf andere Weise zerstört, die des Epithels beraubte,
blankspiegelnde Fläche desCornealgewebes erkennen liessen. Bei genauerer Unter¬
suchung solcher Bulbi. die ich zu diesem Zwecke vorsichtig enucleirte, fand sich
die von den Lidern bedeckte Cornea gewöhnlioh in ihrer ganzen Ausdehnung
rauchig getrübt, mit etwas gequollener Epitheldecke überzogen. Diese Erschei¬
nung trat am deutlichsten hervor, wenn man einen solchen Bulbus einige Stun¬
den in 50proc. Alkohol legte. Die Conjunctiva war in diesen Fällen fast regel¬
mässig injicirt und zwar im peripheren, der Uebergangsfalte anliegenden Theile
weit stärker, als in dem um die Cornea belegenen centralen. Die Färbung der
Injeotion variirte nach dem Alter der Leiche, d.h. je nach der Zeit, die sie ausser¬
halb des Wassers zugebracht, vom Blassröthlichen in’s Dunkelviolette, fehlte aber
in ausgesprochener Weise an den von mir beobachteten Fällen fast nie. In der
blassröthlichen Injection der Gefässe konnte man in 2 Fällen deutliche, stern¬
förmige, blauröthliche Ecchymosen unterscheiden. Die Ertrunkenen hatten mit
einer Ausnahme ihren Tod im Pregel und den Festungsgräben bei der Stadt ge¬
funden.
Ob in den Leichen im Winter Ertrunkener sich diese, im Sommer deutlich
hervortretenden Veränderungen der Cornea ebenso ausgeprägt finden, habe ich
bis jetzt nachzuweisen noch nicht genügende Gelegenheit gehabt, möchte aber
glauben, dass im kalten Wasser und bei niederer Lufttemperatur sich diese zum
grossen Theil der Maceration analogen Erscheinungen zum mindesten langsamer
entwickeln werden. Für Leichen im Sommer Ertrunkener glaube ich diesem Zei¬
chen einen nicht unerheblichen diagnostischen Werth beilegen zu dürfen.
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5.
Ucker Bippeabrflehe na gerichtsflrstlichea SUidpaikte ans.
Von
Dr. Anutein in Ratibor.
Rippenbrüche dürfen bei ihrer unbestrittenen Häufigkeit — sie repräsen-
tiren nach verschiedenen Statistiken ’) ca. 13 —16 pCt. aller Fracturen — auch
das Interesse des Gerichtsarztes in erhöhtem Maasse beanspruchen, wie auch
die tägliche Erfahrung lehrt, dass sein sachverständiges Gntachten oft genug,
sowohl von dem Criminal- als Civilforum in vielseitigster Beziehung über jene
Verletzungen provocirt wird. — Da der weitaus grösste Theil der Rippenbrüche
weder unmittelbar, noch mittelbar zum Tode führt, gelangt auch die überwie¬
gende Zahl derselben nur an lebenden Individuen zur Begutachtung des Gerichts¬
arztes. Vor beiden Foris pflegt dann zunächst an ihn, nachdem nach allgemein
geltenden klinischen Grundsätzen und Methoden die Existenz des Rippenbruches
constatirt ist, die Frage heranzutreten, ob der festgestellte Rippenbruch in ur¬
sächlichem Zusammenhänge mit einer in Rede stehenden incriminirten Gewalt¬
einwirkung stebt. Die Beantwortung dieser Frage sollte nur dann bestimmt und
präois ausfallen, wenn der völlig erwiesene Thatbestand ergeben hat, dass ausser
der incriminirten Schädlichkeit keine irgendwie gleich geartete ätiologisch in
Frage kommen konnte und jene mit genügender Intensität eingewirkt hat. um
den Rippenbruch als nothwendige Folge erscheinen zu lassen. Trifft jene Voraus¬
setzung nicht zu, so kann der Gerichtsarzt bloss die Möglichkeit eines Causal-
nexus durch Berücksichtigung der Art der Gewalteinwirkung, der Umstände des
Falles und der klinischen Erscheinungen, sowie der subjectiven Symptome, die
der Betroffene nach der incriminirten Gewalteinwirkung dargeboten hat, zugeben.
Was die erstere betrifft, so weist uns die Erfahrung darauf hin, dass den Thorax
oircumscript treffende Gewalten — und diese sind die häufigsten — meist directe
Brüche 3 ), auch Brüche nach Innen genannt, veranlassen, indem sie einfach an
der Stelle ihrer Einwirkung den Rippenbogen nach seiner Concavseite hin ein-
drücken. Dagegen pflegen Gewalten, die den Brustkorb entweder in der Richtung
von vorn nach hinten oder in diagonaler Richtung zusammenpressen, meist in-
directe Brüche im Gefolge zu haben. Der Mechanismus dieser Fracturen gleicht
dann in seiner Entstehung dem des Einknickens eines Stabes, dessen beide Enden
zusammengebogen werden: Die Rippen brechen alsdann nicht da, wo die Gewalt
') König, Allgemeine Chirurgie. Bd. II. Gurlt, Archiv für klinische
Chirurgie. Bd. III, Heft II: Normalstatistik für die relative Frequenz der
Knochenbräche.
3 ) Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie und Operaliouslehre. Bd. II:
Brüohe der Rippen.
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266
Dr. Arnstein,
eingewirkt hat, sondern da, wo die stärkste Biegung stattfand. Diese beiden
eben entwickelten Mechanismen können sich nun selbstverständlich nuoh zu ge¬
meinschaftlicher Wirkung vereinigen, wie wir auch in der That bei Einwirkung
schwerer Gewalten, beispielsweise beim Auffallen schwerer Lasten und beim
Ueberfahrenwerden. theils einem directen, theils einem indirecten Zerbrechen in
der Hegel einer grösseren Zahl von Rippen an verschiedenen Stellen begegnen. —
Es ist aber noch ein anderer Factor von entscheidendem Einflüsse darauf, ob die
den Thorax treffende Schädlichkeit an der direct getroffenen Stelle oder an einer
entfernten einen Rippenbruch herbeiführt -— die Elasticität der Rippen. Je
elastischer diese, desto grösser ceteris paribus die Chancen für indirecte Brüche,
denen wir in Folge dessen aus noch zu entwickelnden Gründen häufiger bei
jugendlichen Individuen, als bei älteren und Greisen begegnen werden. Immer¬
hin bleiben die indirecten Brüche im Allgemeinen weit in der Minorität; da nun
ausserdem die meisten Gewalten mit Vorliebe die Vorder- und Seitenflächen des
Thorax treffen, so finden wir die Continuitätstrennungen der Rippen auch meist
in deren mittleren Theile und sehen nur bei indirecten Fracturen die Bruchstelle
sich mehr zum Vertebralende der Rippen hin verschieben.
Nicht minder vorsichtig wird sich der Gerichtsarzt in Betreff des ätiologi¬
schen Zusammenhanges zu äussem haben, wenn die in Betracht kommende Ge¬
walteinwirkung nur eine geringe war; zur Begründung seiner Annahme wird er
alsdann nicht verfehlen, die individuelle Körperbeschaffenheit des Verletzten als
prädisponirendes Moment heranzuziehen. Eine solche individuelle Prädisposition
wird am häufigsten durch höheres Alter der Betroffenen geschaffen; die in dieser
Altersperiode zunehmende Verkalkung und Verknöcherung der Rippenknorpel, die
fortschreitende Brüchigkeit der Rippen selbst, bedingt durch Erweiterung ihrer
Markhöhle und Verdünnung der Corticaisubstanz, sowie die zuweilen eintretende
ankylotische Verwachsung der hinteren Rippengelenke mit den Wirbeln bringt es
mit sich, dass die Rippen auch auf die geringfügigste Schädlichkeit mit einem
Bruche reagiren.
Noch grössere Reserve sollte sich der Gerichtsarzt in Betreff der Bestimmt¬
heit der in Rede stehenden gutachtlichen Aeusserung auferlegen, wenn, — wie
dies durchaus nicht selten der Fall ist — spontane Brustmuskelanstrengungen,
die erwiesenermaassen zeitlich mit der inoriminirten Gewalteinwirkung zusammen-
fielen, für die Entstehung des Rippenbruches verantwortlich gemacht werden;
geben doch alle Autoren ziemlich übereinstimmend zu, dass auch blosse
Muskelaction im Stande ist, einen Rippenbruch hervorzubringen. So führt
Gurlt 1 ) 14 sicher verbürgte Fälle an, in denen der Bruch zum grössten
Theile (10 Mal) durch Husten, sonst durch verstärkte Action der Bauch¬
muskeln bei brüsken Bewegungen zu Stande gekommen war. Wenn nun
auch bei den atrophischen Rippen alter Leute oder bei zufälliger Rippen-
usur. z. B. durch ein Aortenaneurysma der Mechanismus solcher Fractur
ziemlich verständlich ist, so lässt sich doch schwer für derartige Fracturen bei
jüngeren Individuen, die bisher völlig gesund waren oder wenigstens keinen Ver¬
dacht auf vorherige Rippenerkrankungen zuliesson, ein wirklich stichhaltiger
Grund an fuhren. Dessen ungeachtet hat jedoch der Gerichtsarzt mit der Mög-
') Gurlt, Handbuch der Lehre von den Knochenbrüchen. Theil I.
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Ueber Rippenbrüche vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus. 267
lichkeit soloher Entstehungsweise, die nun einmal sicher constatirt ist. gegebenen
Falles zu rechnen; zuweilen handelt es sich dabei sogar um sehr verwickelte Zu¬
fälligkeiten des Tbatbestandes, die es dem Gerichtsarzte, wie in einem Fried-
berg’schen ') Gutachten, nicht ersparen, die ätiologische Frage lediglich in sus¬
penso zu lassen.
Nach Erörterung dieser ursächlichen Frage liegt der Schwerpunkt der ge¬
richtsärztlichen Aufgabe sowohl vor dem Straf- als Civilgericht weiterhin darin,
die Abhängigkeit etwa vorhandener Gesundheitsstörung, gleichviel ob sich solche
nur in der Functionsunfähigkeit einzelner Organe oder in einer Schwächung der
Gesammtconstitution zu erkennen giebt, von dem constatirten Rippenbruche dar-
zuthun. Stets werden den Gerichtsarzt bei der Lösung dieser Aufgabe seino Er¬
fahrungen über den gewohnten klinischen Verlauf der Rippenbrüche leiten, deren
SchwWe, wie gleioh vorweg bemerkt werden soll, wesentlich durch die sie be¬
gleitenden Complicationen bedingt ist. Diese Erfahrungen weisen darauf hin,
dass uncomplicirte Rippenbrüche, mit Ausnahme der Splitterbrüche, gewöhnlich
einen durchaus günstigen Verlauf nehmen; dabei ist es ganz gleichgiltig. ob es
sich nur um eine incomplete Fractur — sei es nun ein Längsbruch oder eine In-
fraction — oder um eine vollständige Schräg-, Quer- oder Doppel-Fractur han¬
delt; die Vereinigung der Bruchenden erfolgt fast immer anstandslos nach mehre¬
ren Wochen durch knöchernen Callus, der sich bei mangelnder Dislocation kaum
durch die Untersuchung constatiren lässt. Derselbe wird aber auch dann wenig
voluminös, wenn eine Dislocation der nebeneinander stehenden Fragmente einer
oder weniger Rippen nach Innen stattgefunden hat; erst wenn mehrere Rippen
gebrochen, eventuell auch die dazwischen liegenden Intercostalmuskeln zerrissen
sind, können die Fragmente nicht nur nach einwärts dringen, sondern sich so¬
wohl mit ihren breiten Flächen, als mit ihren Kanten übereinander schieben und
die Intercostalräume sehr erheblich verkleinern. Alsdann können entweder
brückenförmige Verwachsungen mehrerer benachbarter Rippen entstehen, oder
die von den Rippen ausgehenden Callusmassen bilden, anstatt knöchern zu ver¬
wachsen, an ihrem Vereinigungspunkte eine bewegliche, mit Knorpelüberzug ver¬
sehene seitliche Gelenkverbindung.
Doch sind auch diese beiden Vorkommnisse ebenso, wie die Entstehung und
Persistenz einer Psdudarthrose an einer beliebigen Fracturstelle im Allgemeinen
bedeutungslos und ohne störenden Einfluss auf die schliessliche definitive Heilung.
Anders verhalten sich die fast ausschliesslich durch Geschosswirkung 2 ) zu
Stande kommenden Comminutivbrüche. die häufig eine völlige Regellosigkeit in
der Richtung der Dislocation aufweisen und in Folge ihrer Entstehungsweise
meist mit Hautwunden complicirt sind. Nicht nur, dass die Eliminirung völlig
losgetrennter Splitter zu Eiterungen mit ausgedehnten Sonkungen führen kann —
haben jene vermöge ihrer Spitzigkeit auch die Neigung, Complicationen seitens
der Pleura und Lunge herbeizuführen, die um so schwerer werden, als mit den
*) Friedberg, Gerichlsärztliche Gutachten, erste Reihe. Tödtliche Tren¬
nung der Wand einer Pulsadergeschwulst der Brustaorta und Rippenbruch. Ist
durch einen gegen die Brust geführten Stoss oder durch Muskelzusammenziehung
der Tod verursaoht worden?
2 ) Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie. Bd. 11.
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268
Dr. Arnstein,
Splittere meist zugleich auch Fremdkörper in den Pleuraraum oder in die Lunge
eindringen. Doch finden sich solche Complicationen nioht ausnahmslos bei Com-
minutivbrüchen vor: Pistolen- oder Revolverkugeln, die nach Durchbohrung der
Weicbtheile auf die Rippen aufschlagen und diese zersplittern, werden oft genug
von ihrer ursprünglichen Richtung gegen Pleura und Lunge abgelenkt 1 ), um
schliesslich nur die bedeckende Thoraxmusculatur oft auf weite Strecken ausein¬
ander zu wühlen.
Was nun auch Rippenbrüohen ohne Splitterung den Stempel folgenschwerer
Verletzungen aufdrückt, ist das gleichzeitige Auftreten von Complicationen, die
in ihrem direclen Gefolge die im Thoraxraume befindlichen oder ihn begrenzenden
und ihm benachbarten Organe betreffen. Relativ selten begegnen wir zunächst
Verletzungen der Intercostalarterien, des Zwerchfells und der Leber. Jene ent¬
stehen durch Eindringen eines Rippenfragmentes, eventuell auch eines Splitters,
in das Gefässlumen und haben naturgemäss eine Blutung zur Folge, die sich
meist früh, zuweilen aber erst dann stillt, wenn die Brusthöhle vollgeblutet ist.
Jedenfalls kann auch die Blutung aus einem Gefässe solch’ kloinen Kalibers tödt-
lich werden, wie 3 von Gurlt (1. c.) aus der Literatur zusammengestellte Fälle
beweisen; in einem dieser Fälle bestand sogar nur eine partielle, die Innenfläche
der Rippen betreffende Fractnr und fand die tödtliche Blutung aus einem Seiten¬
zweige der Arteria intercostalis statt, der nicht dicker, als ein gewöhnlicher
Kupferdraht schräg nach oben verlief und beim Gehen nachträglich durch ein
kleines Knochenfragment eröffnet sein musste. Am Lebenden ist die in Rede
stehende Complication bei allgemeinen Zeichen der inneren Blutung und rasch
zunehmendem Ergüsse in der Pleurahöhle nur dann zu vermuthen, wenn eine
grössere Lungenverletzung ausgeschlossen werden kann.
Von Verletzungen des Diaphragmas führt Gurlt aus der Literatur nur
4 Fälle an, in denen jenem ein Riss durch ein Rippenfragment beigebraoht war;
in zweien dieser Fälle war das Fragment noch weiter gedrungen und hatte die
Leber verwundet. Die beiden Fälle, die einen blossen Diaphragmariss darboten,
verliefen tödtlich nach wenigen Stunden, fielen jedoch, soweit aus den Angaben
ersichtlich ist, mehr den ausgedehnten Lungenzerreissungen, als dem Zwerchfell¬
risse zur Last. Durch Risse auf der linken Seite des Diaphragmas kann übrigens
auch der Magen in die Brusthöhle bineinschlüpfen und Pneumothorax Vortäuschen,
ohne jedoch stets zu Incarcerationserscheinungen zu führen. Dies beweist ein
von König 2 ) beobachteter Fall, in dem ein Individuum mit dem durch ein
Zwerchfel Hoch in die Brusthöhle dislocirten Magen naoh Jahr und Tag lebte. Der
eine mit Leberverletzung complicirte Fall verlief tödtlich, anscheinend in Folge
von Blutung in die Bauchhöhle, der andere gelangte wunderbarer Weise nach
6 Wochen zur Heilung, trotzdem er mit grosser, äusserer Wunde, Diaphragmariss
und ausgedehnter Leberzerreissung complicirt war.
Häufiger begegnen wir schon Verletzungen des Herzens und des Herzbeutels
als directen Folgen der Rippenfractur: Fischer 3 ) führt in seiner Abhandlung
') l’itha und Billroth, Handbuch der allgemeinen und speciellen Chi¬
rurgie. Bd. III. 2. Hälfte. Abschnitt VI.
2 ) König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. Bd. I.
3 ) Fischer, Wunden des Herzens und des Herzbeutels.
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Ueber Rippenbrüche vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus. 2G9
12 Fälle an, in denen der Zusammenhang zwischen Herzwunde und Kippenbruch
klar zu Tage trat. Sehr selten wird nur der Herzbeutel allein getroffen; ist
dessen Risswunde gross, so erfolgt durch die meist entstehende Blutung ziemlich
rasch eine pralle Füllung des Herzbeutels, die wegen der nunmehrigen Unmüg
lichkeit der Herzdiastole Herzstillstand im Gefolge hat; ist die Herzbeutel wunde
jedoch nur klein und oberflächlich, so hat sie nur eine Pericarditis zur Folgo, die
zu Verwachsungen zwisohen den beiden Pericardialblältern und durch diese zu
partieller Atrophie und Verdünnung der Herzmusculatur führen kann. Diese
äussert sich am Lebenden in Form ron Palpitationon, Angst und Beklemmungs
anfällen, unregelmässigem Herzschlage und allgemeiner Reizbarkeit.
Für gewöhnlich ist jedoch die Herzbeutelwunde die Begleiterin einer Herz¬
wunde, der sie meist gegenüberliegt; diese betraf in den von Fischer zu¬
sammengestellten 12 Fällen 4 Mal den rechten Vorhof, je 3 Mal den linken und
rechten Ventrikel, 2 Mal den linken Vorhof; dabei waren 1 Mal beide Ventrikel
zu gleicher Zeit betroffen. Der Verlauf dieser Arten von Herzwunden ist in der
Regel durch die starke Blutung in die Pericardialhöble ein sehr rapider, sie sind
die einzigen Herzvorletzungen, bei denen ein sofort eintretender Tod die Regel
ist, wie sämmtliche angeführten 1 2 Fälle beweisen.
Ungleich öfter compüciren jedoch noch Pleura- und Lungenverletzungen
Rippenbröche besonders, wenn deren mehrere durch schwere Gewalten beige¬
bracht sind. Die Entslehungsweise und der Verlauf jener ist wesentlich ver¬
schieden, je nachdem gleichzeitig eine Continuitätstrennung der bedeckenden
Weichtheile besteht oder fehlt. Im letzteren Falle ist es das einwärts getriebene
Rippenfragment, das mit seiner rauhen Bruchkante entweder bloss die Pleura
costalis oder auch die Pleura pulmonalis und Lunge verletzt; dort entsteht bloss
eine circumsoripte Pleuritis ohne Erguss, die schliesslich zu partieller oder totaler
Verwachsung der beiden Pleurablätter führen kann; hier findet bei nur oberfläch¬
licher Lungenwunde meist ein unbedeutender Bluterguss in die Thoraxhöhle statt,
da jene meist bald durch gerinnendes Blut verlegt wird.
Zu gleicher Zeit tritt in Folge der Eröffnung der Bronchialverzweigungen
auch Luft aus der Lunge aus, um entweder nur in die Pleurahöhle oder nur in
das subpleurale und subcutane Gewebe der Bruchstelle oder in beide zugleich
einzudringen. Wenn auch von vornherein bei normalem Verhalten der beiden
Pleurablätter ein erheblicher Pneumothorax zu erwarten ist. so lehrt doch die Er¬
fahrung, dass sehr häufig Hautemphysem entsteht ohne nennenswerthen Pneumo¬
thorax. Der Grund dafür ist wohl darin zu suchen, dass in dem Augenblicke der
Zerreissung die Risswunden der beiden Pleurablätter correspondiren, so dass die
Luft direct in das subpleurale Gewebe dringt, während sich dann die Rissflächen
sehr bald einwärts schlagen, bei der gewöhnlich flachen Respiration mit Blut
verkleben und so der Luft den Weg zwischen die beiden Pleurablätter verlegen.
Jedenfalls ist bei diesen subcutanen oberflächlichen Lungenverletzungen der Be¬
fund von Emphysem und geringfügigem Pneumothorax die Regel; nur, wenn
gleich nach entstandener Lungenverletzung starke Athembewegungen gemacht
werden, so dass die Lunge mit ihrer verletzten Stelle an der Rippenwunde vor¬
beigleitet, entsteht intensiverer Pneumothorax mit oder ohne Emphysem. Meist
erfolgt hlimälige. wenn auch langsame Resorption der in der Pleurahöhle und im
subcutanen Gewebe enthaltenen Luft und nur selten schliesst sich eine stärkere
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Dr. Arnstein,
Pleuritis mit Erguss an. — Ist jedoch die Lunge an mehreren Stellen gleich¬
zeitig oder sehr lief cingerissen. dann kann einmal schnelle Erstickung durch
den gewaltigen Bluterguss und den gleichzeitigen, meist hochgradigen Pneumo¬
thorax erfolgen oder es stellt sich, falls diese Gefahr überwunden, fast constant
ein stärkerer, meist nur seröser Erguss in die Pleurahöhle ein, der sich zu dem
bereits vorhandenen Pneumo-Hämothorax hinzugesellt und sowohl durch sein län¬
geres Bestehen als durch die Möglichkeit der Zersetzung verhängnissvoll werden
kann, besonders bei Verletzung grösserer Bronchialäste.
Ausserdem antwortet die Lunge selbst anf die ihr beigebrachten Verletzun¬
gen mit einer Entzündung, die sich unmittelbar an die Lungenwunde anschliesst
und deshalb für gewöhnlich als traumatische Pneumonie bezeichnet wird '). —
Jene Entzündung bleibt nun meist auf ihren Ursprungsort beschränkt und invol-
virt deshalb an sich geringe Gefahren, kann aber bei tiefen und mehrfachen
Lungenrissen durch ihre Ausdehnung und Multiplicität, besonders bei älteren
Leuten und Gewohnheitstrinkern gefahrvoll werden. Zuweilen sieht man dann
die pneumonische Infiltration über einen grossen Theil der Lunge derart schnell
fortschreiten, dass sie Abschnitte derselben überspringt und auch klinisch unter
dem Bilde einer Pneumonia migrans in Erscheinung treten.
Wesentlich modificirt werden die eben entwickelten, im Gefolge subcutaner
Lungenverletzungen auftretenden Erscheinungen, wenn die Rippe die Lunge an
einer Stelle verletzt, die mit der Costalpleura verwachsen ist, oder wenn eine
total verwachsene Lunge von einer Rippe beschädigt wird. Dann kann sich die
Lungenwunde bei der Unmöglichkeit der Retraction des Lungengewebes nicht
schliessen, so dass fortwährend Luft direct unter die Pleura und in die sub-
cutanen Gewebe der Körperoberfläche gelangt. Dieses Emphysem kann sich über
den ganzen Rumpf, Hals, Kopf und Extremitäten verbreiten, ja auch in das
Mediastinum eindringen, so dass der Tod in Folge der eintretenden Atheminsuf-
ficieuz eintritt. Von der Extensität der Verwachsungen wird es abhängen, ob zu
den Gefahren des Emphysems noch die eines Blutergusses nnd Luftaustrittes in
die Pleurahöhle hinzutreten und zwar sind die Chancen für letztere um so ge¬
ringer, je ausgedehnter die Verwachsungen, und fallen bei völliger Verwachsung
beider Pleurablätter naturgemäss ganz fort.
Wesentlich andere Folgen ziehen die Rippenbrüche complicirenden Pleura-
und Lungenverletzungen nach sich, wenn die Fracturen mit äussererWunde com-
plicirt sind. Jene Folgen sind zum Theil mitbedingt durch die Entstehungsweise
derartiger Rippenbrüche, da diese ebenso, wie die äussere Wunde, Lungen- und
Pleuraverletzung meist der Effect der Penetration mehr oder weniger spitziger
Körper, darunter auch der Projectile sind, die mit grosser Vehemenz in den
Thorax eingetrieben werden; bei der Lungen- und Pleuraverletzung concurriren
auch hier wieder als veranlassende Momente etwaige Knochensplitter, die zu¬
gleich mit dem verletzenden Körper eingedrungen sind. Dass bei Eröffnung der
Pleurahöhle, so wahrscheinlich dies bei dem nahen Aneinanderliegen der beiden
Pleurablätter scheinen mag, nicht nothwendig auch die Lunge von den pene-
l ) Litten i. d. Zeitschrift für klinische Medicin, 1882, Bd. V, Heft I; und
Litten, Berliner klinische Wochenschrift, 1882: Ueber die traumatischen Affeo-
tionen der Lunge und Pleura
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Ueber Rippenbrüche vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus.
271
trirenden Körpern getroffen werden muss, beweisen die allerdings iiusserst sel¬
tenen Beobachtungen (König. 1. c ), in denen die Körper die Kippen mehr tan¬
gential trafen.
Dann wird nach dem Zusammensinken der Lungen der von ihr bisher aus¬
gefüllte Raum zum grossen Theile von eingedrungener atmosphärischer Luft und
der etwa ergossenen Blutmenge, die meist gering ist. eingenommen. Mit diesem
Pneumo-Hämothorax kann sich bei schräg verlaufendem Wundcanale Emphysem
in der Umgebung der äusseren Wunde verbinden, ohne jedoch jemals eine wei¬
tere Verbreitung zu nehmen. Auch der Pneumothorax erreicht bei blosser Pleura¬
verletzung nie einen sehr hohen Grad, der Gefahren involvirte. dagegen entsteht
oft im Anschlüsse an die Pleurawunde eine Pleuritis, die leicht eitrigen Erguss
im Gefolge hat, besonders wenn die äussere Wunde nicht geschlossen wird. Noch
schwerere Folgen stellen sich mit grosser Sicherheit überall da ein, wo bei der
Pleuraverletzung fremde Körper, also entweder abgebrochene Rippensplitter oder
mit diesen noch etwa die abgebrochene Spitze des eingedrungenen Körpers oder
das Projectil in die Pleurahöhle gelangt sind; dann lässt die Verjauchung des
primären Blutergusses und secundären eitrigen Ergusses nicht lange auf sich
warten und consumirt schliesslich den Betroffenen.
Ist jedoch die Lunge ebenfalls verletzt, so wird in erster Reihe die Blutung,
sei es, dass sie nach aussen oder in die Pleurahöhle stattfindet, selbst aus Ge-
fässen zweiter Ordnung leicht porniciös, selbst letal. Unterliegt der Verletzte
nicht unmittelbar dieser Blutung, so kommt zu dem den unteren Raum der
Pleurahöhle ausfüllenden Blutergusse noch in deren oberen Theile die Luftan¬
sammlung, die bei ihrer schnellen Entwickelung und hohen Spannung den Tod
durch Erstickung herbeiführen kann, besonders wenn sich noch Emphysem der
Brustwand hinzugesellt. Sind diese schweren Gefahren überwunden, so drohen
noch weitere von der auf das Eindringen in der Luft suspendirter septischer
Stoffe folgenden eitrigen Entzündung der Pleura, die sich auch bei inzwischen ge¬
schlossener Wunde einstellen kan. Zwar ist dann noch ein allmäliger Rückgang
des Processes, besonders bei passender operativer Behandlung möglich, doch
kann auch unter Zunahme der allgemeinen Erscheinungen die Exsudation wieder
von Neuem rasch zunehmen, so dass der Tod theils durch Erstickung, theils durch
Consumption erfolgt. Dieser ungünstige Ausgang wird mit grosser Wahrschein¬
lichkeit zu erwarten sein, wenn ausserdem noch Fremdkörper, wie wir sie bereits
bei der isolirten Pleuraverletzung erwähnt, in der Lunge stecken geblieben sind,
die, mit Fäulnisskeimen beladen, Anlass zu deletären Entzündungen geben. Um
sie herum entsteht dann in der Lunge eine putride Gewebsnecrose, deren Pro¬
ducts die Pleura, falls sie nicht bereits Eiter secernirt, inficiren und, damit nicht
genug, sie unter dauerndem Einflüsse dieser Infeclion erhalten. In der Regel
sind auch die verletzten Individuen geradezu verloren, da es zu den seltensten
Ausnahmen gehört, dass ein derartiger Fremdkörper durch Einkapselung un¬
schädlich gemacht wird oder durch einen Hustenstoss ausgeworfen oder durch
Eiterung entweder aus der bestehenden Wundöffnung oder aus einem sich neu
bildenden Senkungsabscesse eliminirt wird. Aber selbst in diesen günstigsten
Fällen, wie in allen denen, in welchen ein Pyothorax besteht, der auf operativem
Wege oder spontan sich zur Heilung anschickt, wird es jedesmal von der Aus¬
dehnungsfähigkeit der bisher comprimirten Lunge abhängen, ob sie allmälig den
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Dr. Arnstein,
durch das Einsinken des Thorax verkleinerten Brustraum wieder ausfüllen und
die Schliessung der Wunde ermöglichen wird oder ob sie zu einer permanenten
Brustfistel Anlass geben wird, die schliesslich zur Verjauchung des sich wieder
ansammelnden Eiters führen kann. — Immer bleiben derartige Verletzte selbst
nach Verheilung der Bruslwunde wenig widerstandsfähig mit entschiedener Dis¬
position zu chronischen Lungencatarrhen und allerzeit gewärtig, bei Acquirirnng
acuter Catarrhe mit Tuberculose inficirt zu werden.
Die Infection mit Tuberkelgift steht jedoch nicht nur den mit äusserer
Wunde complicirten Rippenbrüchen bevor, in deren Verlauf Pyothorax oder pu¬
tride Qewebsnecrose der Lunge in Folge eingedrungener Fremdkörper anfgetreten
ist, sondern auch subcotanen mit blosser Verletzung der Lunge durch Rippen¬
fragmente. Die Lehre von der im Anschlüsse an Traumen der Lunge entslhehen-
den Phthise oder, wie sie kurz genannt wird, der traumatisohen Phthise ist noch
verhältnissraässig jung, da erst Lebert Ende der siebziger Jahre diese Ent¬
stehungsweise der Phthise mit dem gebührenden Nachdrucke betonte. Ihm
schlossen sich andere französische Autoren an, die auf den ätiologisohen Zu¬
sammenhang von Lungenphthise und Lungenverletzung hinwiesen, bis deutscher¬
seits zuerst Brebmer und dann Mendelssohn in einer aus der Leyden’sohen
Klinik') hervorgegangenen Dissertation mit Entschiedenheit für die Richtigkeit
dieser Annahme eintrat.
Unter den von Mendelssohn angeführten und auch aus früheren Ab¬
handlungen zusammengestellten Fällen finden sich zwei, deren Entstehung auf
Rippenbrüche zurückzuführen sind. In beiden handelt es sich um schon ältere
gesunde Personen aus erblich nicht belasteter Familie, die ganz kurze Zeit nach
dem Rippenbruche zu husten anfingen, stark abmagerten, kurz alle Anzeichen
einer Phthise darboten.
Wenn diese Auslese der in der Literatur aufgeführten Fälle nur so spärlich
ausfällt, so darf der Grund dafür gewiss nicht in ihrer absoluten Seltenheit ge¬
sucht werden, sondern in der geringen Beachtung, die bisher dieser Entstehungs¬
art der Phthise geschenkt worden ist. Sagt doch Lebert (citirt bei Mendels¬
sohn) mit Recht: „Ce traumatisme comme cause de la phthisie est loin d’etre
rare et l’on a le droit de s’dtonner qu’il ait si peu attirö l’attention des
mödecins. “
In der That sind nun auch bei den mit Lungenverletzungen complicirten
Rippenbrüchen die günstigsten Bedingungen für die Entwickelung der Phthise
.gegeben. Durch die Continuitätstrennung des Lungenparenchyms, die das rauhe
Rippenfragment gesetzt, ist der schützende Wall, den sonst die Lungenepithelien
gegenüber der Invasion von Tuberkelbacillen bilden, durchbrochen. Und nicht
genug damit, die Bacillen finden auch in Folge der durch die Continuitätstren¬
nung veranlassten weiteren Vorgänge die günstigsten Bedingungen für ihre
Weiterentwickelung: Das Blut, das das Lungengewebe in Folge dessen Trennung
imbibirt, giobt einen sehr geeigneten Nährboden für die Bacillen ab, nicht
weniger, als die Exsudationsprocesse, die die darauf folgende Entzündung liefert,
während die in Folge der Schmerzhaftigkeit gewöhnlich eintretende Immobili-
') Mendelssohn, Traumatische Phthise nebst Bemerkungen zur Inha-
lationstuberculose. Berlin 1885.
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Heber Rippenbrüche vom gerichtsärztlichen Standpunkte ans. 273
sirung der betreffenden Thorazpartie eine änsserst mangelhafte Ventilation des
betreffenden Langenabschnittes znr Folge hat, unter der die Bacillen auch die
nöthige Rabe finden, sich weiter zu entwickeln.
Die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Rippenbruch
und Lungenphthise wird also auch der Gerichtsarzt in’s Auge zu fassen haben,
wenn es sich nm die Entscheidung darüber handelt, ob eine nach der Heilung
eines Rippenbruohes und seiner Complicationen constatirte phthisisohe Lungen¬
erkrankung die Folge jenes Bruches ist. Vorher wird genau zu eruiren sein, ob
der Betreffende vor dem Rippenbruche ganz gesund gewesen, in speoie keine An¬
zeichen einer beginnenden Lungenerkrankung dargeboten, ob ferner die con¬
statirte Lungenphthise im directen Anschlüsse event. ganz kurze Zeit nach dem¬
selben eingetreten ist, ob sie schliesslich sich genau an der Lungenpartie oder
deren allernächsten Nachbarschaft etablirt hat, die von dem Rippenfragmente
verletzt wurde. Der positive Beweis des Zusammenhanges ist als erbracht anzu-
sehen, wenn das bisher völlig gesunde Individuum im directen Anschlüsse an
den Rippenbruch an einer diesem entsprechenden Lungenpartie Tnberculose ac-
quirirt hat. Ob der Verletzte hereditär belastet war, ist dabei im Ganzen be¬
langlos; bat er wirklioh die tuberculöse Disposition schon latent zur Zeit des
Rippenbruches in sich getragen, so „war es eben das Trauma, das sich in seiner
Wirkung zu dieser gewissermaassen binzuaddirte, den Becher zum Ueberschäu-
men brachte und der Einwanderung und Festsetzung der Bacillen Thür und Thor
öffnete.” Lässt sich jedoch eine der oben geforderten Voraussetzungen nicht mit
Sicherheit constatiren, so wird der Gerichtsarzt je nach der Dignität der nicht
zutreffenden Voraussetzung die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhanges
entweder nur offen lassen oder völlig verneinen.
Schliesslich ist noch zweier Complicationen von Rippenbrüchen Erwähnung
zu thun, von denen die eine, der Lungen vorfall, nur mit breiter Hautwunde com-
plicirte Rippenfracturen begleiten kann, während die andere, der Lungenbruch,
auch bei subcutanea eintreten kann.
Der Lungenvorfall, der selten beobachtet wird und dann meist am unteren
Rande der Lungenflügel, heilt gewöhnlich ein und zieht sich allmälig zurück,
kann jedoch au> h eingeklemmt werden und sich brandig abstossen, ohne bei ge¬
eigneter Behandlung weitere Gefahren nach sich zu ziehen.
Der Lungenbruch, d. h. die Verdrängung eines Lungenstückes bis hart
unter die Haut der Brustwand, entsteht sofort nach subcutanea Rippenbrüchen
mit ausgedehnter Interoostalmuskelzerreissung oder erst längere Zeit nach Rip¬
penbrüchen mit äusserer Wunde, wenn diese längst vernarbt a der Hämo-Pneumo¬
thorax resorbirt und die Lunge ihre frühere Ausdehnungsfähigkeit wieder erlangt
hat. Immer geben wiederholt angestrengte Exspirationen Anlass zur Entstehung
der Lungenhernie, die bei Anwendung geeigneter Schutzmittel meist ohne schäd¬
liche Folgen bleibt.
So ausserordentlich verschieden sich nach all’dem der Verlauf der Rippen¬
brüche je nach der Art ihrer Entstehungsweise und der Schwere der begleitenden
Complicationen gestaltet, so ungleich ferner in Betreff ihrer Bedeutung alle deren
Folgezustände sind, so schwierig, ja fast unmöglich ist es auch für den Gerichts¬
arzt, sich in der Voruntersuchung vor dem Criminalgericht, also meist kürzere
VierteljatirMehr. f. ger. Med. N. P. LII. 2. ]g
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Dr. Arnstein,
Zeit nach der Verletzung über deren Prognose und muthroaassliohen Verlauf gut¬
achtlich zu äussern. Muss er es doch selbst oft genug erfahren, dass w<dcr alles
Erwarten die schwersten Complicationen spontan und sogar zuweilen trotz unge¬
eigneter Behandlung zur Heilung kommen, während andererseits wieder Indivi¬
dualität und Zufall zu unvorhergesehener Verschlimmerung und plötzlichem Um¬
schlag bisher wenig gefahrvoller Complicationen führen. Es ist deshalb für den
Gericbtsarzt ratbsam, zu so früher Zeit nur dann sein durchaus günstiges und
bestimmtes Gutachten abzugeben, wenn eine subcutane Fractur ohne Splitterung,
ohne Dislocation und ohne jedwede Complication der inneren Organe sicher con-
statirt ist, sonst aber stets sein Gutachten für später zu vertagen, bis der Kippen¬
bruch geheilt und die vorhandenen Complicationen entweder verschwunden oder
wenigstens in das Stadium der Chronicität getreten sind.
Auch dann ist er erst im Stande, die Bedeutung des Rippenbruches, wie
dessen Folgen mitRücksicht auf die durch das Strafgesetz stamirten Verletzungs¬
kategorien- 223 und 224 des Strafgesetzbuches) definitiv abzuschätzen. Von
den im Gesetze angeführten Folgen, die die Subsummirung einer Verletzung unter
die schweren im gerichtsärztlichen Sinne bedingen, kommen für die Kippenbrüche
nur Verfall in Siechlhum und erhebliche dauernde Entstellung in Betracht •).
Ersteres ist jedenfalls als vorhanden zu erklären, wenn Pyothorax mit oder ohne
Brustfislel, Lungengangrän und traumatische Phthise zurückgeblieben sind, letz¬
tere ist nur dann zuzugeben, wenn durch Einsinken des Brustkorbes lei Pyo-
thoraxbeilung eine beträchtliche Thoraxdeformität mit augenfälliger Scoliose zu
Stande kam, die sich trotz bedeckender Kleidung unangenehm bemerkbar macht.
Alle anderen, ohne Hinterlassung dieser Folgen verlaufenen, nicht tödtlichen
Rippenbrüche fallen naturgemäss unter die leichte Körperverletzung des Straf¬
gesetzes, trotzdem manche von ihnen vom klinischen Standpunkte aus als schwere
und gefährliche anzuseben waren.
Vor dem Givilgericht tritt an den Gerichtsarzt endlich die Frage über den
Grad und die Dauer der Erwerbsunfähigkeit 2 ), die der Rippenbruch für den Ver¬
letzten im Gefolge gehabt, heran. Eine gänzlich dauernde Erwerbsunfähigkeit
besteht jedenfalls, wenn die bereits beim Verfall in Siechthum namhaft gemachten
Folgen eingetreten sind; eine verminderte, dauernde Erwerbsunfähigkeit kann'-in
Betracht kommen, wenn sich eine grössere Lungenhernie im Anschlüsse an den
Rippenbruch ausgebildet hat 3 ), Verwachsungen der beiden Pericardialblätter zu
intermittirenden Störungen der Herzfunctionen geführt haben oder eine beträcht¬
liche Thoraxdeformität bei Pyothoraxheilung entstanden ist; im letzteren Falle
concurrirt mit der t verminderten Erwerbsfähigkeit noch die Verunstaltung des
Verletzten.
Wie hoch im concreten Falle die Verminderung der Erwerbsfähigkeit anzu-
*) cf. Superarbitrium der Königlichen Wissenschaftlichen Deputation. Diese
Vierteljabrsschrift. N. F, XXVII. 385. Ref. Skrzeczka.
2 ) Becker, Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähig¬
keit nach Verletzungen. Berlin 1888.
# ) Jossic, These pour le doctorat en mädecin, essai medico-legal: contu-
sions du thorax en gänäral et particulierement des oomplications pleuro-pulmo-
naires conseoulives. Paris 1886.
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lieber Rippenbrüche vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus.
275
schlagen ist, kann nur mit Berücksichtigung des Gewerbes und des zur Aus¬
übung desselben nöthigen Kraftaufwandes entschieden werden. — Wie lange
nach einem Rippenbruche vorübergehende, gänzliche oder theilweise Erwerbs
Unfähigkeit bestanden, wird der Gerichtsarzt in gewohnter Weise auf Grund der
zu verschiedenen Zeitpunkten erhaltenen Untersuchungsbefunde und uoter kri¬
tischer Berücksichtigung der jedesmaligen Angaben des Verletzten über seine
Beschwerden zu beurtheilen haben.
Bei der Beurtheilung der Rippenbrüche mit tödtliehern Verlaufe hat der
Gerichtsarzt wesentlich andere Aufgaben zu erfüllen; es gilt dann in erster Reibe,
aus dem objectiven Leichenbefunde, eventuell auch unter Berücksichtigung des
Krankheitsverlaufes und der Entstehung der Verletzung die nächste Todesursache
zu eruiren. Als solche ergiebt sich ungemein häufig bei Rippenbrüchen die Ver¬
blutung. Die Leichenbefunde sind dabei verschieden, je nachdem die Blutung
durch eine zugleich mit dem Rippenbrucbe gesetzte äussere Wunde nach aussen
oder in die Körperhöhlen, d. i. Brust- oder Bauchhöhle, erfolgt ist. Stets finden
sich jedoch an der Leiche die Zeichen der Anämie, die sich äusserlich durch ge¬
ringe Entwickelung der Todtenflecke, auffallende Blässe der Haut und sichtbaren
Schleimhäute, ferner in der Blutarmuth und Trockenheit der inneren Organe
kund giebt; allerdings wird die Anämie bei innerer Verblutung weniger deutlich
ausgesprochen sein, da die Raumverhältnisse der Brust- und Bauchhöhle doch
schliesslich der Blutung eine gewisse Grenze setzen. Mag sich nun die Brust¬
oder Bauchhöhle mit Blut gefüllt vorfinden oder mag neben der Leiche eine grosse
Blutlache constatirt worden sein, während sie selbst in der Umgebung einer
'Brustwunde mehrfache Blutgerinnsel darbietet, immer ist die Quelle der Blutung
mit möglichster Gewissheit zu eruiren. Es gelingt, dieselbe fast immer in Rissen
der Lunge, Leber und Verletzungen der Intetcostalgefässe aufzufinden, in denen
noch die Rippenfragmente oder deren Splitter stecken geblieben sind oder die
Continuitätstrennungen der Organe weisen allein schon durch ihre gegenüber den
Fracturstellen der Rippen befindliche Lage auf ihre Abhängigkeit vom Rippen¬
bruche hin.
Als weitere Todesursache findet sich bei Rippenbrüchen grobe Beschädi¬
gung der vitalen Brustorgane oder gleichzeitig auch intensive Störung ihrer
Functionsfäbigkeit vor. Beides ist für die Lungen sicher anzunehmen, wenn der
Thorax an verschiedenen Stellen, womöglich beiderseits breit eröffnet ist, und die
Lungen mehrfach zerfetzt, dabei collabirt in der Brusthöhle vorgefunden werden.
Mit der Functionsuntorbrechung der Lungen concurrirt alsdann als Todesursache
noch die Erstickung in weiterem Sinne, da durch die Eröffnung des Thorax zu¬
gleich auch ihre erneute Entfaltung unmöglich gemacht ist 1 ).
Groben Beschädigungen der Herzmusculatur begegnet man als directen
Folgen der Rippenbrüche nur selten; dagegen wird ihre Function durch den Druck
des sich aus einer Herz- oder Herzbeutelwunde in die Pericardialhöhle ergiessen-
den Blutes rasch aufgehoben. Man findet dann an der Leiche meist correspon-
dirende, bald längs, bald quer gestellte Wunden des Pericards und Myocards
und ihnen gegenüber das stark hervorspringende Rippenfragment, das sich in
dieser Situation leicht als den schuldigen Theil documentirt; zuweilen sieht man
*) cfr. Hof mann. Lehrbuch der gerichtlichen Medicin.
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18 *
Original from
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t)r. Arnstein,
tu
das Fragment noch in einer Oeffnung des Perioards stecken, naobdem es sich
bei einer stärkeren Bewegung aus der Herzwunde selbst zurückgezogen bat.
Ausserdem können durch die Obduclion als Todesursache die Entzündungen
der von den Rippenfragmenten verletzten Organe, der Lunge, Pleura und des
Peritoneums ermittelt werden. An den Lungen findet man einen grösseren oder
kleineren Theil des betreffenden Lappens im Zustande rother oder gelber Hepa¬
tisation, an seiner Peripherie den gewöhnlich schon verklebten Lungenriss mit
mehr oder weniger von Blutextravasaten durchsetzter Umgebung. Auf die Ab¬
hängigkeit des Lungenrisses, sowie der Pneumonie von dem Rippenbruohe werden
bei frühzeitig tödtlich verlaufenen Fällen, die meist vom Lungenrisse zur Pleura¬
wunde hinziehenden, mehr oder wenigerfesten pleQritischen Stränge hinweisen, wäh¬
rend später nach Lösung der etwa vorhandenen Adhäsionen die correspondirende
Lage der Lungennarbe und der über der (zuweilen noch aufgetriebenen) Fractur-
stelle der Rippen gelegenen Pleuranarbe auf den ätiologischen Zusammenhang
hindeuten.
Ergiebt die Section als Todesursache nur Entzündungen der Pleura, so be¬
gegnet man neben mehrfachen, zarteren, fibrinösen Verklebungen der beiden
Blätter meist noch festeren Verwachsungen zwischen der Pleuranarbe und dem
gegenüberliegenden Pulmonalblatte, ausserdem finden sich aber constant Ergüsse
in der Pleurahöhle selbst vor. Sind diese serös oder sero-fibrinös, dann imponiren
sie durch ihre Massenhafiigkeit, die zu Compression der betreffenden Lunge,
eventuell auch zu Herzverschiebung geführt hat; sind sie eitrig, so bietet die
Leiohe meist noch Zeichen von Anämie und Abmagerung, verbunden mit amy-
loider Organdegeneration als Folge lang bestandener Eiterung dar, auch kann
diese sich unmittelbar auf die Pericardial- und Peritonealhöhle propagiren.
Eitrigem Ergüsse in der Peritonealhöhle als alleiniger Todesursache be¬
gegnet man nach Rippenbrücben, die mit Leberverletzungen complicirt waren;
daneben finden sich ausgedehnte Verwachsungen zwischen Leber und Därmen,
wie zwischen Leber und Bauchwand, besonders in der Umgebung der primären
Leberwunde, die meist necrotisches und verflüssigtes Gewebe darbietet.
Rächst den entzündlichen Processen kommen als Todesursache bei Rippen¬
brüchen gangränöse in Betracht und zwar fast ausschliesslich an den verletzten
Lungen. An ihrer Oberfläche findet man alsdann eine oder mehrere mit stinken¬
der, grünbrauner Flüssigkeit gefüllte Höhlen, an deren Wänden die fetzigen
Reste des Lungenparenchyms flottiren. Diese meist von entzündlich infillrirtem
und von Hämorrbagien durchdrungenem Lungengewebe umschlossenen Höhlen
sind, wenn noch subpleural gelegen, von blasig abgehobener, deutlich ent¬
zündeter Pleura bedeckt; ist diese bereits durchbrochen, so haben sich zu jenen
gangränösen Herden fast regelmässig schon jauchig eitrige Ergüsse in die
Pleurahöhle hinzugesellt.
Schliesslich ist noch als Todesursache der Pyämie Erwähnung zu thun;
man begegnet dann an der Leiche den gewöhnlichen, für Pyämie charakte¬
ristischen Befunden, als Lungen-, Milz- und Leberinfarcten, trüber Schwellung
der Nieren, und ist meist in der Lage, den primären, für die pyämische In-
fection verantwortlichen Herd bald in einem gangränösen Lungenherde, bald
in einem jauchigen Pleuraergüsse, bald in den verjauchten Weichtheilbedeckungen
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Ueber Rippenbrüche vom gericbtsärztlichen Standpunkte aus.
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einer Comminutivfractur ’) zu erkennen. Dass jede der eben aufgeröhrten Todes¬
ursachen nicht immer als einzige bei tödtlichen Rippenbrüchen in Betracht kommt,
bedarf keines ausdrücklichen Hinweises; in der That vereinigen sich nicht selten
zwei oder mehrere derselben zu gemeinschaftlicher und um so sicherer tödtlicher
Wirkung: so paart sich öfters Functionsunfähigkeit der Lungen mit Verblutung,
traumatische Pneumonie mit hochgradigem, serösen Ergüsse in die Pleurahöhle,
Lungengangrän mit eitriger Entzündung der Pleura, letztere wieder mit eitriger
Exsudation in die Peritonealhöhle.
Der ursächliche Zusammenhang einer oder mehrerer aufgefundener Todes¬
ursachen mit einem in Frage stehenden Rippenbruche wird, wie bereits mehrfach
angedeutet, meist leicht vom Gerichtsarzte zu erweisen sein, wenn jene unmiitel-
bar zum tödtlichen Ausgange hinführten, ebenso wenn entzündliche Processe
einen acuten letalen Verlauf nahmen; dann ist an der Rippe die Fracturstelle
noch durch die reparativen Heilungsprocesse gekennzeichnet, während die nooh
leicht erkenntlichen Lungen-, Pleura- und Peritonealwunden sich deutlich als die
Eingangspforten erweisen, durch die die entzündungserregenden Stoffe eingedrungen
sind. Ist der Tod jedoch erst geraume Zeit nach dem Rippenbrucbe eingetreten,
dann kann esdem Gerichtsarzte, besonders, wenn keine äussere Wunde bestanden
hat und der Rippenbruch wie gewöhnlich ohne Dislocatiön und stärkere Callus-
bildung gebeilt ist, schwierig oder unmöglich werden, aus dem blossen objec-
tiven Leichenbefunde die Schuld eines früheren Rippenbrucbes an der aufgefun
denen Todesursache sicher zu stellen; er wird dann besonders, wenn es sich um
Krankbeitsprocesso, die auch spontan entstehen können — z. B. Pyothorax und
Lungengangrän — handelt, erst mit Berücksichtigung der Umstände des Falles,
insbesondere der Krankheitsgesebicbte zu einem Urtheile über den Zusammenhang
zwischen Todesursache und Rippenbruch gelangen können.
Selbstverständlich muss in allen Fällen, in denen durch objectiven Befund
ein Rippenbruch constatirt ist, seine vitale Entstehung vorweg erwiesen werden,
da die Erfahrung lehrt, dass Rippenbröche auch erst postmortal in Folge roher
und ungeschickter Behandlung der Leiche beim Transporte und bei derSection ent¬
stehen können. Der Nachweis gelingt fast immer, da die reactiven Veränderungen
an der Fracturstelle neben der Suggillation und Schwellung der umgebenden Weich-
theile jeden Zweifel zerstreuen; aber auch solche Fraoturen, die sofort zum Tode
führten und deshalb auch an der Bruchstelle noch keine Reactionserscheinungen
darbieten können, erweisen sich durch die Art der gesetzten Complicationen meist
als vitale. Sind beispielsweise die Intercoslalmuskeln und die Costalpleura in
nächster Nähe der Fractur stark mit Blut unterlaufen oder findet sich ein
grösserer Bluterguss in der Pleurahöhle neben einem der Fracturstelle ent¬
sprechenden frischen LungenTisse, so ist auch hier der vitale Ursprung der Frac¬
tur ohne jedes Bedenken zuzugeben.
Schliesslich kann an den Gerichtsarzt noch die Frage herantreten, ob die
aufgefundene Todesursache die nothwendige Folge des Rippenbruches ge¬
wesen ist. Diese Fragestellung kann sich leicht dem Richter aufdrängen, wenn
*) Vierteljahrsschrift för gerichtliche und öffentliche Medioin. Berlin 1871.
Bd. XV. Neue Folge. Gerichlsärztliche Mittheilungen von Masohka.
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278
Dr. Arnstein.
der Tod einmal nach längerer Kr&nkheitsdauer eintrat, sodann unzweckmässiges
Verhalten des Verletzten oder ungeeignete ärztliche Behandlung für den tödt-
lichen Ausgang verantwortlich gemacht wird.
Diese Frage wird sich nur für den concreten Fall unter Berücksichtigung
der näheren Umstände, der Krankheitsgeschichte und unter Zuhülfenabme der
bereits erörterten klinischen Erfahrungen über den üblichen Verlauf der Com-
plicationen beantworten lassen.
6 .
Gebärmatterriss. Sebald der Hebamme ?
Gutachten
mitgetheilt vou
Dr. Schiller,
K«'»nitrK Kreij.-Phys>ikti8 in Wehlau . Ostpi vu-si-n .
Der Königl. Staatsanwaltschaft beehren sich die Unterzeichneten
den in der Untersuchungssache der Hebamme L. aus B. erforderten
Obductionsbericht unter Rücksendung der Acten ergebenst zu unter¬
breiten.
Am 28. October 1883 gegen 11 Uhr Nachts fühlte die zum elften Male
schwangere Inliegerin Sch. zu B. den Eintritt von Geburtswehen und veranlasste
ihren Ehemann, die Hebamme L. berbeizuholen. Dieselbe traf um 12 Uhr bei der
Kreissenden ein. Letztere befand sich im Ganzen wohl, nur klagte sie über
Schmerzen im Unterleibe, namentlich bei Berührung desselben, und über Kälte
im linken Beine. Die Wehen waren stark. Der Muttermund war etwa in Thaler-
weite eröffnet; der Kopf des Kindes, dessen Rücken nach links gewendet war,
stand im Beckeneingang. Herztöne und Bewegungen des Kindes nahm die Heb¬
amme nicht wahr. Behufs Beschleunigung der Geburt sprengte die Hebamme bei
(angeblich) geöffnetem Muttermunde „auf Ersuchen der Sch.“ die Blase. Um
2Uhr traten bei der Kreissenden Schüttelfröste ein, ihr Gesicht wurde blass. Sie
klagte über Uebelkeit, „dass ihr ganz anders sei wie bei früheren Entbindungen,
sie habe sich wohl etwas gemacht, es tbäte ihr so weh, was das wohl wäre
u. dergl.“
Dieser Zustand dauerte an, nnr Hessen die Wehen allmälig nach, bis sie
schliesslich in der sechsten Stunde ganz aufhörten. Da die L. fürchtete, die Sch.
„möchte schwach werden", schickte sie um 4 Uhr den Mann nach einem Arzte.
Anfänglich weigerte sich der Mann, in seiner Weigerung noch von seiner Frau
bestärkt, die sich „nicht martern lassen und lieber so sterben wollte"; doch ging
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Dr. Schiller.
279
er schliesslich gegen 6 Uhr nach wiederholtem Drängen, nachdem sich der Za*
stand .der Kreissenden anscheinend verschlimmert halte. Sie klagte über Span*
nang im Leibe, Schwindelgefühl und hatte Erbrechen. Diesen Angaben der Heb¬
amme widersprechen die des Ehemannes Sch. insofern, als dieser eine anfäng¬
liche Weigerung in Abrede stellt, vielmehr der Hebamme die Aeasserang zu¬
schiebt (gegen 3 Uhr): dass das Kind in der Geburt sei. es wäre eine Schande,
den Arzt zu holen. Jedenfalls steht fest, dass die Hebamme sich nach 6 Uhr
emfernte, da sie den Zustand der Kreissenden nicht für besorgnisserregend hielt.
Bei ihrer Rückkehr nach etwa einer halben Stande fand sie die Sch. im Sterben,
deren Tod nach wenigen Minuten eintrat.
Die am 2. November 1883 vorgenommene Obdaction der Leiche ergab fol¬
gende wichtigen Befunde:
1) Die 139 cm grosse, wohlgenährte Leiche gehört einer Fraa im Alter
von 35—40 Jahren an.
2) Die Farbe der Haut ist im Allgemeinen schmutzig graaweiss. Auf der
linken Seite des Halses, der Brust und des Unterleibs ist sie stahlgrün, ebenso
um den Nabel und in der rechten Lendengegend.
3) llierselbst ist die Oberbaut zerstreut in einer Ausdehnung von Linsen-
bis Thalergrösse blasig abgehoben; die Blasen sind durchweg mit grünlicher,
stinkender Flüssigkeit gefüllt. Die blosgelegte Unterbaut ist blassgraugrün ohne
jegliche Gefässzeichnung. Von den Blasen aus lässt sich die Oberhaut im Be¬
reiche der grünen Verfärbung leicht abhebon.
6) Am Gesäss ist die Oberhaut auf weite Strecken hin abgelöst und hängt
in Fetzen daran; auch hier zeigt die Lederhaut keine Gefässfüllung, ist vielmehr
blass, schmutzig grauweiss gefärbt.
7) Todienstarre ist nur in den Hand- und Fussgelenken vorhanden.
8) Leichengeruch ist massig wahrnehmbar.
12) Die linke Seite des Gesichtes vom äusseren Augenwinkel bis hinter das
Ohr und nach abwärts bis zum Unterkieferrande ist blaugrün verfärbt, dunkler
als die ähnlich gefärbten Stellen am übrigen Körper. Auf einem Einschnitte zeigt
sich das Unterhautgewebe gallertartig gequollen und es entleeren sich aus dem
Durchschnitt 8—10 ccm schwarzes flüssiges Blut.
19) Nachdem die kleinen Schaamlippen auseinander geklappt sind, er¬
scheint das vorliegende Scheidengewebe blanroth und mit blutigem Schleim be¬
deckt. Der eingeführte Finger stösst im Beckenausgange auf einen teigigen,
einem harten Körper aufliegenden Widerstand (Kopfgeschwulst), der durch einen
vorliegenden Kindskopf gegeben wird.
25) Nach Eröffnung der Bauchhöhle entleeren sich 20 ccm dunkelrothen,
syrupdicken Blutes.
28) ln dem von den unter No. 26 b, c und d genannten Därmen gelasse¬
nen Zwischenräume liegt mit dem Rücken nach rechts und etwas nach vom, mit
den linken Extremitäten nach vorn und links, mit der Läogsaxe des Körpers
demgemäss von rechts und unten nach links und oben ein Kindskörper, der
über und über mit flüssigem Blute und einigen dünnen Blutgerinnseln be¬
deckt ist.
31) Zwischen linker Schulter des Kindes und der Schamfuge liegt ein
schwarzes, 1,5 cm dickes, mit fetzigen Rändern versehenes, blutgerinnselartiges
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280
Dr. Sohiller,
Gewebe, von einem Blotgerinnsel sich nnr durch festere Consistenz unter¬
scheidend.
32) In der Baachhöhle befinden sich, soweit solche ohne Verrückung der
Tbeile sich aussohöpfen lässt, 600 ccm Blut.
34) Es zeigt sich nunmehr, dass in der linken Nierengegend die Nach¬
geburt liegt.
35) In der rechten Nierengegend befindet sich die Gebärmutter.
36) Durch einen an der vorderen Seite derselben befindlichen Riss sieht
man den Kindskopf in dem kleinen Becken und zwar mit dem Hinterhaupt nach
rechts und abwärts gerichtet; das Gesicht sieht man nach links und oben.
38) Es erweist sich nun, dass der Gebärmutterhals am Ansatz an den Kör¬
per quer von diesem ab- und an seinen beiden Seiten der Länge nach einge¬
rissen ist.
39) Die Harnblase ist leer, ihre Schleimhaut blass.
42) Der Gebärmutterkörper ist 13 cm lang, ebenso breit, 5 cm dick; seine
Consistenz ist teigig, Fingereindruck bleibt stehen.
43) Der Gebärmutterhals ist an seiner Hinterwand 11 cm lang und 2 mm
diok, während er an seiner Vorderwand stellenweise zu einer durchscheinenden
Membran verdünnt ist.
44) Es zeigt sich nunmehr übersichtlich, dass der Riss in derGebärmutter,
der in No. 38 erwähnt ist, durch die ganze Vorderwand des Halses an dessen
Uebergange in den Gebärmutterkörper in durchaus querer Richtung von dem
rechten Ende senkreoht auf 7 cm, von dem linken auf 5 cm nach abwärts in
der Seitenwand verläuft.
45) In dem Querriss ist das Bauchfell fast linear getrennt und von derGe¬
bärmutter nioht abgehoben.
46) Die Rissränder im Gewebe sind zackig und das Gewebe durch die in
dasselbe erfolgte Blutung in eine schwarze Schwarte verwandelt, die an dem
rechten Ende des Risses 2,5 cm, an dem linken 1 cm beträgt. Auch die Ränder
des Längsrisses sind fetzig und blutunterlaufen.
47) Die Schleimhaut des Halses auf der Hinterwand hat eine rothe Farbe;
das Gewebe ist derb, aber durch und durch von Blutungen durchsetzt.
48) Auf dem Durchschnitt zeigt die Gebärmutter an ihrer vorderen Wand
am Fundus eine Dicke von 1 cm, in der Mitte von 2 cm, am Ansatz des Halses
1,2 cm. Das Gewebe ist blassgrau und es entleert sich auch nicht ein Tropfen
Blut aus dem durchschnittenen Gewebe. Die Innenfläche ist sammetartig, an der
Hinterwand zerstreut mit erbsengrossen, an der Vorderwand, dem Sitz des Mutter¬
kuchens, mit flächenhaften, festhaftenden Blutgerinnseln bedeckt, die Fortsetzun¬
gen in die OefFnungen der Gefässe an der Innenwand senden.
50) Im Bauchraum fanden sich nun noch 600 ccm schwarzrothes Blut und
dicke Gerinnsel.
51) Die Milz ist 16 cm lang, 7 cm breit und 2,5 cm dick. Die Farbe
ihrer Oberfläche ist braunroth. Ihre Consistenz ist knisternd, teigig, ihr Gewebe
auf dem Durchschnitt hellgraubraun, feucht und schmierig. Es entleert sich
weder von selbst noch auf Druck Blut aus der Schnittfläche.
52) Die linke Niere ist grau bläulich roth gefärbt, ihre Consistenz so ver¬
ringert, dass sie je nach der Lage ihre Form ändert. Auf der Innenfläche er-
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Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme?
281
scheint das Gewebe gleichmässig grauroth. Das Nierenbecken ist äusserst
blass. 53) Die rechte Niere unterscheidet sich in Niohts von der linken. 57)
Die Schleimhaut des Dünndarmes ist blass. 58) Auch die Schleimhaut des Dick-
darmes ist blass. 59) Die Leber ist 23 cm lang, 20 cm breit und 5 cm hoch.
Ihre Oberfläche ist hellgraublau, ihre Consistenz teigig, hier und da knisternd.
Der Ueberzug ist stellenweise blasig abgehoben. Auf dem Durchschnitt ist das
Gewebe ungemein blassbraun, so dass es einen Stich in’s Gelbliche zeigt; die
Leberläppchen sind kaum von einander zu unterscheiden. Blut entleert sich
weder von selbst noch bei Druck auf die Fläche. 63) Die Entfernung von der
Mitte des inneren Randes der Schaamfuge bis zur Mitte des Vorberges beträgt
9 cm.
64) Der Querdurchmesser als Beckeneinganges beträgt 11.5 cm. 65) Der
schräge Durchmesser beträgt links wie rechts 11 cm. 66) Die Bauchsohlagader
enthält nur gerade so viel Blut, dass ihre Innenfläche damit schwaoh bedeckt ist.
67) Die Bauchblutader war leer. 69) Die Oberfläche beider Lungen ist aschgrau¬
blau. 76) Die Kranzgefässe des Herzens sind leer. 77) Der rechte Vorhof ist
leer, ebenso die rechte Kammer. 78) Der linke Vorhof und die linke Kammer
sind leer. 86) Die Brustscblagader enthält kaum einen Theelöffel dunkles flüssi¬
ges Blut. 87) Die Halsgefässe sind leer. 92) Die Schleimhaut der Zunge ist
äusserst blass, grauweiss, ihre Musculatur trocken, blassgrau. 99) Die Gefässe
der rechten Seite der harten Hirnhaut sind leer, die der linken Seite so wenig
gefüllt, dass sie kaum über das Niveau der harten Hirnhaut sich erheben. 101)
Der Längsblutleiter enthält nur in seinem hinteren Theile wenig dünnflüssiges
Blut. 106) Die Hirnoberfläcbe ist äusserst blass.
108) Die Gefässe an der Hirngrundfläche sind leer. 110) Die Blutleiter an
der Scbädelgrundfläche sind leer. 116) Die Adergeflechte sind von hellgrau-
rother Farbe. 117) Auf dem Durchschnitte erweist sich das Gewebe des Gehirns
feucbtglänzend, äusserst blass in der grauen Substanz, in der weissen Substanz
bilden sich nur sehr spärliche Blutpunkte.
118) Die Nervenknoten sind äusserst blass. 120) Das Kleinhirn ist von
fast reingrauer Farbe. 122) Das Gewebe der Brücke und des verlängerten Marks
ist fast kreideweiss.
123) Das Gewicht des Kindes beträgt 3200 g.
126) Die Durchmesser des Kindesschädels betragen:
a) der Längsdurchmesser 12 cm,
b) der grosse Querdurchmesser 9 cm,
c) der kleine Querdurchmesser 7 cm,
d) der grosse Diagonaldurchmesser 12.5 cm,
e) der kleine Diagonaldurchmesser 9 cm.
127) Auf dem hinteren Theile des linken Scheitelbeines und Hinterhaupt¬
beines befindet sich eine stark ausgeprägte Kopfgeschwulst. 128) Die Kopf¬
knochen sind so gegeu einander vorgeschoben, dass die Stirnbeine mit ihrem
hinteren Rande unter die Scheitelbeine gesohoben sind, so dass die grosse Fon¬
tanelle fast gänzlich verschwunden ist. Zugleich ist das rechte Scheitelbein
unter das linke und das rechte Stirnbein unter das anderseitige geschoben, so
dass die rechte Kopfhälfte von geringerem Umfange als die linke erscheint.
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282
Dr. Schiller,
Von der Königl. Staatsanwaltschaft sind folgende Fragen zur
motivirten Beantwortung gestellt worden:
1. Welches ist die Todesursache?
2. Wodurch der die Verblutung herbeiführende Gebärrautterriss
verursacht worden ist?
3. Ob und welche Handlungen und Unterlassungen der Heb¬
amme mit dem Gebärmutterrisse, mithin auch mit dem Tode
der Gebärenden in Causalnexus zu bringen sind?
4. Ob die Hebamme (wenn auf ihr Thun oder Lassen der Tod
der Gebärenden zurückzuführen ist) zu der Aufmerksamkeit,
welche sie aus den Augen setzte, vermöge ihres Berufes als
Hebamme besonders verpflichtet war?
5. Im Falle nicht erweislich sein sollte, dass die Hebamme
durch Fahrlässigkeit den Tod der Gebärenden verursacht hat,
ob nicht wenigstens erweislich ist, dass sie durch Fahr¬
lässigkeit im Sinne des Absatz 2 § 230 St.-G.-B. eine Ge¬
sundheitsschädigung der Gebärenden verursacht hat?
6. Ob Misshandlungen, welche der Ehemann der Sch. 14 Tage
vor dem Tode zugefügt haben soll, einen Gebärmutterriss
herbeigeführt haben können, der erst 14 Tage später zum
Verblutungstode geführt hat?
Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, den erfolgten Ver¬
blutungstod nachzuweisen, was trotz der Concurrenz der vorgeschrit¬
tenen Fäulniss gelang, in weiterer Folge die Verblutung auf den Ge¬
bärmutterriss zurückzuführen. Wir fuhren im Gutachten sodann fort:
Frau Sch. war eine Elfgebärende. Die vorangegangenen Entbindungen
sollen alle sehr schwer, jedoch ohne Kunsthülfe erfolgt sein. Das 10. Kind kam
scheintodt zur Welt, das 7. oder 8. soll todt geboren worden sein. Wenn schon
diese Angaben der L. auf eine Enge in den Geburtswegen der Sch. schliessen
lassen, so wird solche zur Gewissheit durch directe Messung der Beckendurch¬
messer. wie sie durch die Obduction ermöglicht wurde. Es betrug der gerade
Durchmesser 9 cm, der quere 1 1.5 cm, die schrägen je 11 cm, wodurch sich das
Becken als ziemlich bedeutend allgemein verengt, d. h. als ein Becken erweist,
welches in der Eingangsebene nahezu concentriscb verkürzt ist. Selbstredend
erlangt eine solche Verkürzung gegen das Durchschnittsmaass weiblicher Becken ,
erst durch das Verhältniss zum passirenden Kindeskörpers bezw. zu dessen
Schädel, als dem besiimmenden Theil, practischo Bedeutung, da ein ungewöhn¬
lich kleiner Kopf durch ein verengtes Becken doch leichter passiren kann als ein
ungewöhnlich grosser (Wasserkopf!) durch ein normales, welches diesem gegen¬
über als zu „eng“ sich erweisen würde. Indem wir feststellen, dass die Schädel¬
durchmesser des in der Geburt befindlichen Kindes die eines kräftigen, reifen
waren, haben wir erwiesen, dass ein Missverhältnis zwischen den beiden Fac-
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Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme?
283
toren vorhanden war, dass also die Verengerung des Beckens ihren Einfluss auf
den Gebnrlsverlauf entfalten konnte und musste. Unter diesem Einfluss aber
steigern sich die Schwierigkeilen bei der Elimination des Eies mit jeder weiteren
Entbindung, bedingt durch die Veränderungen, welche in den Geburtswegen
durch die vorangegangenen Geburten gesetzt werden. Ihre Schilderung erfolgt,
soweit sie für die Beurtheilung des vorliegenden Falles von Wichtigkeit ist:
Nur der Gebärmutter k örpe r spielt bei der Ausstossung des Kindes eine
active Rolle, indem er durch seine Contraction einen allseitigen Druck auf seinen
Inhalt ausübt, durch welchen derselbe nach dem Orte des geringsten Wider¬
standes, d. h. dem Ausgang gedrängt wird. Gebärmutterhals und Scheide sind
als elastische Schläuche zu betrachten, welche theils durch den andrängenden
Kindestbeil, theils — und dies gilt besonders für den Hals — durch directon
Zug des Gebärmutterkörpers erweitert und über das nach abwärts rückende Kind
zurückgestreift werden. Damit diese Dehnung des Halses möglich sei, muss
dieser nach der dem Angriffspunkte (seiner Verbindung mit der Gebärmutter)
entgegengesetzten Richtung hin befestigt sein und dies ist er hauptsächlich durch
straffe Faserzüge, welche von ihm gegen das Becken gehen. Sie erlauben bei
ibrerStraff heit nur eine begrenzte Dehnung, — so dass, wenn diese erreicht ist, die
weiteren Contractionen des Körpers die Erweiterung des Schlauches bewirken,
wobei der Hals nach seiner Länge und Breite godehnt wird. Indem so die Faser¬
züge einer Dehnung des Halses widerstreben, und andererseits derselbe Effect
dadurch erzielt wird, dass die Gebärmutter durch ihren Bandapparat und die
straffen Bauchdecken nach abwärts gedrückt wird, wird der übermässigen Deh¬
nung des Halses vorgebeugt. Nach der ersten Geburt aber erlangen die Geburts¬
wege nicht mehr ihre frühere Straffheit wieder und jede weitere Geburt verrin¬
gert sie um einiges. Die Faserziige setzen der Dehnung des Halses somit immer
geringeren Widerstand entgegen und die Bauchpresse drückt die Gebärmutter
weniger stark nach abwärts.
Bei normalen Verhältnissen hat die verminderte Elasticität nicht viel zu be¬
deuten. weil es überhaupt nicht zur maximalen Dehnung kommt, da der vor-
rückende Kindestheil die Widerstände des Beckenringes früher überwindet.
Anders aber bei vorhandener Beckenenge. Die vergrösserten Hindernisse am
Beckenringe erfordern grössere Anstrengungen der Gebärmutter, welche natürlich
eine erhöhte Dehnung des Halses bedingt. Sind (wie bei einer Erstgebärenden)
die Gewebe straff, so verhindern diese, wie gezeigt, eine übermässige Dehnung
des Halses, und schliesslich wird der Widerstand, welchen die Gebärmutter bei
dieser findet, grösser als der Beckenwiderstand gegen den andrängenden Kopf
und dieser rückt vor. Hat aber das Gewebe an seiner Elasticität durch vorange¬
gangene Geburten schon eingebüsst, so giebt der Hals der ziehenden Gewalt des
Körpers viel leichter nach. Wenn non letzterer sich stetig verkleinert, der Inhalt
der Gebärmutter nicht im gleichen Maasse durch Ausweichen nach dem Aus¬
gange, so muss dies durch eine vermehrte Dehnung des Halses ausgeglichen wer¬
den und dies so lange, bis der Hals seine Verdünnungs- und damit auch seine
Dehnungsgrenze erreicht hat. Jetzt aber wird die Lage kritisch! Fährt der Ge¬
bärmutterkörper in seinem Bestreben, sich zu verkleinern, fort, und rückt der
Kopf nicht vor, so reisst der Hals ein und durch den Riss hindurch verkleinert
sich der Inhalt der Gebärmutter. Gemeinhin erlahmt jodoch vorher zum Glück
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284
Dr. Schiller,
für die Kreissende die Gebärmutter; jeder Anlass dagegen, welcher die Wehen
verstärkt, muss die Katastrophe beschleunigen.
Auch in unserem Falle haben wir uns das Zustandekommen des
Gebärmutterrisses auf gleicher Grundlage zu denken. Dass aber die
Dehnung des Halses in der That stattfand, ist ersichtlich aus seiner
11 cm betragenden Länge und seiner äussersten Verdünnung, so dass
seine Hinterwand 2 mm dick war, während er an seiner Vorderwand
stellenweise zu einer durchscheinenden Membran verdünnt war. Es
wird die Dehnung ferner durch die massenhaft in das Gewebe des
Halses hinein erfolgten Blutungen erwiesen, die durch das Einreissen
feiner Gefässe, die der Dehnung nicht Stand hielten, entstanden.
So war der Gebärmutterriss bei Frau Sch. vorbereitet und konnte
zu Stande kommen, ohne dass ein besonderer Eingriff einer dritten
Person in den Geburtsverlauf geschah. Und thatsächlich verhielt es
sich auch so; die L. hat sich ja einer jeden Hülfsleistung enthalten,
unter der oder durch die das Unglück sich ereignete.
Einen so entstandenen Gebärmutterriss nennt man einen „spontanen“,
während die „violenten“ unter der Thätigkeit des Geburtshelfers sich ereignen.
Es wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtbum, mit den Begriffen „spontan, vio¬
lent“ die Ansicht zu verbinden, dass der letztere allemal eine Schuld des Ge¬
burtshelfers involvire, der erstere ihn von einer solchen freispräche. Wenn bei
vernachlässigter Querlage des Kindes und fest um dieses contrahirter Gebär¬
mutter, wo ja ganz dieselben Verhältnisse vorliegen wie beim engen Becken,
unter allen Vorsichtsmaassregeln der Geburtshelfer zur nothwendigen Wendung
desKipdes schreitet, während welcher, ja duroh welche die Katastrophe eintritt,
so ist der Riss zwar als violenter zu bezeichnen, einer Schuld aber der Geburts¬
helfer nicht zu zeihen. Wohl aber trägt er die volle Schuld an dem spontanen
Riss, den durch thätiges Eingreifen zu verhindern er nicht versucht bat; denn
der spontane Riss ist nicht etwa stets unvermeidlich, sondern die Gefahr lässt
sich häufig genug durch einen bedachten und rechtzeitigen Eingriff beseitigen
und die Geburt einem glücklichen Ende zuführen.
Dies im Auge behaltend, wollen wir uns dem schwierigsten Theile unseres
Gutachtens zuwenden, der Untersuchung der Frage, ob und welche Schuld der
Hebamme L. an dem tragischen Ausgange der Geburt beizumessen ist. Das Kri¬
tische des Urtheils wird einleuchten, wenn wir bedenken, dass dasselbe über eine
Person abgegeben werden soll, der durch die staatliche Approbation das Prädioat
„fähig“ zugesprochen wurde. Indess finden wir gerade wieder in diesem Placet
des Staates die Richtschnur für den Gang unserer Untersuchung, denn die Appro¬
bation bedeutet die Garantie für die Summe von Wissen, welche nothwendig ist,
dass der Approbirte seinen Beruf zum Nutzen der ihm sich Anvertrauenden aus¬
übe. Von diesem Gesichtspunkte aus lautet die uns beschäftigende Frage:
War die Hebamme L. in der Lage, vermöge der Kenntnisse, die bei
ihr nach Maassgabe ihres Lehrbuches vorausgesetzt werden müssen,
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Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme?
285
das Bedenkliche in dem Befinden der Kreissenden erkennen und recht¬
zeitig für sachverständigen Beistand Sorge tragen zu können?
Als die Hebamme L. in der Nacht vom 27.—28. October gegen 12 Uhr zu
der in Kindesnötben befindlichen Inliegerin Sch. kam. fand sie dieselbe im Ganzen
wohl; nur klagte die Scb. über Schmerzen im Unterleibe, namentlich bei Be¬
rührung desselben und über Kälte im linken Bein. Die Wehen waren stark. Um
2 Uhr traten Schüttelfröste ein, — es wurde der Kranken übel; sie klagte
wiederum, dass ihr ganz anders sei wie bei früheren Entbindungen, sie habe sich
wohl etwas gemacht, es thäte ihr so weh, was das wohl wäre. Dieser Zustand
dauerte an und um 4 Uhr schickte die Hebamme, wie sie behaupet, nach einem
Arzte, da sie fürchtete, die Kranke möchte schwach werden.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass sogleich bei ihrer Ankunft, ganz
besonders aber um 2 Uhr, der Hebamme der Zustand der Kreissenden bedenklich
erscheinen musste; waren ja doch der von der letzteren wiederholt und äusserst
lebhaft geklagte Schmerz bei Berührung des Unterleibs und später die Schüttel¬
fröste und das Uebelwerden markante Zeichen der drohenden Gefahr. Diese Zei¬
chen sind ihr auch nicht entgangen, da sie ja selbst der Kranken gegen das
Kältegefühl warme Einwickelungen der Füsse machte. Es war ihre Pflicht, wenn
nicht gleich bei ihrer Ankunft, so doch spätestens um 2 Uhr ohne alle Rücksicht
auf Herbeiholung eines Arztes zu bestehen, wie dies das Lehrbuch ihr vorschreibt
(Lehrb. für pr. Hebammen, §§ 10—15 der Instruction).
Lässt sich diese Pflicht der Hebamme nicht in Abrede stellen, und hat sie
sich damit eines Vergehens schuldig gemacht, so ist es doch unmöglich zu* er¬
weisen, dass sachverständige Hülfe noch rechtzeitig hätte eintreifen können, um
das Verhängniss abzuwenden. Das von der Hebamme um 2 Uhr festgestellte Be¬
finden der Kreissenden, welches einen grossen Verfall derselben kundihut, deutet
doch mit mindestens sehr grosser Wahrscheinlichkeit auf eine bereits in diese Zeit
fallende Blutung, also den Beginn des Risses. Dieser Riss vergrösserte sich nun
mit den folgenden Wehen allmälig, bis er in der sechsten Stunde mit dem plötz¬
lichen Austritt des Kindes in die Bauchhöhle seine grösste Ausdehnung erreichte.
Damit stimmt es auch überein, dass die Wehen nach und nach schwächer wurden
und in der sechsten Stunde gänzlich aufhörien, nachdem die Gebärmutter den
Zweck ihrer Contraolionen mit der Entleerung ihres Inhaltes erfüllt hatte. Wenn
wir auch annehmen müssen, dass in diese Zeit erst die hauptsächlichste Ver-
grösserung des Risses und die zum Tode führende grosse Blutung fallen, wie es
aus dem plötzlichen Verfall der Kreissenden, ihrem Erbrechen und Klagen über
Spannung im Leibe sich ergiebt, so gebt es doch nicht an, bei der ungünstigsten
Prognose, die selbst der kleinste Gebärmutterriss für das Leben der Befallenen
abgiebt, zu behaupten, dass durch sachverständige Hülfe der Tod der Sch. hätte
abgewendet werden können.
Ist es somit unmöglich nachzuweisen, dass den (Handlungen oder) Unter¬
lassungen der Hebamme L. der Tod der Sch. zur Last zu legen ist, so lässt sich
doch nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass durch dieselben der Eintritt des
Todes mit Wahrscheinlichkeit beschleunigt wurde, sicher aber die Chancen für
die Erhaltung der Sch. sehr verringert worden sind. Mögen diese Chancen an
sich noch so gering sein, so sind sie doch immerhin desto grösser, je bälder die
Kreissende dem Zustande entzogen wird, welcher zu der Läsion führte, und je
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UNIVERSITÄT OF IOWA
286
Dr. Schiller,
weniger umfangreich die Ausdehnung ist, bis zu der die Verletzung gediehen ist.
Es konnte aber die ärztliche Hülfe, wenn sie rechtzeitig und dringend, wie es
nothwendig war, requirirt worden wäre, bereits in der fünften Stunde anwesend
sein, wodurch einmal sehr viel Zeit gewonnen und weiter verhütet worden wäre,
dass der Riss seine grosse Ausdehnung erlangte; denn wie die Symptome darauf
hinweisen, dass erst um 6Uhr der Process seinen Abschluss fand, so wird durch
den Umstand, dass das Bauchfell von der Unterlage nirgends sich abgehoben
zeigte, erwiesen, dass die Risse in den Seitenwänden des Halses nicht allmälig,
sondern plötzlich sich ereigneten, und dies kann eben nur am Ende der Kata¬
strophe, um 6 Uhr, bei Austritt des Kindes in die Bauchhöhle geschehen sein.
Wir glauben daher die 5. Frage der Königl. Staatsanwaltschaft, die wir des Zu¬
sammenhanges wegen vorwegnehmen zu müssen glaubten, dahin beantworten zu
sollen, dass durch die Unterlassungen der L. eine Verschlimmerung in dem Be¬
finden der Sch. verursacht worden ist, die als Gesundheitsbeschädigung zu er¬
achten ist.
Aber die L. hat die Grösse der Gefahr, in welcher die Sch. schw r ebte, ja
überhaupt das Vorhandensein einer Gefahr bis zum letzten Augenblick nicht er¬
kannt und dem in der dritten Stunde, also nach Eintritt der Schüttelfröste, auf
die Zuziehung eines Arztes drängenden Manne der Sch. geantwortet, dass „das
Kind in der Geburt und es eine Schande sei, den Arzt zu holen.“ Es ist hier nicht
der Ort, die Widersprüche in den Auss igen des Sch. und der L. zu lösen, aber
sicher ist in dem Wortlaut der Antwort, die eine unter den Hebammen leider
sehr verbreitete Ansicht zum Ausdruck bringt, ein Moment gegeben, das für die
Wahrheit der Angaben des Ehemannes Sch. spricht. Damit stimmt ferner, dass
die L. dem Verlaufe der Entbindung keineswegs mit der Aufmerksamkeit folgte,
die nothwendig war, um in die einzelnen Phasen derselben den für das Wohl der
Kreissenden nothwendigen Einblick zu gewinnen.
Schon die erste Untersuchung hat die L. nicht mit der nöthigen Aufmerk¬
samkeit vorgenommen. Nach ihrer Angabe soll das Kind in erster Lage, d. h.
mit dem Rücken nach links gerichtet, sich zur Geburt gestellt haben, während
durch die Section erwiesen wuide, dass zweite Lage bestand. Eine Drehung des
Rückens von links nach rechts in Folge des Risses ist ausgeschlossen; denn auch
die Veränderungen am Kindesschädel erweisen die zweite Lage. Die Section
zeigte das Hinterhaupt nach rechts gerichtet und die Kopfgeschwulst. welche ge¬
wöhnlich auf dem nach vorn gerichteten Scheitelbein sich befindet, Jag auf dem
linken Scheitel- und Hinterhauptsbein, welches eben nur bei zweiter Kindeslage
das nach vorn gerichtete ist. Zugreich waren das rechte (hintere) Scheitel- und
Stirnbein unter die gleichnamigen linksseitigen Knochen geschoben, ebenfalls
Folgen des Geburtsmechanismus-bei zweiter Schädellage und beweisend für das
Bestehen letzterer.
Herztöne und Kindesbewegungen will die L. nicht wahrgenommen haben.
Es ist jedoch überaus wahrscheinlich, dass sie überhaupt eine eingehendere
Untersuchung nicht vorgenommen, sondern, sich begnügt hat, durch innere Unter¬
suchung festzustellen, wie tief bereits der Kopf im Becken stünde. Einen etwaigen
Irrthum bei der ersten Untersuchung musste sie nach dem Blasensprunge berich¬
tigen, wie es durch das Lehrbuch (§ 108) vorgeschrieben ist. Bemerken wir
ferner, dass die L. sich bei Leitung der Entbindung mehr durch den Willen und die
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Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme?
287
Wünsche der Kreissenden bestimmen liess, als selbst handelnd auftrat. Es fehlte
ihr die Initiative* welche das aus zureichendem Wissen entspringende Verständ¬
nis der Lage gewahrt. Auf die Forderung der Kreissenden sprengt sie die
Blase* auf ihren Wunsch wärmt sie ihr Tücher; nirgends eigenes zweckbewusstes
Handeln.
Die Blase zu sprengen, war die L. nicht einmal berechtigt. Nach Maass¬
gabe des Lehrbuches (§314) darf die Hebamme die Blase sprengen, „wenn die¬
selbe mit Vorwasser gefüllt ist, und sich der Blasensprung verzögert, nachdem
der Muttermund völlig erweitert und der Kopf in günstiger Stellung in’s Becken
eingetreten ist“. Frau L. giebt an, dass der Kopf sich in Beckenweite befunden
habe; es ist aber einleuchtend, dass sie überhaupt nicht versucht hat, über die
Frage, ob der Kopf günstig stehe, Sicherheit zu erlangen, da sie gegenteilig
nicht über die Lage im Irrthum bleiben konnte. Auch der Füllungsgrad der
Blase bedingte ihre Sprengung durch die Hebamme nicht, Nach den Angaben
derselben war die Blase während der Wehen straf! gespannt, in der Wehenpause
schlaf!. Eine Kopfgeschwulst fühlte die L. nicht, wohl aber legte sich die Kopf¬
haut in Falten. In diesen Angaben nun befinden sich mannigfache Widersprüche.
Die Kopfgeschwulst nämlich entsteht dadurch, dass die Stelle, an der sie sich
bildet, einem geringeren Drucke als die über ihr liegenden Stellen ausgese‘zt ist,
indem gegen erster© Blut und seröse Flüssigkeit an- und in das ünterhautzell-
gewebe eindringen. Sie kann sich also bei stehender Blase nur dann bilden,
wenn das zwischen Kopf und Blasenspitze befindliche Wasser (Vorwasser) einem
geringeren Drucke ausgesetzt ist. als der Inhalt der Gebärmutter. Indem die
Faltung der Kopfhaut nichts anderes ist als der Beginn der Bildung einer Kopf
geschwulst, unterliegt sie gleichen Gesetzen. War dies nun, wie die L. be¬
hauptet, der Fall, so konnte der Wechsel in der Spannung des Vorwassers in
der Wehe und der Wehenpause nicht eintreten, sondern der hydrostatische Druck
musste trotz der wechselnden Phasen der Wehenthätigkeit derselbe bleiben. Be¬
ruht jedoch diese Wahrnehmung der L. auf einem Irrthum, trifft es vielmehr zu,
dass die Spannung in dem Vorwasser wechselte, so war die Blase noch nicht
springfertig, da bei Herannahen dieses Zeitmomentes die Spannung des Vor¬
wassers durch die Dehnung der Blase so gross geworden ist, dass sie auch in
der Wehenpause nicht merklich nachlässt. Es lag also keine Anzeige % und auch
keine Berechtigung für die L vor, die Blase zu sprengen. Ja es war dies ganz
gegen das Interesse der Gebärenden, und hätte die L. den Zustand derselben
auch nur entfernt geahnt, so hätte sie alle Hülfsmittel aufbieten müssen, die
Wehenthätigkeit zu hemmen, statt sie durch Sprengring der Blase anzuregen.
Es ist nicht möglich, darüber zu befinden, ob und in wie weit die Blasenspren¬
gung den Verlauf der Geburt direct beeinflusst hat, da über die Wirkung der
Operation in den Acten nichts constirt; jedoch lässt sich keineswegs aus-
schliessen, dass, wenn sie wirklich eine Verstärkung der Wehen zur Folge hatte,
wie es in der Regel geschieht, diese Verstärkung wenngleich nicht den Ausgang
verschuldet, so doch ihn beschleunigt hat, wie es aus der obigen Auseinander¬
setzung des Mechanismus der Gebärmutterrisse erhellt.
Und welcher Grund lag denn überhaupt vor, die Geburt zu beschleunigen?
Als die L. zur Kreissenden kam, waren die Wehen stark und, wenn es wahr ist,
dass bei Ankunft der L. der Kopt bei thalerweis eröffnetem Muttermunde im
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Dr. Schiller,
‘288
Beckeneingang and nach einer Stunde bei völlig erweitertem Muttermunde in
Beckenweite stand, so hatte die Gebart solche Fortschritte gemacht, dass billig
die Frage gelten kann, bis zu welcher Schnelligkeit denn der Fortgang derselben
beschleunigt werden sollte. Schien jedoch der L. eine Beendigung der Geburt
durch das Befinden der Kreissenden geboten, so war ihr der einzige Wog hierzu
durch ihr Lehrbuch vorgeschrieben, nämlich die Hinzuziehung eines Arztes.
Auch des Weiteren hat sich die L. in Widerspruch mit ihrem Lehrbuche ge*
setzt, dass sie nämlich die Kreissende ohne ausserordentlichen und dringenden
Nothfall, wenn auch angeblich mit deren Einwilligung, verliess (§ 5 Instruction),
was um so unverzeihlicher ist, als sie damals ja selbst schon die Kreissende für
krank erachtete, ob ihr gleich der Zustand nicht besorgnisserregend schien. Frei¬
lich lässt uns diese Ansicht die Frage von Interesse erscheinen, welchen Zustand
einer Gebärenden die L. für * besorgnisserregend“ hält, wenn nicht einen sol¬
chen, der seine Schwere durch Schüttelfröste, Uebelkeit etc. deutlich genug kenn¬
zeichnet.
Resamiren wir das im letzten Abschnitt Auseinandergesetzte, so
glauben wir in erster Reihe gezeigt zu haben, dass es der Hebamme
L. vermöge der bei ihr vorauszusetzenden Kenntnisse möglich war,
die gefährliche Lage der Sch. rechtzeitig genug zu erkennen und ärzt¬
liche Hülfe herbeizurufen, und dass höchstwahrscheinlich dadurch der
unglückliche Ausgang abgewendet worden wäre. Die L. handelte
ferner gegen die Lehren des Lehrbuches, indem sie Eihäute ohne In-
dication und gegen den Vortheil der Kreissenden sprengte, endlich
indem sie diese verliess. Fragen wir, woher es wohl gekommen sein
mag, dass die L. nicht zur Erkenntniss der Lage kam, in der die
Sch. sich befand, dass sie ferner das instructionswidrige Handeln sich
zu Schulden kommen liess, so geben die Antwort ebenfalls unsere
vorstehenden Auseinandersetzungen, die nachgewiesen, wie nachlässig
die L. die Untersuchung vorgenommen hat, wie sie in ihrem Handeln
durch die Kreissende sich bestimmen liess, ohne die Zweckmässigkeit
desselben selbständig zu prüfen. Bestätigt sich noch gar die Angabe
des Sch., dass die L. «inen grossen Theil der Zeit verschlafen hat
und immer erst wieder durch die Kreissende zur Untersuchung er¬
mahnt werden musste, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass
die L. bei Beobachtung der Entbindung die nothwendige Aufmerk¬
samkeit aus den Augen setzte. Und zu dieser Aufmerksamkeit war
sie vermöge ihres Berufes besonders verpflichtet. Denn wie anders
soll die Hebamme ihrer hohen Pflicht, dem Weibe in ihren schwersten
Stunden beizustehen und über dieselben sie ohne Gefahr für Leib und
Leben ihrer selbst und des Kindes hinauszubringen, — wie anders kann
sie dieser Pflicht genügen, als indem sie mit grösster Sorgfalt und
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Original fro m
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Gebärmutterriss. Schuld der Hebamme?
289
Aufmerksamkeit jede einzelne Phase der Entbindung verfolgt, „sich“,
wie das Lehrbuch vorschreibt, «gleich im Anfänge durch eine genaue
Untersuchung über alle Verhältnisse unterrichtet, welche für den Ver¬
lauf der Geburt von Wichtigkeit sind und durch eine fortgesetzte
Beobachtung sich vergewissert, dass der regelmässige Gang derselben
keine Störungen erleidet (§ 95), jede Störung aber rechtzeitig zu er¬
kennen strebt und ärztliche Hülfe nachsucht“ (§ 204).
Durch den Nachweis, dass der Gebärmutterriss wahrscheinlich
um die zweite Stunde sich ereignet hat, zu welcher Zeit auch die
Verpflichtung für die L. eintrat, einen Arzt zu holon, und ferner,
weil, wie erwähnt, in der Prognose für das Leben der Betroffenen
ein kleiner Gebärmutterriss dieselbe üble Bedeutung hat wie ein
grosser, eine weitere Gesundheitsschädigung der Sch. endlich nicht
nachzuweisen ist, glauben wir uns berechtigt, auch die fünfte Frage
der Königl. Staatsanwaltschaft für erledigt zu halten, anders müsste
die Untersuchung wieder auf den Gebärmutterriss hin gerichtet wer¬
den und wir würden somit nur bereits Gesagtes wiederholen.
Somit erübrigt noch die Beantwortung der Frage, ob Misshand¬
lungen, welche der Ehemann der p. Sch. 14 Tage vor deren Tode
zugefügt habnn soll, einen Gebärmutterriss herbeigeführt haben können,
der erst 14 Tage später zum Verblutungstode geführt hätte.
Der Riss selbst war erst in der Geburt entstanden; an keiner
Stelle desselben fanden sich Zeichen, die auf eine frühere Entstehung
hinwiesen. Nun lässt es sich nicht leugnen, dass Misshandlungen,
welche im Laufe der Schwangerschaft den Unterleib treffen, erst
später, ja noch nach Monaten ihre Wirkung in einem Gebärmutter¬
riss äussern können. Sie thun dies durch eine Erkrankung des Ge¬
bärmuttergewebes, die sich natürlich durch die Obduction nachweisen
lassen muss. Das Gewebe der erkrankten Theile zeigt sich dann
weich und morsch, wohl auch von Eiter durchsetzt, während mehr
oder weniger ausgesprochene Zeichen von Entzündung auch in der
Umgebung sich bemerkbar machen. Ganz im Gegentheil hat die Ob¬
duction der Leiche der Frau Sch. ergeben, dass das Gewebe des
Halses derb war, und weder an diesem noch an dem Gebärmutter¬
körper, noch in der Umgebung durch vorherige Krankheit erzeugte
Veränderungen nachgewiesen. Ebenso wenig hat die Section irgend
welche auf einen gegen den Unterleib der Sch. gerichteten Angriff
hinweisende Verletzung aufgedeckt, und wenn es auch möglich ist,
dass hin und wieder die Gebärmutter, ja selbst das Kind in ihr ver-
19
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UMIVERSITY OF IOWA
290
Dr. Schiller.
letzt werden kann, ohne dass an den äusseren Bedeckungen Zeichen
einer Verletzung sich zeigen, so ist dies doch so überaus selten, dass
das Fehlen solch äusserer Zeichen allgemein die Berechtigung giebt,
zu bezweifeln, dass diese Theile einem Angriff ausgesetzt gewesen
sind. Eine Verletzung der Sch. hat die Section in der That nachge¬
wiesen, nämlich eine mit einem stumpfen Instrumente (Fall, Faust,
Stiefel u. dgl.) beigebrachte starke Blutunterlaufung an der linken
Seite des Gesichtes; indess ist ein Causalnexus zwischen dieser Ver¬
letzung wie ja eben irgend einer Verletzung und dem Gebärmutterriss
nicht vorhanden.
Somit geben wir in Beantwortung der von der Königl. Staats¬
anwaltschaft vorgelegten Fragen unser definitives Gutachten dahin ab:
ad 1. Die Frau Sch. ist an innerer Verblutung in Folge eines
Gebärmutterrisses gestorben.
ad 2. Der Gebärmutterriss war ein sog. spontaner.
ad 3. Es lässt sich nicht erweisen, dass durch Handlungen oder
Unterlassungen der L. der Tod der Sch. verschuldet wor¬
den ist.
ad 4. Die Hebamme L. war zu der Aufmerksamkeit, welche sie
aus den Augen setzte, vermöge ihres Berufes als Hebamme
besonders verpflichtet.
ad 5. Es ist mindestens höchst wahrscheinlich, dass die L. durch
Handlungen und Unterlassungen eine Gesundheitsschädi¬
gung der Sch. veranlasst hat.
ad 6. Es ist ausgeschlossen, dass Misshandlungen, welche der
Ehemann der Sch. 14 Tage vor deren Tode zugefügt haben
soll, den Gebärmutterriss herbeigeführt haben, der zum
Verblutungstode geführt hat.
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7.
E» weiterer Fall Simalatiea tob Schwächst!! bei
besteheader GeistesstftrBig. l )
Motivirtes Gatachten
Von
Dr. Clemens lfTelsser,
2. Ante an der ProvincUMrrenheilanstalt in Leubui.
Seitens der Direotion hiesiger Provinzial-Irrenheilanstalt mit der Exploration
des Untersnchnngsgefangenen Wollausgeber Josef Wietek ans Jakobowitz, Kreis
Olatz, beauftragt, entspreche ich hierdurch ergebenst der geehrten Requisition
des Königlichen Herrn Ersten Staatsanwalts za Glatz vom 28. Juni bezw. vom
14. August 1888 and gebe aber den Geisteszustand des Exploraten das nach¬
stehende motivirte Gutachten ab.
Der Verdacht, dass bei dem p. Wiebek vielleicht eine geistige Störnng vor¬
handen sei, entstand durch sein Verhalten gelegentlich eines Reohtshandels, in
welchem er als Angeklagter betheiligt war.
In der Sitzung des Königl. Schöffengerichtes vom 19. März 1888 (D. 10.
88) wurde „thatsächlich festgestellt, dass der Angeklagte (p. Wietek) im October
1887 im Inlande einen geschlossenen Brief, der nicht zu seiner Kenntniss be¬
stimmt war, vorsätzlich und unbefugterWeise geöffnet hat.“ Er wurde zu einem
Mooat Gefangniss und in die Kosten des Verfahrens verurtheilt. In den Erkennt-
nissgründen heisst es: „Bei der Strafzumessung war zu berücksichtigen, dass
der Angeklagte sich während der Hauptverhandlung in der frechsten Weise be¬
nommen hat. Es machte den Eindruck, als ob es dem Angeklagten ein beson¬
deres Vergnügen bereitete, durch soine Manipulationen mit dem Briefe eine ge¬
richtliche Untersuchung und Verhandlung herbeigeführt za haben.“ Gegen dieses
Urtbeil des Königl. Schöffengerichtes legte Wietek am 22. März 1888 (D. 10.
88. Bl. 52) Berufung ein. Am 25. Mai d. J. stand vor der Strafkammer in
dieser Sache Verhandlungstermin an. Es wurde beschlossen, die Sache auf Kosten
des Angeklagten zu vertagen, „da derselbe fortwährend gegen den Gerichtshof
Beleidigungen ausstiess, sich auch in einem so erregten Zustande befand, dass
mit demselben nicht zu verhandeln war.“
Nähere Details über das Benehmen des Exploraten an diesem Tage ent¬
nehme ich der ausführlichen Deposition des Gerichtsassessors M. vom 7. Juli
1888 (III. J. 589/88, Bl. 14). Derselbe bekundet: „Obwohl die Verhandlung in
Acten III. M. 30/88 sich mindestens 2 Stunden hinzog, habe ich bei dem Be¬
schuldigten W. während dieser ganzen Zeit irgend welche auffällige psychische
') Vergleiche diese Zeitschrift, Bd. XLIX, 1. Heft.
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UNIVERSUM OF IOWA
‘292
Dr. Neisser,
Erregung in keiner Weise wahrgenommen. Sowohl während seiner Vernehmung
über die persönlichen Verhältnisse als auch bei seiner Vertheidigung gegenüber
der gegen ihn erhobenen Anschuldigung blieb Wieiek ruhig und gelassen. Eben¬
sowenig schienen die ihn belasienden Zeugenaussagen ihn zu erregen. Er ver¬
suchte zwar bei einigen der Zeugen eine Widerlegung ihrer Aussagen. Das ge¬
schah aber in einer keineswegs aufgeregten Art und Weise, vielmehr hielt sich
W. hierbei in den Grenzen einer wohlüberlegten ruhigen Abwehr. Auch die Ver¬
kündigung des Unheils, welches dem W. eine dreijährige Gefängnissstrafe und
Nebenstrafen auferlegte, schien keinen besonderen Eindruck auf ihn zu machen.
Darauf wurde vom Gerichtshof mit Rücksicht auf die Höhe der Strafe die so¬
fortige Verhaftung des W. beschlossen und dios verkündet. Auch dies hörte W.
zunächst ruhig und, ohne ein Wort zu sagen, an. Erst als er unmittelbar darauf
durch den aufwartenden Gerichtsdiener in die hinter der Anklagebank befindliche
Detentionszelle abgeführt werden sollte, hielt er sich mit den Händen an der
Barriöre fest und brach iü Schimpfreden aus, die mir zunächst unverständlich
waren. Bei dem Ringen mit dem Gerichtsdiener wurde aber W. immer lauter und
schrie schliesslich, sich wie ein Rasender geberdend, mit dem Gesicht nach dem
Gerichtshof hingewendet mit weithin vernehmlicher Stimme: „Ihr verfluchten
Hunde, ihr Luder, verfluchte Spitzbuben seid Ihr, Räuber u. s. w.“ Da W. in
dieser Weise noch weiter eine wahre Fluth von Schimpfworten gegen den Ge¬
richtshof ausstiess, trat der Vorsitzende, Geh. Justizralh B.. an ihn heran und
suchte ihn zu beruhigen. Das empörte aber W. noch mehr und schrie er ihm
zu: „Du altes verfluchtes Luder, Du hast mich schon einmal ungerecht ver-
urtheilt, Ihr seid alle Schuld ao meinem Unglück.“ Darauf wurde W. mit vieler
Mühe und Anstrengung, indem er dem Gerichlsdiener den heftigsten Widerstand
leistete, in die Zelle geschafft. Einige Zeit später stand eine zweite Strafsache
gegen W. an, in welcher er gegen ein Unheil des Königl. Amtsgerichts zu Lewin
Berufung eingelegt hatte. Kaum war W. in dem Rahmen der Zellenthür er¬
schienen, als er beim Anblick des Gerichtshofes sofort in die höchste Wuth ge-
rieth und wiederum mit lauter Stimme schrie: „Ihr Hunde, ihr verfluchten, ihr
Luder, Spitzbuben.“ Da unter solchen Umständen an eine Verhandlung mit W.
nicht zu denken war, so wurde er auf Anordnung des Vorsitzenden sofort wieder
in die Detentionszelle gebracht und schliesslich Vertagung der Sache beschlossen.
Bei seiner Abführung in das Gerichtsgefängniss musste W. wieder einen Theil
des Schwurgericbtssaales, in welchem die Verhandlung stattgefunden, betreten.
Kaum hatte W. den Gerichtshof wieder erblickt, als er auch sofort in erneute
Schimpfreden ausbrach und hierbei dieselben Aeusserungen wie früher wieder¬
holte. Nur mit Mühe wurde er durch zwei Gefangenwärter aus dem Saale her-
ausgebracht, indem er fortwährend weiter lärmte und tobte.“
Am 25. Juni d. J. war ein neuer Termin angesetzt. Mit dem Angeklagten
wurde mehrfach versucht zu verhandeln. Er gab auf die an ihn gestellten Fragen
keine Antwort, meinte nur, er wisse nichts, wirft sich öfters zur Erde nieder, ge¬
berdete sich wie ein tobsüchtiger Mensch und rief häufig: „Jesus, Maria, Joseph.“
(D. 10. 88. Bl. 78.)
Auf Antrag des Gefängnissarztes, Sanitätsrath Dr. C., wurde beschlossen,
den Angeklagten in einer öffentlichen Irrenanstalt auf seinen Geisteszustand
untersuchen zu lassen.
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung. 293
In der Zwischenzeit zwischen den beiden Terminen, also in der Zeit zwi¬
schen dem 25. Mai und 25. Juni d. J. soll das Verhütten des W. ein sehr stilles
gewesen sein; er habe in einem Winkel der Zelle auf seinem Schemmel zusammen¬
gekauert und mit niedergesenktem Blicke dagesessen, sei mehr wie wortkarg ge¬
wesen, so dass es besonderer Mühe bedurft habe, eine Antwort aus ihm heraus¬
zulocken. Durch einigeTage habe er die Nahrungsaufnahme verweigert und auch
in der Nacht mehrfach unruhig geschlafen (Bericht des Saniiätsraths Dr. C. vom
9. 8. d. J.). Einige Tage vor dem zweiten Termin wurde das Verhalten des W.
ein mehr actives. Der Gefangenenaufseher Z. giebt in seiner Vernehmung vom
26. Juni d. J. an: „Als ich am 23. 6. 88 Nachmittags gegen 4Uhr in den Zellen
meines Reviers die Wäsche vertheilte, fand ich den in der Zelle No. 3 inhaftirten
Untersuchungsgefangenen W. in nachstehend beschriebenem Zustande vor: Der¬
selbe war bis auf Uemde und Unterhosen vollständig entkleidet, das Hemde hing
zerrissen an seinem Körper herunter und war mit blauen Papierstreifen beklebt.
Als ich ihn aufforderte, sich wieder anzukleiden und sich ordentlich zu betragen,
that er dieses nicht nur nicht, sondern fing an zu toben und zu schimpfen. Er rief
wiederholt in Beziehung auf den Herrn Ersten Staatsanwalt laut, so dass es
Jedermann in seinem Zimmer hören konnte: „Räuberhauptmann Schmidt, der
hat meine drei Häuser gefressen, er kann mich jetzt auch fressen!“ Als all mein
Zureden nichts half, machte ich dem Herrn Inspector von dem Vorfall Anzeige,
welcher die Anlegung der Zwangsjacke und die Unterbringung in Zelle No. 9
anordnete. Mit Hülfe der Calfactoren führte ich diesen Befehl aus; auch hierbei
schimpfte W. in oben erwähnter Weise und setzte den Lärm in Zelle No. 9 fort,
laut böhmische Lieder singend und mit den Füssen polternd. — Am 25. Juni
sollte er in seiner Strafsache zum Termin vor die Strafkammer geführt werden.
Als er zu diesem Zwecke aus seiner Zelle hervorgeführt wurde, war sein Körper
vollständig mit Koth besudelt. Er musste deshalb gebadet werden. Hierbei be¬
nahm er sich ruhig. — Nachträglich bemerke ich noch, dass W. in Zelle 3 auch
die an der Thür angebrachten Verhaltungsmaassregeln mit Kleister und Papier
beklebt hat."
Ueber das Verhalten des W. am 23. Juni d. J. wurden auch zwei Zellen¬
genossen des W. (L. und P.) vernommen. Aus ihrem Berichte hebe ich die An¬
gabe hervor, dass W. bis zu dem in Rede stehenden Vorfall sich ganz vernünftig
betragen und mit ihnen gesprochen habe. Ferner habe er auf ihr Befragen, wes¬
halb er sich mit Papier beklebe, „keine Antwort gegeben; er sagte bloss, er sei
ein Indianer“.
Vom 2. Juli bis zum 13. August 1888 wnrde W. in hiesiger Provinzial¬
irrenheilanstalt ärztlioh beobachtet.
Ueber sein Verhalten während dieser Zeit ist, wenn man von dem Inhalte
der mit ihm gepflogenen Gespräche absieht, wenig Besonderes zu berichten. Er
war im Allgemeinen in der ersten Zeit seines Hierseins mehr gedrückt, zum
Weinen geneigt, machte einen mehr ruhelosen und innerlich beschäftigten Ein¬
druck und hielt sich mehr für sich; später erschien er zuversichtlicher und fri¬
scher, sprach auch wohl von selbst mit Dem nnd Jenem seiner Mitkranken, und
von Anfang an zeigte er sich gefügig und willig gegen alle Anordnungen und
namentlich höflich und bescheiden gegen die Aerzte und Wärter.
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UNIVERSUM OF IOWA
294
Dr. Neisser,
Aas dem Ergebnisse der körperlichen Untersuchung hebe ich hervor, dass
der Sohädel im Allgemeinen wohlgestaltet ist. In der Innervation des Gesichts
ergiebt sich eine Asymmetrie, insofern als die linke Gesichtshälfte etwas schlaffer
sioh zeigt; das rechte Nasenloch ist weiter als das linke. Die Pupillen sind bei¬
derseits gleich weit and reagiren in normaler Weise. Die Zunge lässt vorn einige
Zahneindrücke erkennen, zittert nicht. Beim Sprechen tritt gelegentlich ein
leichtes Yibriren der Kinnpartie and der Lippen auf. Die inneren Organe des
Körpers erscheinen gesund. Sogenannte Degenerationszeicben sind nicht zu con-
statiren. Der Penis und die Vorhaut sind lang ausgezogen, wie dies bei lange
Zeit fortgesetzter Onanie zur Beobachtung gelangt. Auf der Haut des Körpers,
besonders an den unteren Extremitäten, besteht ein diffuses Psoriasis-Exanthem,
Nachstehend lasse ich einige mit dem Wietek geführte Unterhaltungen dem
Wortlaute getreu folgen:
Am 4. Juli 1888.
Warum sind Sie verhaftet?
Sie waren früher schon einmal bestraft?
Das müssen Sie doch wissen?
Wie alt sind Sie denn?
Wann sind Sie denn geboren?
Was haben wir für ein Jahr?
Ach Unsinn I
Ach warum nicht gar! Wir schreiben
1888.
Das weiss ich nicht.
Das kann ich nicht sagen.
Das weiss ich nicht.
32 Jahre. (In Wirklichkeit: 40 Jahre.)
46. (In Wirklichkeit: 1848.)
1898.
1878.
Wenn Sie von 88 46 abziehen, was
bleibt dann?
Wie lange sind Sie verheirathet?
Haben Sie Kinder?
Wie alt sind dieselben?
Sind die ältesten Kinder unehelich ge¬
boren?
32.
Es können 12 Jahre sein.
Ja.
10 Jahre, 12 Jahre, 14 Jahre, 16 Jahre.
Nein.
Es wird ihm der Widerspruch in seinen Angaben bezüglich der Däner der
Ehe und des Alters der Kinder vorgehalten. Er bleibt indes bei seiner Antwort.
Weshalb kommen Sie eigentlich hier¬
her?
Was für eine Bande?
Ans was besteht denn die Bande?
Weshalb haben Sie denn damals ge¬
sessen?
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Ich wollte Geld haben nnd die Bande
gab kein Geld and da haben sie mich
fortgeschickt.
Nu, die Räuberbande; die haben mir
alles weggenommen.
Das sind so schwarze Männer dabei ge¬
wesen, die haben immer gessgt, ich
soll schreiben und da haben sie mioh
eingesperrt.
Ich habe nichts weiter gemacht; ich
habe halt immer geschrieben und auf
die Briefe bin ioh halt unter die
Räuberbande gekommen.
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung.
295
Was waren denn das für Briefe?
Wann sind Sie denn das erste Mal mit
der Baode in Gonflikt gerathen?
Was haben Sie denn dort gemacht?
Wann haben Sie denn zuerst gemerkt,
dass Sie von der Bande verfolgt
werden?
Woran denn?
Woher haben Sie denn nun erfahren,
dass das eine ganze Bande ist, nioht
bloss der Bruder?
Wer ist es denn?
Weshalb sind Sie denn jetzt verhaftet?
Sie müssen doch in der Verhandlung
gehört haben, was Ihnen zur Last
gelegt wird?
Da wären Sie doch nicht bestraft worden?
Nein, das sind Sie nicht, Sie sind hier*
hergeschickt, damit wir sehen, ob
Sie geisteskrank sind. Sind Sie
geisteskrank?
Leiden Sie an Kopfschmerz?
Wo?
Hindert Sie der Kopfschmerz am Ar¬
beiten?
Es waren halt Briefe, das bat sich die
Bande nicht gefallen lassen wollen
und da haben sie mich genommen.
Nu, das ist schon lange, sohon lange
und dann bin ich in Rumänien ge¬
wesen.
Ich habe mir eine Wirtbsohaft gekauft
und batte immer keine Ruhe vor der
Bande und mein Bruder, der wollte
immer meine Frau zu Schanden
machen.
Vor drei Jahren.
Nu, der Bruder, der hat schon immer
alles unterschrieben und angezeigt,
dass ich sollte Alles gemacht haben
und ich hat’ nichts gemacht; dass
ich sollte Häuser verbrennen und
sollte todt geschlagen haben.
Nu, ich bin doch unter die Bande ge¬
kommen, die Bande ist dochinGlatz.
Ich weiss nioht, in einem grossen Hause
sitzen sie in Glatz, glaube ich, das
Gericht.
Aob, ich soll wieder etwas geschrieben
haben, aber ich habe es doch nicht;
der Bruder bat gesagt, ich hätte ge¬
schrieben.
Nein, immer falsch hat er mioh ver¬
klagt, ich habe nichts gemacht.
Ich bin ja frei.
Das weiss ich nioht.
Ja, seit Jahren.
(Zeigt auf die Stirn.)
Nein, nu es kann sein, dass ich manch¬
mal habe dadurch Dummheit ge-
maobt.
Im Laufe des Gespräches, das noob einige Zeit fortgesetzt wurde, äusserte
Ezplorat spontan: „Ach weun ioh nur hier nicht verfolgt werde und verklagt von
der Bande!“
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Original frnm
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296
Dr. Neisser,
Merken Sie denn etwas davon?' Nein, hier nicht; aber es kann sein,
dass sie auch hierher kommen!
Ant 6. Juli 1888.
Wie geht es Ihnen? Es wird ja besser mit mir; ich komme
mehr zu Gedanken.
Waren Sie denn ohne Gedanken? Ja.
Seit wann? Seit ein paar Wochen; wenn es wird
noch besser mit mir sein, werde ich
bitten, dass ich an den Vater schrei¬
ben darf.
Ja.
Ja, da hab’ ich immer noch Angst; der
Bruder hat zu viel aufgespielt.
In der Nacht, da habe ich immer mit
dem Gericht zu thun.
Da sind immer ein paar Richter bei¬
sammen.
Die sind da in Glatz und da soll ich
immer sprechen und ioh weiss ja
nichts.
Wer verlangt es denn, dass Sie sprechen Nu, die, die Richter da.
sollen?
Sie sagen ja, die Richter sind in Glatz? Ach, die kommen überall hin.
Hier haben Sie Ruhe?
Hier werden Sie nicht verfolgt?
Macht es Ihnen was vor?
Was heisst das?
Wo sind denn die Richter?
Am 8. Juli 1888.
Wie geht es Ihnen?
Was für ein Tag ist heute?
Woher wissen Sie denn das?
Was für ein Datum?
Was für ein Monat?
Ungefähr?
Wietek, Sie sind einer der frechsten
Lügner!
Ganz gut.
Sonntag. (Richtige Antwort.)
Ich habe schon gestern mich erkundigt,
daher weiss ich es.
Das weiss ich nicht.
Das weiss ich nicht.
(Pause.) Mai?
(lächelnd.) Wie soll ich das wissen?
Am 9. Juli 1888.
Wie geht es Ihnen? Es geht mir traurig, traurig.
Warum denn? Ach! Ich werde mögen nichts erzählen;
es ist besser; wenn man viel erzählt,
geht’s Einem schlecht.
Wie geht es Ihnen?
Am 10. Juli 1888.
Es geht mir schlecht, ich habe die ganze
Nacht nioht können schlafen, die
ganze Bande war wieder hier.
Difitized
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Original frofh
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Simulation vop Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung.
297
Sie haben die Bande gesehen?
Ob Sie die Bande gesehen haben ?
Wie viele waren es?
Schwarz sahen sie aus?
Waren sie Alle gleioh gross?
Wo kamen sie denn her?
Sie müssen doch irgend woher gekom¬
men sein?
Was sagten sie denn?
Ich möchte wissen, was sie gesagt
haben?
Was haben Sie denn zu der Bande ge¬
sagt?
Haben Sie das deutlich gehört, so wie
Menschen sprechen?
Waren das dieselben, wie in Glatz?
Sie sagten auch, Sie hätten sich mit
ihnen geprügelt?
Das nennt man doch nicht prügeln ?
Wo sind sie herausgegangen?
Jetzt hören Sie sie nicht?
Ach, ich habe zu viel erzählt und jetzt
wissen die wieder Alles.
Ja, gewiss, ja, ja, gesehen. Ich habe
mich ja noch mit ihnen geprügelt.
8 Personen waren es, so viele schwarze
* Geister.
Ja, ja.
Ungefähr.
Sie haben sich so auf einmal einge¬
funden.
Das kann ich nicht wissen.
Sie wollten mich halt wieder vorur-
theilen.
Sie zankten mit mir, wollten mich wie¬
der mitnehmen; ich wollte doch nicht
gehen, da habe ich gestritten immer¬
fort.
Ich sagte, es wäre nicht wahr; und die
sagten immer: mitgehen! mitgehen!
Nu freilich, ich habe ja mit ihnen ge¬
sprochen.
Ja, immer dieselben, genau dieselben,
die kommen überall bin.
Ja, ioh wollte aufstehen.
Geprügelt habe ich sie, ich wollte sie
zerreissen, da gingen sie wieder weg.
Ich weiss nichts, die sind verloren ge¬
gangen.
Nein, bloss im Kopfe habe ich sie im¬
mer, in Gedanken. Den ganzen Tag.
Am 12. Juli Vormittags kam der evangelische Anstaltsgeistliche im Talar
in das Zimmer, in welchem Explorat sich befand. Kaum erschien derselbe an der
Thür, als Wietek blitzschnell bei ihm vorbei zur Thüre hinaus lief und in die
äusserste Ecke des Gorridors flüchtete. Er liess sich erst nach einigem Zureden
bewegen, wieder das Zimmer zu betreten. Als Erklärung für sein Verhalten gab
er an, dass das Einer von der Räuberbande gewesen sei.
Die vorstehenden Mittheilungen über das hiesige Benehmen des Exploraten
reichen aus, um daraus das Urtheil zu gewinnen, dass Wietek sich in mehr¬
facher Beziehung verstellt, dass er Irrsinn simulirt hat. Erstens
stellte er sich schwachsinnig; er gab selbst auf solche Fragen keine oder nur
nichtssagende oder thörichte Antworten, welche er bei seinem allgemeinen Bil-
duogs- und iDteliigenzstande zweifellos richtig hätte beantworten müssen. Dabei
trat das Bestreben, etwas Verkehrtes zu produoiren, bei einzelnen Gelegenheiten
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UNIVERSITÄT OF IOWA
298
Dr. Neisser,
durch die plumpe Art seiner Unwahrheiten recht deutlich zu Tage. Ich fahre
nur als Beispiel an, dass er auf die Frage, in welchem Jahre wir leben, erst
1898 und dann 1878 antwortete! Es ist das der altbekannte Fehler unge¬
schickter Simulanten geistiger Störungen, dass sie glauben, möglichst viel Unsinn
Vorbringen zu müssen und aus diesem Bestreben heraus gerade die einfachsten
Fragen in auffälliger Weise falsch beantworten. Ganz ebenso ungeschickt and
mit allen thatsächlichen Erfahrungen an ballucinirenden Geisteskranken in Wider¬
spruch stehend ist die Art und Weise, wie er seine angeblichen Sinnestäuschun¬
gen. die nächtlichen Erscheinungen der „Räuberbande“ schilderte. Wenn ich
noch hinzufüge, dass auch das äussere Gebühren bei diesen Explorationen nur
geeignet war, den Verdacht der absichtlichen Fälschung zu erwecken, dass er im
Sprechen nie einen recht überzeugungsvollen Ton zu gewinnen vermochte, dass
er dem auf ihn gerichteten Blick stets auszuweichen strebte und dass auch duroh
sein Verhalten sonst niemals — er befand sich auch des Nachts in andauernder
Beobachtung — objectiv der Eindruck erzeugt wurde, als stünde er unter dem
Einflüsse von Hallucinntionen, so darf ich wohl die Simulation des Exploraten
als unzweifelhaft hiustellen. In der letzten Zeit seines Hierseins gab W. die Simu¬
lation auf. Es geschah dies indess nicht in so auffälliger und bestimmter Weise,
dass ein directer Gegensatz in seinem Verhalten hervorgetreten wäre, aber er er¬
zählte nichts mehr von den Erscheinungen in der Nacht, äusserte sich auch über
seine früheren Wahrnehmungen bezw. Angaben mit Vorsicht und Zurückhaltung,
beantwortete Personalfragen richtig, legte völlige Orientiriheit in Zeit und Raum
und ein gutes Erinnerungsvermögen an den Tag und erklärte, dass er nicht
geisteskrank sei. Eine Anzahl von Unwahrheiten kamen freilich auch jetzt noch
in jedem Gespräche, namentlich wenn seine Rechtsangelegenheiten berührt wur¬
den. zu Tage, aber sie trugen den Charakter einfacher Lügen, nicht aber aben¬
teuerlicher Erzählungen, welche einen krankhaften Eindruck erzeugen sollten.
Die Frage, welche sich aufdrängt, was nun eigentlich W. mit diesem seinen
Benehmen bezweckt haben mag, fühle ich mich nicht berufen zu entscheiden. Es
genügt mir zu constatiren, dass das Verhalten des Wielek. soweit ich es bis jetzt
geschildert habe, nicht and rs aufgefasst werden kann, denn als eine absichtliche
Simulation von Geistesstörung.
Garz ebenso ist auch das Benehmen des Kranken im Gefängniss zu Glats
zu beurilnilen. Ob die „Apathie“ (Bericht des Sanilälsratbs Dr. C.), das wort¬
karge stille Verhalten, das sich mit gelegentlicher Nahrungsverweigerung und
Schlaflosigkeit combinirte, ebenfalls nur absichtlich zur Schau getragen wurde,
das lässt sich nachträglich nicht mit Sicherheit behaupten. Zweifellos aber war
sein verkehrtes Treiben, als er sich mit bunten Papierfetzen beklebte und naiv
dazu erklärte, er sei ein Indianer, und als er sich mit Koth verunreinigte, ein
absichtliches und lediglich auf den Anschein, als sei er geistesgestört, be¬
rechnetes.
Schwieriger ist es zu entscheiden, ob auch sein Verhalten in der Gerichts¬
sitzung vom 25. Mai 1888 ein bloss vorgeläuschtes. berechnetes war. Während
seines Aufenthaltes in der hiesigen Anstalt hat Wietek bloss einmal, am 26.Juli,
einen tobsuch>artigen Anfall dargebolen. Es war ein neuer Kranker aufgenommen
worden, der durch massenhafte Hallucinationen hochgradig erregt war und in
heftigster Weise lärmte und schimpfte. Nach wenigen Augenblicken begann W.
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung.
299
gleichfalls laut zu schreien und mit lebhaften Gestioulationen im Zimmer umher¬
zustürmen. Der Inhalt dessen, was er vorbr&chte, stand in keinem Zusammen¬
hang mit dem, was der andere Kranke sagte, sondern er schimpfte in ähnlicher
Weise wie bei jener Gerichtsverhandlung auf die Räuberbande, auf den Staats¬
anwalt, das Richtercollegium, forderte stürmisch sein Recht und sein Eigenthum,
um das er schändlich betrogen worden sei. Ein kühles Bad schaffte sofort dau¬
ernde Beruhigung. In diesem Falle war es schwer, die Grenze zu ziehen zwischen
echter unverfälschter Erregung und absichtlichem verkehrten Treiben. Ich werde
darauf später noch einmal zurückkommen müssen.
Im Vorstehenden habe ich eine Reihe von Aeusserungen des Exploraten als
absichtliche, nicht krankhafte hingestellt. Es war dies namentlich leicht ersicht¬
lich bei seinen Auslassungen über die „Räuberbande“ und ihr nächtliches Er¬
scheinen bei ihm. So unzweifelhaft erlogen seine diesbezüglichen Erzählungen
waren, ebenso sicher ist es, dass Explorat davon wirklich überzeugt ist, dass ihm
von Seiten der Gerichtsbehörden Schädigungen und zwar consequente plan-
mässige Schädigungen und Benachtheiligungen zugefügt worden , sind und noch
weiter zugedacht werden. Das geht aus jeder bezüglichen Aeusserung desselben
hervor. Und zwar hat die Art und Weise, wie er sich über diese Punkte auslässt,
etwas so Eigenartiges und Charakteristisches, dass der Irrenarzt bei den ersten
Worten eine bestimmte Form von Geistesstörung herauserkennt, deren Bestehen
bei dem Exploraten ich im Folgenden zu erweisen haben werde. Es handelt sich
um den sogenannten „Querulantenwahnsinn“.
Es liegt in der Natur dieser Krankheit begründet, dass ihr Vorhandensein
nur dargethan werden kann durch eine eingehende Darstellung der Art und Weise,
wie sich der betreffende Mensch gegen die Behörden und besonders gegen die
Gerichtsbehörden benimmt und in welcher Form er sein Recht wabrnehmen zu
müssen glaubt. Damit nun in der folgenden actenmässigen Darlegung, welche
ich von den mannigfaltigen Rechtshändeln des Exploraten zu geben haben werde,
auch für Laien die charakteristischen Krankheitszüge hervortreten, und damit auf
diese Weise eine Wiederholung der Thatsachen bei der Begutachtung thunlichst
vermieden werden könne, schicke ich eine Schilderung voraus, welche ein Wiener
Psychiater, Fritsch von dem Querulanten-Irresein entwirft:
„Typisch entwickelt sich in den Kranken die Meinung, es sei ihnen persön¬
lich Unrecht geschehen; in den sich wiederholenden Abweisungen ihrer Rechts¬
ansprüche finden sie nur die Bestätigung ihrer Vermuthung, dass die Richter mit
ihren Gegnern im Eiuverständniss gehandelt, dass eine persönliche Animosität
gegen sie obwalte und Alles nur darauf abziele, ihr Recht zu beeinträchtigen.
Während wir hierbei in einer Anzahl von Fällen ein Unvermögen der Kranken
beobachten, einen klaren Einblick in den Sachverhalt zu gewinnen und in ihren
Aeusserungen geradezu einen Urtheilsmangel wahrnehmen, finden wir auf der
anderen Seite Kranke, die im Gegentheile verhäitnissmässig begabt erscheinen,
mit grossem Aufwande psychischer Leistung'ihre Rolle durchführen; Kranke, die
sich vollkräftig fühlen, den Kampf mit ihren vermeintlichen Gegnern bis auf’s
Aeusserste und mit erstaunlichem Aufgebot von Mitteln fortzusetzen, so dass sie
auch Anhänger für ihre Sache gewinnen und in dem Richter eher die Meinung
erwecken, es bandle siob um rücksichtslos auftretende Rechthaberei, als um den
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UNIVERSUM OF IOWA
300
Dr. Neisser,
Ausdruck krankhafter Störung. Unzugänglich jeder ruhigen Erwägung, Be¬
lehrungen nur Starrsinn und Misstrauen entgegenstellend, gilt für sie nur ihre
eigene Meinung, welche sie ganz nach Art der Wahnsinnigen verfechten.
Im Gesammtgebahren dieser Kranken prägt sich Ruhelosigkeit und fort¬
während sich steigernde Rücksichtslosigkeit ihrer Abwehrbestrebungen aus, eine
Art der Entäusserung, welche nicht selten einen nahezu manischen (i. e. tob¬
süchtigen) Charakter annimmt. In ihrem Wahne der Beeinträchtigung durch
Andere häufen sie Klagen auf Klagen, in denen sie ihre Gegner in verleumde¬
rischer Weise angreifen, überall Unfrieden stiften, Disciplinar-Untersuchungen
und Abstrafungen gegen sich heraufbeschwören, unaufhörlich immer wieder mit
neuen Beschwerden die Behörden behelligen, bis zur Unverschämtheit zudring¬
lich werden, auch absichtlich Delicto begehen, um ihre Angelegenheiten vor ein
anderes Forum bringen zu können. Oft erst nach langer Zeit werden diese Per¬
sonen in ihrer wahren Gestalt erkannt, nachdem nicht selten Hab und Gut, die
ganze Existenz zum Opfer gefallen“.
Der erste charakteristische Zug in der Auffassungsweise des Wietek findet
sich in den Acten M. 34/82, Vol. I, Bl. 28 und 29 niedergelegt. Wietek hat die
unverehelichte Marie Gebauer (wie durch Gerichtsbeschluss festgestellt worden
ist) wissentlich falsch angeschuldigt, dass sie ihm einige Gegenstände gestohlen
habe. Er bemerkt, dass der Schutzmann R. aus der Saohlage sich nicht über¬
zeugen kann, dass die Anschuldigung Wietek’s begründet sei. Sofort sobreibt er
ihm einen Brief, in welchem er den Schutzmann beleidigt und ihm nahe legt,
dass er ihn als Diebstahlsgehülfen betrachten und als solchen denunciren müsse,
wenn er ihm nicht zu seinem Rechte verhelfe.
Gegen den Beschluss des Königl. Landgerichts zu Giatz, wonach W. wegen
gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, des Vergehens gegen die persönliche
Freiheit und wissentlich falscher Anschuldigung zu 3 Jahren 3 Monat Gefängniss
und Nebensirafen verurtheilt wurde, legt W. das Rechtsmittel der Revision ein.
Das bezügliche Protokoll (Bl. 105) schliesst mit den Worten: „Trotz mehrfacher
Belehrung über die Erfolglosigkeit der angegebenen Gründe blieb W. bei Auf¬
nahme derselben stehen.“
Danach entspringt W. bei einem Transport und nachdem es ihm mit
grossem Raffinement, durch angenommene falsche Namen, irreleitende Nach¬
richten, die er von anderen Orten aus in die Heimatb senden liess, etc., lange
Zeit gelungen war, den Nachforschungen der Behörde zu entgehen, wurde er am
9. Februar 1884 zurückgebracht. Bereits am 15. März 1884 nimmt er die Ver¬
folgung seiner Rechtsinteressen wieder auf. Der Weg der Berufung bezw. Re¬
vision exisiirte nicht mehr für ihn. Was that er? Er reichte eine Denunciation
gegen mehrere Zeugen in seinem Processe (Hein, Rzehak, Gebauer) wegen Mein¬
eids ein (J.-Reg. No. 1489/1882). Er wird sachlich bescbieden. Darauf bringt
er seine Anschuldigungen in etwas *variirter Weise vor, erklärt sich nicht be¬
ruhigen zu können, und beantragt die Wiederaufnahme des Verfahrens (am 12.
5. 1884; Bl. 16). Er erhält abermals ausführlichen Bescheid, in welchem ihm
die mangelnde Beweiskraft seiner Argumente und die Unzulässigkeit seines An¬
trages auf Wiedereröffnung des llauptverfahrens dargelegt wird. Er reagirt mit
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Geistesstörung.
301
einer Beschwerde gegen die Staatsanwaltschaft bei der Oberstaatsnnwaltschaft
su Breslau. Der Rechtsanwalt, den er zu diesem Zwecke um eine Unterredung
ersucht, lehnt ab (Bl. 19). Am 26. Juni 1884 wird Seitens der Oberstaats-
anwaltschaft die eingereichte Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.
Am 14. September 1884 schreibt W. in einem Gesuch (M. 34 82, Vol. II,
Bl. 3): „Ich habe schon oft bei der Revision der König!. Staatsanwaltschaft am
17. v. M., am 2. und 8. d. M., ich will zu Einem Protokoll vernommen werden,
in einem Gesuch . . .*.* Nachdem er also, wie er selbst angiebt. mehrfach um
Ausfertigung eines Gesuches gebeten hat, wird er am 16. September vor dem
Gefängnissinspector vernommen. Hierauf sagt er aus: „Ich werde meine An¬
träge und die Gründe hierzu erst angeben, wenn ich von einem Gerichtsschreiber
werde zu Protokoll vernommen werden.“ Erst auf nochmaliges Befragen erklärt
er: 1) Nochmalige Anfrage und Beschwerde, warum die Wiederaufnahme des
Verfahrens abgelebnt worden ist; 2) will er einen anderen Arzt auf eigene Kosten
haben, „weil ich annehme, dass der Anstaltsarzt mir feindlich gesinnt ist und
mir deshalb die ärztliche Behandlung, die meinem kranken Körper nothwendig
ist, nicht angedeihen lässt“. Punkt 3 und 4 sind unerheblich. Punkt 5 besagt:
„Ich will Angaben machen, weshalb ich zu meiner Entweichung auf dem Trans¬
port und durch welche Beihülfe ich veranlasst und dieselbe ermöglicht habe.“
— Punkt 5 des vorerwähnten Protokolls gab Veranlassung zu erneuter Ver¬
nehmung. Wie sich aber herausstellte, sollte es bloss ein Vorwand sein, um die
alten Beschwerden wieder vorzutragen. Denn am 18. September 1884 erklärte
W. (über jenen Punkt befragt, M. 34/82, Bl. 6): „Ich bin auf dem Transporte
entsprungen, weil ich meine Verurtheilung .... für eine ungerechte hielt. Ich
wiederhole meinen Antrag vom 15. März 1884 und 12. und 30. Mai 1884 und
beantrage die Vernehmung der dabei genannten Zeugen.“ „Sollto meinem An¬
träge nicht stattgegeben werden, so beantrage ich meine Versetzung nach Breslau,
weil dort, wie ich bestimmt glaube, ich mit meinen Anträgen durchdringen werde.
Ich beantrage nochmals meine Vernehmung vom 15. März 1884 und 12. und
30.Mai 1884 dem Oberstaatsanwalt vorzulegen, da ich nicht glauben kann, dass
diese Protokolle demselben Vorgelegen haben, da er sonst eine andere Entschei¬
dung hätte treffen müssen.“
Diese Auslassung halte ich für sehr bezeichnend. Hier tritt zum ersten Male
in deutlicher unverblümter Weise das Misstrauen von Wietek gegen die Glatzer
Behörden hervor. Er sagt noch nicht, dass dieselben ihm feindlich gesinnt seien,
aber er zweifelt nicht, dass er in Breslau sein Recht finden werde, das er hier zur
Zeit nicht finden könne. Er kann sich auch, obgleich er den Bescheid seihst be¬
kommen hat, nicht denken, dass seine Angelegenheit der Oberstaalsanwaltschaft
Vorgelegen habe; er nimmt lieber einen Betrug der Glatzer Behörden an, als dass
er seinen vermeintlichen Rechtsanspruch für widerleglich halten könnte. — In
anderer Weise ist auch der Schlusssatz des eben erwähnten Protokolls charak¬
teristisch :
„Als soweit verhandelt war, verlangte W. noch die Gründe zu wissen,
warum der Rechtsanwalt W. nicht zu ihm gekommen sei, um seine Anträge auf
Wiederaufnahme des Verfahrens aufzunehmen. Als ihm hierauf erklärt wurde, dass
ihm dieGründe desselben, weil nichtbekannt, nicht miigetheilt werden könnten, er¬
klärte W., er unterschreibe dieses Protokoll nicht und werdesein Recht weitersuchen. “
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Dr. Neisser,
Aas dem vorstehenden Passus gebt deutlich hervor, wie sehr W. von dem
Gefühle durchdrungen ist, dass ihm von allen Seiten Unrecht geschieht, mit wel¬
chem Misstrauen er allen Leuten begegnet und wie wenig er dabei im Stande ist,
die ihm entgegen gehaltenen Bemerkungen objectiv aufzunehmen. Bei allen
Dingen, die sich auf seinen Rechtshandel beziehen, legt er eine Empfindlichkeit
an den Tag, welche nicht nur ganz unbegründet ist, sondern nach ihn völlig un¬
fähig macht, den Sinn des zu ihm Gesagten auf seinen wahren Werth zu prüfen.
Auf seine Frage, warum der Rechtsanwalt abgelehnt habe, wird ihm erwiedert,
dass das nicht bekannt sei: sofort weigert er sich ein Protokoll zu unterschreiben,
welches gar nicht damit im Zusammenhänge steht und ganz correct nach seinen
Angaben aufgenommen ist, ein Protokoll noch dazu über eine Verhandlung, die
erst auf wiederholtes Ansuchen seinerseits in seinem Interesse angesetzt wor¬
den ist.
Unter dem 19.September 1884 bittet Wietek, ihm den Rest einer über ihn
verhängten Disciplinarstrafe zn erlassen, indem er zur Entschuldigung für sein
ungebührliches Betragen auf seinen „gereizten Zustand“ hinweist. Aber auch
in diesem demüthig abgefassten Schriftstücke (M. 34/82, Bl. 7) läuft die Be¬
merkung unter: „dass der mir zur Aufnahme meiner Anträge bestimmte Gerichts¬
schreiber mir diese niederschlug und nicht in meinem Willen aufnahm“.
Am 1. October 1884 erfolgt ein erneuter Antrag des W. auf Wiederauf¬
nahme des Verfahrens mit mehreren Gründen, die alle schon früher widerlegt
sind oder unerwiesene Behauptungen enthalten. Am 8. October 1884 wird vom
Landgerichte zu Glatz beschlossen, die Wiederaufnahme des Verfahrens abzu¬
lehnen. Die ausführliche Motivirung des Beschlusses wird dem W. mitgetheilt.
Am 30. October 1884 setzt die Frau des Exploraten die Denunciationen fort.
Am 3. Januar 1885 wünscht Wietek von Neuem zu Protokoll vernommen zu
werden, um Beschwerde gegen den Landgerichtsbeschluss vom 8. October 1884
einzulegen. Er wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Frist zur Einlegung
einer Beschwerde bereits abgelaufen ist. Trotzdem giebt er seine Erklärung ab,
dass er Beschwerde erhebt und Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Er
wiederholt dabei fast lediglich die Eingabe vom 1. October 1834, welche bereits
erledigt ist. Doch fügt er noch eine (ür die Beurtheilung des Geisteszustandes
des Exploraten nicht unwichtige Erklärung zu, welche in Anklagen und Ver¬
dächtigungen gegen den Amtsrichter, welcher seiner Zeit in Lewin die Unter¬
suchung gegen ihn geleitet hat, gipfelt; derselbe wird darin der Parteilichkeit
gegen W. beschuldigt, indem derselbe ihm „feindlich gesinnt“ sei. Am 7. Februar
1885 erhält W. von dem Strafsenat des Königl. Oberlandesgerichts Bescheid,
worin seine Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen wird. Darauf macht er
unverzüglich eine erneute Eingabe, io welcher er einfach seinen Antrag wieder¬
holt; ausserdem wird eine Anklage gegen den Sanitätsrath Dr. G. zugefügt.
Diese letztere Denunciation wird am 18. Februar 1885 erneuert. Am 8. März
1885 bescbwert sich W. in einerweiteren Eingabe darüber, dass er „so viele
Anträge in seiner unschuldigen Bestrafung“ gestellt habe, ohne Erfolg. Er bittet
abermals vernommen zu werden: 1) um eine Denunciation gegen Dr. C. in die
Wege zu leiten, 2) um gegen die Gebauer eine Denunciation einzuleilen; 3) will
er gegen den Bescheid des Oberlandesgericbts Beschwerde erheben beim Justiz¬
minister. Sodann möchte er wissen, was der Dr. C. für ein Vorrecht habe, ob
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Simulation von Sobwacbsinn bei bestehender Geistesstörung.
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derselbe den Gesetzen nicht unterworfen ist?“ Weiter heisst es darin: „Ich bin
nur durch die p. Gebauer und den Dr. G. zu einer ungerechtfertigten Strafe ver-
urtheilt, was mir gar nicht bewiesen, noch bewiesen werden kann, zu einer sol¬
chen Strafe, wo ich von Freiheit, Vermögen udö Ehre gekommen bin.“
Ich kann wohl hier die Wiedergabe des Thatsächlichen abbrechen und
darauf einfach hinweisen, dass in allen Kechtsstreitigkeiten, in welche W. ver¬
wickelt gewesen ist, sein Verhalten das gleiche war. Niemals beruhigte er sich
bei dem ersten Entscheide, stets wurden die höheren und höchsten Instanzen bis
zum Minister und selbst dem Kaiser angerufen. Die Basis des ganzen Verhaltens,
ja der Grundzug des ganzen Denkens bei Wietek ist die Ueberzeuguug, dass ihm
Unreoht geschieht.
Ist das aber als krankhaft zu bezeichnen? Kann nicht wirklich ein Fehler
in der Rechtsprechung obgewaltet haben und W. fälschlich oder doch zu hart
bestraft worden sein? Und ist es dann nicht in der Ordnung, dass er sich da¬
gegen auflehnt und mit allen erdenklichen Mitteln sein Recht durchzusetzen sich
bemüht? Und ist es dabei nicht natürlich, dass auch eine immer grössere Er¬
regung und Verbitterung bei ihm Platz greifen muss, wenn er wahrnimmt, wel¬
cher Vermögensnacbtheil ihm aus seiner Bestrafung erwächst? (Vergl. Dar¬
legung des Amis Vorstandes zu Tscherbeney über die Vermögenslage des Wietek,
M. 34/82, Bl. III.)
Wenn wir darauf hin das Verhalten des Wietek einer Prüfung unterziehen,
so finden wir, dass noch ein anderes Moment hinzukommt. Wietek sucht nicht
einfach für sein vermeintliches Recht zu kämpfen und etwa durch immer erneute
objective Darlegung des Sachverhaltes für sich zu wirken, sondern stets richtet
er gegen die Behörden und ihre Vertreter schwere Beschuldigungen und bezich¬
tigt sie der persönlichen Gegnerschaft gegen ihn. Feststehend ist für ihn nicht
nur, dass ihm Unrecht geschehen ist, sondern dass man ihm absichtlich Unrecht
zugefügt hat, dass man ihn planmässig und conseqnent zu schädigen trachtet.
Es ist ein allgemeiner Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn, von welchem W.
beherrscht wird. Von demselben vermag er sich bei keiner Gelegenheit und in
keinem Augenblicke frei zu machen. In dieser krankhaften Voreingenommenheit
gebt er an die Beurtheilung aller Maassregeln, aller Vorhaltungen, aller Ent¬
scheidungen heran. Diese Voreingenommenheit erklärt seine sonst unbegreifliche
Handlungsweise, wenn er plötzlich sich weigert, ein Protokoll zu unterzeichnen
oder einen anderen Arzt beansprucht, da der ihn behandelnde in dem Process
gegen ihn als Sachverständiger fungirt hat, ihm also feindlich gesinnt ist. Dringt
er mit einer Klage nicht durch, so wird eine neue angestrengt; wird auch diese
abgewiesen, so beschwert er sich oder er kündigt schon von vornherein an, dass
er sich bei ungünstigem Bescheide höheren Oites beschweren werde (vgl. J.-Reg.
206/87). Und hat er immer vun Neuem Unrecht bekommen, so gelangt er nicht
zu besserer Einsicht, sondern zu der Ueberzeugung, die Richter, ja alle Behörden
seien gegen ihn, und so nimmt der Wahn einen immer ausgedehnteren Umfang
an. Konnte man früher vielleicht glauben, es handle sich um einen mit Zähig¬
keit fest gehaltenen Rechtsanspruch, oder um einen eigenwilligen, rechthaberischen
und ränkesüchtigen Charakter, so tritt jetzt der krankhafte Zug immer deutlicher
hervor, zumal die vielen ungünstigen Erfahrungen, die Abweisungen und Krän-
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Dr. Neisser,
kangen einen Zastand von Gereiztheit in ihm erzeugt haben, welcher ihn immer
mehr in seine Verfolgungsideen sich einleben and seine Auffassung immer ein¬
seiliger werden lässt. Jetzt geht auch zeitweilig im äusseren Verhalten des
Kranken die ruhige Besonnenheit zu Ende. Er kann sich im gewöhnlichen Trei¬
ben des Tages noch beherrschen und überlegt und kühl erscheinen. Sobald aber
seine Interessensphäre berührt wird, schon beim blossen Anblick von Personen,
welche im Gerichtshandel eine Rolle, sei es auch nur als Aerzte oder Zeugen ge¬
spielt haben, verliert er die mühsam zur Schau getragene Ruhe, er bricht ohne
Zweck und Ziel in unflälhige Schimpfreden aus, er geräth in einen Zustand von
Wuth, dass er selbst nicht mehr weiss, was er thut, und der sich äusserlioh nur
noch wenig von dem Verhalten tobsüchtiger Kranker unterscheidet.
Diese Gereiztheit in dem Wesen des Exploraten war schon im Juni 1886
so erheblich, dass der Sanitätsrath Dr. C. die Gefahr betonte, dass Explorat „bei
seiner krankhaften Nervenreizbarkeit dem Irsinn verfallen“ möchte. Seitdem tritt
dieselbe in den meisten Schriftstücken des W. in krasser und ungezügelter Form
zu Tago. Ich verweise nur auf die „Beantwortung“ an den Ersten Staatsanwalt
vom 2. September 1887 (J. Reg. 206/87). welche unter anderen folgende Sätze
enthält: „Ich bemerke, hätte es den Denuncianten und der Staatsanwaltschaft
gelungen, da würden Sie wohl nicht meiner vergessen haben .... Ich weiss
schon längst, dass von mir keine solche Klage keinen richtigen Gang hatt, nur
gegen mir; es ist schade, dass der Erste Staatsanwalt nicht mehr weiss, dass
wegen dieser Sache dreimal dieselben Zeugen geladen worden sind. Ich bin des¬
halb genöthigt, bei der Königl. Oberstaatsanwaltschaft mich zu beschweren...“
— Nicht minder charakteristisch ist der Brief des W. an die Staatsanwaltschaft
zu Glatz vom 1. Mui 1888 (I. M. 15/87, BI. 53), in welchem es heisst: „Ange-
scbuldigt habe ich 15 Tage unschuldig Untersuchung verbüsst, und am 9. No¬
vember bei der Strafkammer freigesprochen wurde; es sind mir 120 Mark Un¬
kosten entstanden. Bin ich nur zum Berauben und zum Einsperren ge¬
boren? Wegen jedem Dreck bald Anträge gestellt, habe nichts mehr zum Auf¬
opfern. Warum ist der Joseph W. und Bartholomäus W. nicht wegen falscher
Anschuldigung belangt, die mich 5 Mal falsch angeschuldigt haben und dem
Staate und mir immer nur Unkosten verursacht haben, da ist bis heute kein An¬
trag vom Staatsanwalt Schmidt gestellt, die wegen Vergehen zu verklagen I Ich
verlange 30 Mark!“
Es Hessen sich aus dem sehr reichhaltigen Actenmateriale eine grosse Fülle
weiterer Belege für die in dem Geisteszustände desWietek gekennzeichneten Züge
beibringen, allein ich glaube, dass das Angeführte ein ausreichendes Bild der
Störung des Wietek gewährt. Vielleicht indess ist es von Werth hinzuzufügen,
dass Wietek nicht nur, wenn er der Angeklagte bezw. Verurtheilte ist, wo ihm
also vielleicht durch Richterspruch ein Unrecht zugefügt worden sein könnte, die
im Einzelnen geschilderte Stellungnahme gegen die Behörden beobachtet, son¬
dern ganz ebenso sich verhält, wenn er als Ankläger auftritt. Als Beispiel hier¬
für erwähne ich nur seine Denunciationen gegen seinen Bruder Bartholomäus
Wietek.
Am 7. September 1884 (III. 763/84) reichte seine Ehefrau Franziska W.
eine Denunciation gegen Letzteren ein, in welchem sie unter Anderem ihn be¬
schuldigte, gegen sie einen Nothzuchtsversuch verübt zu haben. Am 14. Februar
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Simulation von Schwachsinn bei bestehender Qeistesstörung.
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1885 erfolgt Seitens der Staatsanwaltschaft ein die strafrechtliche Verfolgung
ablehnender Bescheid. Am 16. September 1886 nimmt Explorat die ursprüng¬
lich von seiner Frau eingereichte Anzeige seinorseits wieder auf, ohne ein neues
Beweismoment vorzutragen. Am 25. Mai 1887 (J. 141/87) erneut W. die An¬
zeige, obgleich ihm ausdrücklich vorher eröffnet war, dass er sich der Gefahr der
Bestrafung wegen Querulirens aussetze. Am 29. Juli 1887 beschwert er sich
über die Ablehnung der Verfolgung seiner Denunciation bei der Königl. Ober¬
staatsanwaltschaft zu Breslau. Ehe er noch beschieden ist, wiederholt er am
9. August 1887. am 25. August 1887 und am 5. September 1887 genau die
selbe Denunciation. Am 7. September 1887 wird seine Beschwerde Seitens der
Oberstaatsanwaltschaft für unbegründeterklärt. Trotzdem erneut er am 20 Sep
tember 1887 abermals seinen Antrag!
Er ist eben durchaus ausser Stande, in unbefangener Weise abzuwägen,
und während er die Gerichtsbehörden und -Institutionen in ihrer Autorität aner¬
kennt und benutzt, um Anderen zu schaden, so erscheint ihm jeder Richterspruch
als ungerecht, tendenziös und angreifbar, wenn die Spitze des Urtheils sich
gegen ihn kebtt. Stets fühlt er sich benachteiligt und geschädigt, und wenn
er die frivolsten und unwahrsten Beschuldigungen gegen Andere vorbringt, stets
fühlt er sich in der Defensive und wähnt, dass ihm bitteres Unrecht geschehe,
wenn seinen Denunciationen kein Gehör geschenkt werde.
Beachtenswert ist ferner der Umstand, dass in den letzten Jahren das Ver¬
hältnis des Exploraten zu seinen nächsten Angehörigen eine völlige Aenderung
erfahren hat. Während er früher Mutter und Geschwister unterstützte, lebte er
später mit denselben in offener Feindschaft, ohne dass in dem Benehmen der
Letzteren gegen ihn ein Anlass dazu gegeben wäre. Er verfolgt ihr Thun und
Lassen mit Misstrauen, hält sich von ihnen für übervortbeilt, wirft ihnen Dieb¬
stahl, Meineid etc. vor, ohne dass die Untersuchung irgend welche objectiven
Anhaltspunkte dafür zu Tage gefördert hätte. Dieser Umschwung in seinem Be¬
nehmen und wohl auch in seinem Fühlen und Denken ist so auffällig gewesen,
dass auch die Angehörigen selbst nach einer Erklärung dafür gesucht haben.
Während dieselben jedoch dem schädlichen Einfluss der Ehefrau des W. die
Schuld beimessen, glaube ich nicht fehl zu geben, wenn ich in der sich ent¬
wickelnden Kiankheit des Exploraten die Hauptursache der Gesinnungsänderung
erblicke.
Es scheint, dass diese krankhafte Störung bei dem p. Wietek schon in dem
Jahre 1882 vorhanden war; mit Sicherheit lässt sich ihr Bestehen erst seit
dem Jahre 1884 beweisen, und seitdem hat, wie das in der Natur der Dinge
begründet liegt, eine mehr weniger continuirliche Steigerung der Intensität des
krankhaften Zustandes statt gehabt. Allmälig hat das Leiden und die das
selbe als integrirendor Bestandteil begleitende Erregung eine solche Höhe er¬
reicht, dass es nicht angänglich erscheint, dass Wietek ohne fortgesetzte Con-
flicte in der Aussenwelt lebt, und ich empfehle bei der Gemeingefährlichkeit des
Exploraten. welcher auch in gesunden Tagen als ein durchtriebener und roher
Mensch bekannt war, für die dauernde Unterbringung desselben in einer Irren¬
pflegeanstalt Sorge zu tragen.
Nach alledem gebe ich über den Geisteszustand des p. Wietek mein Gut-
Yierteljahrssehr. f. ger. Med. N. F. LIT. 2. 20
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Dr. Neisser.
aohten dabin ab, dass derselbe seit mindestens 4 Jahren und nooh gegenwärtig
sieb in einem Zustande von krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit be¬
findet, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Im
Sinne des Allgemeinen Landrechts ist derselbe für blödsinnig zu erachten.
8 .
(Jeher 4ei Tod d«rch Chloroform ud Chloral vom gerichts-
äritlichei Stiidpmkte,
Von
Dr. J. Berntr&ier,
Mtrin6-8tmbearst.
Der Tod durch Chloroform und durch Chloral hat viel Ver¬
wandtes und gleich Räthselhaftes. Da beide Todesarten auch dem
Gerichtsarzte bei Feststellung der Todesursache und etwaiger Schuld
dieselben erheblichen Schwierigkeiten bereiten, so verdienen sie wieder¬
holter Bearbeitung, und zwar erscheint es bei der auch chemischen
Verwandtschaft beider Stoffe praktisch, hierbei von den genauer unter¬
suchten Chloroform Wirkungen auszugehen und die so gewonnenen
Resultate bei der Erörterung der Chloraltodesfälle in Anrechnung zu
bringen, mag man nun der von Liebreich behaupteten Umsetzung
des Chlorals in Chloroform im Körper zustimmen oder nicht.
I. Chloroform.
Feststehend ist, dass Chloroform successive auf die einzelnen Ab¬
schnitte des Centralnervensystems — Ganglienzellen des Grosshirns,
des Rückenmarks, des verlängerten Marks, des sympathischen Systems
— ein wirkt; es ist jedoch Streitfrage, ob die Affection der Medulla
oblongata auf specifischer Wirkung des Stoffes beruht oder eine Folge
der darniederliegenden Circulation ist, welche letztere ihrerseits wie¬
derum nicht nur von der schädlichen Beeinflussung der Herzganglien,
sondern auch der Herzmusculatur abhängig erklärt wird. Ebenso ist
es ungewiss, wodurch das Chloroform wirkt; die grosse Anzahl der
hierüber aufgestellten Theorien finden sich in den Arbeiten von
H. Köhler (Schmidt’s Jahrbücher, Bd. 138, 142, 145), W. Koch
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J. Bornträger.
307
(Volkmann’s Sammlung, No. 80), Kappeier (Deutsche Chirurgie,
Lieferung 20) u. A. wiedergegeben.
Endlich ist unbestimmt, durch welches Organ Chloroform tödtet.
Kappeier kommt zu dem Resultate, dass man nicht im Stande ist,
»für alle Chloroformtodesfälle eine befriedigende Erklärung zu geben“,
vielmehr einen Tod vom Herzen aus — Syncope — und einen von
der Respiration aus — Asphyxie — annehmen müsse (S. 118).
Bekanntlich sind bald nach Einführung des Chloroforms in die
chirurgische Praxis zahlreiche und eingehende Untersuchungen — ich
erinnere an das Londoner Chloroform-Comitö — über seine physio¬
logische Wirkung angestellt worden, über deren Ergebnisse ich auf
die Sammelwerke, so besonders Schmidt’s Jahrbücher, verweisen muss;
verschiedene Wirkungen wurden festgestellt; über die Art des Todes
der Thiere aber, ob durch Erstickung oder durch Herzlähmung, konnte
man sich nicht einigen.
Von den wenigen späteren Untersuchern findet Gading (Disser¬
tation, Berlin 1879), dass * Chloroformtod in der Regel durch Läh¬
mung der Respiration erfolge“, dass beim Tode vom Herzen aus dies
Organ als bereits vorher erkrankt anzusehen sei. Freilich erscheinen
mir Gading’s Versuche nicht einwurfsfrei; denn die unter der Glas¬
glocke im Chloroformdampf befindlichen Kaninchen gehen nach 19 V 2
bis 24 Minuten unter heftigster Dyspnoe, wobei „sämmtliche Athem-
muskeln stark angespannt wurden“, also doch auch wohl die der
Willkür unterworfenen, bei anscheinend erhaltener Schmerzempfindung
und Reflexerregbarkeit oder in concentrirter Chloroformatmosphäre in
30—35 Secunden zu Grunde, wobei doch der Gedanke nahe liegt,
als seien dieselben durch ungenügende Ableitung der Kohlensäure
bezw. Mangel an Sauerstoff erstickt; bei den subcutanen Injectionen
ist freilich das Auf hören der Respiration 45—150 Secunden vor dem
Herzstillstände einwandfrei beobachtet, doch muss hierbei daran er¬
innert werden, dass nach Luftabschluss bei gesundem Herzen die
Thätigkeit dieses Organs bei 9 Thieren den Respirationsstillstand
durchschnittlich um 3'/ 4 Minuten überdauerte (Casper-Liman, Ge¬
richtliche Medicin, 6. Auflage, 2. Bd., S. 612, Fussnote).
Dagegen kommt Schmey (Dissertation, Berlin 1885) nach Ver¬
suchen an morphinisirten, curarisirten, im Thorax aufgeschnittenen
und durch künstliche Respiration erhaltenen Thieren zu dem Resultat,
dass der Tod bei Hunden durch Lähmung des „Coordinationscentrums“
im Herzen erfolge, während bei Kaninchen, Katzen, Meerschweinchen
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•> 0 *
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308
J. Bornträger,
ausserdem noch eine schädliche Beeinflussung der Herzmusculatur
wahrgenommen werde, und nimmt an der Hand von 2 in der Chlo-
roformnarcose unter zappelnden Herzbewegungen gestorbenen Kranken
eine entsprechende Todesart auch für den Menschen an.
Schon Liebreich (Das Chloralhydrat, 1871) fand bei seinen
durch Chloroformdärapfe getödteten, anscheinend erstickten Kaninchen
dennoch die Zeichen der Herzparalyse, nämlich beide Ventrikel und
Vorhöfe erschlafft und gefüllt; er behauptete daher, das allmälig er¬
schlaffende Herz sei der Grund für die Veränderungen in den Lungen
und sonst im Organismus und schliesslich auch für den Respirations¬
stillstand von der Medulla oblongata aus (S. 25).
Chloroformirt man nun, um sich selbst ein Urtheil zu bilden,
Frösche und betrachtet gleichzeitig die Schwimmhaut unter dem Mikro¬
skope, so sieht man, dass nach einer Weile die Athemzügc aufhören,
dabei der Blutstrom in den erweiterten Capillaren stockt und nur in
vereinzelten Gefässen vor sich geht, bis er schliesslich auch hier zu
stehen beginnt, und die Herzpulsationen selten und schwach werden.
Befreit man nun den Frosch von dem Chloroform, so constatirt man,
wie allmälig die Herzcontractionen wieder kräftiger und schneller
werden, bei langsam wieder in Fluss kommender Circulation nach
einer Pause von */ 4 —*/ 2 Stunde die Respirationsbewegungen wieder
beginnen und jetzt der Frosch bald erwacht und sich zu bewegen an¬
fängt. Dies Wiedererwachen tritt selbst dann noch ein, wenn das
Herz bereits vorübergehend Stillstand. Chloroformirt man aber bis zu
längerem Herzstillstand, so findet ein Auf leben nicht mehr statt; das
Herz steht in Diastole und ist prall mit Blut erfüllt.
Somit ist der Chloroformtod für den Frosch zweifellos ein Herz¬
tod, wenn auch die Respiration viel früher stillsteht.
Eine nochmalige Pulsation des Herzens, wenn man es an der
Ventrikelgrenze durchtrennt, wie Liebreich als Beweis der Hem¬
mung von den in der Vorhofswand gelegenen Ganglien aus anführt,
konnte ich nicht constant beobachten.
Ein von mir zu Tode chloroformirtes Kaninchen ging anscheinend
durch Respirationslähmung zu Grunde, doch zeigte das Herz denselben
paralytischen Zustand, wie ihn Liebreich schildert.
Beim Menschen ist naturgemäss eine systematische Chlorofor-
mirung bis zum Tode nicht beobachtet worden; dagegen geben Cas-
per-Liman unter No. 265 ein genaues Sectionsprotokoll nach einer
Tödtung durch Cbloroformeinathmung und zwar: Anämie des Gehirns,
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Ucb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 309
Oedera der massig blutreichen Lungen, ganz schlaffes, eingeknicktes
Herz, massige Hyperämie der Leber; also Tod durch (langsame) Herz¬
paralyse. Aehnliche Befunde liefert auch No. 264 und ebenso bei
Sabarth („Das Chloroform“, 1866) No. 27 und weniger prägnante
No. 2 und 43.
Die Beobachtungen über Tod durch Verschlucken von Chloroform
können leider nicht herangezogen werden, da sie theils zu ungenau
beschrieben sind, theils der Tod erst nach mindestens 24 Stunden
unter Mitwirkung anderer Störungen erfolgte.
Hieraus ergiebt sich Folgendes:
Thiere, welche längere Zeit ohne Respiration existiren können
(Frösche), sterben durch Chloroform den Herztod; höher organisirto
Thiere (Säugethiere) sterben ebenfalls den Herztod, wenn die Respi¬
ration künstlich unterhalten wird, geschieht das nicht, so ähnelt ihr
Tod allerdings einer Erstickung, doch überdauert die Herzthätigkeit
die Respiration kürzere Zeit als sonst bei Erstickung und findet sich
übereinstimmend bei Fröschen, Meerschweinchen, Kaninchen, Katzen,
Hunden, Mauleseln, Pferden und schliesslich auch beim Menschen das
schlaffe, paralytisch zu Grunde gegangene Herz.
Somit ist der normal toxicologische Chloroformtod ein Herztod;
der frühe Respirationsstillstand ist ein Zeichen der Erlahmung des
Herzens.
Mit diesen Resultaten ist nun aber dem Gerichtsarzte wenig ge¬
holfen; denu ein Blick auf die Casuistik lehrt, dass fast sämmtliche
Chloroformtodesfälle solche sind, welche unter den Händen von Aerzten
wider alle Erwartung, oft bereits vor Eintritt der Narcose, eintreten.
Wir haben es also hier nicht, wie sonst bei Vergiftungen, mit einer
durch tödtliche Dosen bedingten Zerstörung des Lebens zu thun, bei
welcher die dem Stoffe eigentümlichen Wirkungen der Reihe nach
zur Erscheinung kommen, sondern, wie dies bereits N. Berend („Zur
Chloroformfrage“, 2. Beitrag, 1852, S. 30) betont, mit einer Aus¬
nahmewirkung: was Tausende unter denselben, ja, unter viel ungünsti¬
geren Umständen, und was derselbe Mensch wiederholt gut vertragen,
das tödtet ein anderes Mal plötzlich, unverhofft, in geringer Dosis.
Diese Ausnahmewirkung ist denkbar durch 3 Möglichkeiten:
1. Durch ein abnormes Präparat.
2. Durch eine abnorme Anwondungsweise.
3. Durch abnorme Umstände und Factoren im Körper.
Da die Todesfälle bei absolut reinen Präparaten und vorsichtiger
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Laufende No.
310
J. Bornträger,
regelrechter Anwendungs weise fortgesetzt Vorkommen, so haben wir
den Schwerpunkt der Untersuchung auf den dritten Punkt zu legen.
Hier vermag das Kxperiment an gesunden Thieren nur wenig zu
leisten; wir müssen daher aus der Casuistik unsere Schlüsse ziehen.
Unter den vorhandenen Zusammenstellungen bilden die erwähnten
von Sabarth (1848—1865) und von Kappeier (1865—1875) eine
fortlaufende Reihenfolge aller bis dahin veröffentlichten Chloroform¬
todesfälle. Diese Casuistik will ich ausdehnen; doch werde ich nicht
eine vollständige Liste aller weiter veröffentlichten Chloroform todes-
fälle aufstellen, sondern nur solche mit Sectionsbefunden aufnehmen.
Die relativ grosse Zahl aus der Charitö in Berlin stammender
Fälle erklärt sich daraus, dass mir gerade die so vorzüglich bearbei¬
teten Annalen dieses Krankenhauses zu Gebote standen. Durchsucht
man die Berichte anderer Krankenhäuser, so findet man unter den
Rubriken „Collaps“, „Syncope“, „Zufälle“ etc. überall eine ganze
Anzahl plötzlicher Todesfälle, welche mit demselben Recht oder Un¬
recht, wie die folgenden, auf das Chloroform bezogen werden können
nur wird diese Mühe des Suchens nicht immer durch genaue Berichte
und Sectionsprotokolle entschädigt.
Personalien,
0 b d u
c t i o n.
Todesart
Literatur.
Krankheit und
Verlauf.
Q.
♦-»
Aeusseres
u. All-
Kopfhöhlc.
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
und
Bemer¬
kungen.
<o
CS3
gemeines.
Küster:
2 l / t jähr. Mädchen
Stark. Glottisöd.,
Hers-
„Fünf
mit Diphtherie d.
Croup d. Stimm
lähnmng.
Jahre im
Larynx, stirbt
bänder, lobuläre
Ebenso
Augusta-
nach einig. Zügen
Pneumonien in
stirbt No.
Hospital“.
Ch. (1875) plötz
beiden Lungen.
.
12; keine
S. 76,77
lieh unt.|Aufhören
Schwellung der r.
Section.
(No. 22)
d. Athmung u. bei
Submaxillardrüse.
u. 94.
Blässe d. Gesichts.
Charite-
44jähr. Potator. L.
ca.
Sinusu.ven.
Herz: Alte Peri*
Zwerch fe 11:
Erstickung.
Annalen
Angina Ludovici,
24
Gefässe: we¬
card-Verwachsun
5. Rip. Milz:
in Folge
pro 1876.
Dyspnoe, Schling*
St.
nig fl. Blut;
gen; Muskel rotb.
Hämorrhagien
von Hin¬
(Erschien
beschwerd. Nach
Pia ödematös.
mässig derb; r. V.
in der Pulpa.
dernissen
1878.)
einigen Zügen Ch
Hirnrinde anä¬
sehr breit, mässig
Nieren:
in d. Luft¬
S. 420 ff.
Exaltat., Cyanose,
misch , weisse
prall mit fl. Blut
gross, roth.
wegen ?
Respirationsstill¬
Substanz über¬
u. fibrinreich. Ge¬
Leber: Cen-
stand bei guten
all blutreich;
rinnseln gefüllt;
tren der Acini
Herztön. Tod trotz
in d. 1. Hemi¬
1. V. contrahirt,
blutreich.
ikstl. Resp., Luft-
sphäre erbsen-
fast leer ;beid. Vh.
blutbaltig. Lung.
Magen:
leinblas., Tracheo
grosser alter
Schleimhaut
1 tomie, Elektro-
1
Herd.
theilw. adhärent,
geschwollen u
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Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. geriohtsärztl. Standpunkte. 311
^ 1
Literatur.
Personalien,
Krankheit und
Verlauf.
0 b d u
c t i o n
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
II1
=3
*
p.
4->
*5
Aeusseres
u. All¬
gemeines.
Kopfhöhle.
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
punctur des Her-
lufthaltig; Bron-
geröth. auf d.
zens.
chialschleimhaut
Falt. Darm:
ausgebuchtet zwi-
Schleimhaut
sehen fibrös. Strei-
und Follikel
fen,geröthet. Gau-
geschwollen.
men, Pharynx, d.
ganze Kehlk. inn..
bes. 1.,stark ödem.
t
3
Ibidem
25jäh. ängstlicher
ca.
Blut
Sinus gefüllt
Herz: Oberfläche
Zwerchfel 1:
Lähmung
Mann. Bereits 4-
24
normal.
m. fl. dunkel-
des r. V. einge-
4. Rip. Gastro
des rechten
mal chloroformirt.
St.
rothem Blute.
sunken, 1. V. con-
enteritis hae*
Herzens
Panaritium. Nach
•
Basalarterien
trahirt, leer; in r.
morrhagica,
durch Luft!
einigen Minut. d.
leer, Piagefäs.
V. u. beiden Vh.
hepar adipös..
Einathraung star-
wenig bluthal-
fl. Blut. Muskel
nephritis par-
ke Exaltation, Re-
tig. Gehirn
bräunl. roth, am
enchymatosa.
spirationsstillst ;
feucht u. blut-
r. V. sehr dünn.
Zungenvorziehen,
reich. Ventrik.
Lungen geröth
künstl.Resp., Rei-
serumhaltig.
zung der N. phre-
nici, Senkon des
Kopfes; mehrere
spontane Athem-
züge, Tod.
4
Ibidem.
40j. M. Sarcoma
24
Herz normal; 1.
Sarcoma
Hen-
supraclaviculare.
St.
V. leer. Sarcoma
hepatis.
lähiuongt
Starke Dyspnoe,
mediastini antici
Luftein¬
Cyanose. Nach Un¬
et pulmonum,
tritt in
terbindung der V.
Pleuritis haemor-
das rechte
jag int.d. schwin¬
rh. sarcomatosa
Herz?
den plötzlich Puls
•
duplex.
u. Resp.
5
Ibidem.
27j. M. Sarcoma
Gehirn
Herz u. Lungen
Hyperplasia et
Erstickung
mandibiilae sin.
normal
normal; in den
atrophia fusca
in Folge v.
Gegen Ende der
Bronchien einige
lienis. Gastrit.
Kinfliessen
Oper, verschwin¬
Blutgerinnsel und
chronica. Im
von Blut
det plötzlich die
zäbe Flüssigkeit.
Magen etwas
in d. Bron¬
Resp., dann der
Blut.
chien?
Puls.
€
> Ibidem.
30j. M. mit erwei¬
24
Pia ödematös
Herz: l. V.mässig
Zwerch fei 1:
Asplrntien
1877.
terten Halslymph-
St.
blutarm,eben¬
contrahirt, d. übr.
1. 4., r. 3 Rip.
v. Cb. in d.
S. 792.
drüsen starb vor
so das Gehirn.
Theil.schlaff; bei¬
Milz: Pulpa
Lungen?
Eintritt d. Narcos.
de Vh. voll fl. Blut.j
dunkelroth.
Concen-
L u n g : weite alte Verwachsung.;
Nieren blut¬
trirtes Ein¬
starke Rötbung u. Oed., Bron-
reich, Leber
dringen in
chialschleimhaut dunkelroth.
grau.
einzel. Ab¬
1 1
| 1
1
schnitte?
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Original frn-m
UNIVERSITÄT OF IOWA
Laufende No.
312
J. Bornträger,
Personalien,
Literatur.
Krankheit und
Verlauf.
Obduction.
Kopfhöhle. Brusthöhle.
Todesart
und
Bemer-
Bauchhohle. kungen.
7 Ibidem 44j. M. Augenope¬
ration. Starb im
Beginn d Narcose.
8 Virchow- 84j. Frau m.Fistu-
Hirsch, la ani. In voller
Jahres* Naroose im Mom.
bericht der Oper, plötzl.
1878, I. ein Schrei u. Still-
S. 400. stand von Puls u.
Resp.
9 Lancet Mann. Verletz, d.
1878, I. Auges. Nach 12 g
S. 297. Ch. bleibt erst d.
Athem, dann der
Puls weg. Noch
einz. Athemzüge.
10 Ibidem 34j. M. Fistula
II. S. 571. ani. Sehr aufge¬
regt. Nach 8 g Ch.
Strampeln, Pupil-
lenerweiter., Ver¬
schwinden d. Pul¬
ses. Einz. Athem¬
züge noch 5 Min.
lang, auch nach
Aufheben an den
Füssen.
11 Ibidem. 15j.M. Ulceration
S. 683. am Amputations¬
stumpf. Nervös.
10g Ch. Athraung
bleibt weg gleich
nach Beendig, d.
kurzer Operation,
kommt wied. nach
Vorhol. d. Zunge;
Tod b. Herzstillst.
ca.
72
St.
21
St,
6
St.
Starke
Todten-
starre.
Sinus voll Im Herzbeutel Zwerch feil: Hen-
dunkelkirsch- 5 ccm Flüssigkeit. 5. Rip. Milz lähiuuog.
rothen Blutes. Herz sehr gross, und Nieren
Pia u. Gehirn beide V. dilatirt, sehr blutreich,
blutreich und m. reichlich., dick- Leber norm.,
ödomat. Vorn flüssigem, dunkel- Magen¬
mitt. im Pons rothem Blute ge- schleimh.
erbsengrosser, füllt, Lung. sehr geschwollen u.
eingesunken., blutreich. geröthet.
dunkelbraun.
Herd.
Herz: verfettet, Verschiedene Reflex-
„fast collabirt“ u. Organe hyper- lähmungm
leer. Atherom d. ämisch. Hera uni
Mitralklappe. Alhmung.
Gehirn blut- Herz: 360g f im 1. Nieren und Langsame
reich. Hydro- V. u. r. Vh. je 8g Leber blut Her*-
cephalus ex- fl. Blut. Begin- reich. lahmung.
ternus. nende Fettdegene-
_ration d. Muskels
(mikroskopisch). Lungen: em¬
physematos und ödematös.
Gehirn: Herz welk, blass, Mi lz, Nier, Hera-
leicht blut- dilat.,leer, Wände Leber blut- labtnung.
reich. Hydro* dünn; reichliche reich,
cephalus in- Fettauflagerung
ternus. u. mikroskopisch
nachweisb. Fett-
degenerat. Lun¬
gen blutreich.
Herzbeutel: 8 Nieren und Erstickung,
ccm Serum. Herz Leber blut¬
rech ts stark aus- reich. Magen
gedehnt d. dun- ausgedehnt d
kies fl. Blut, links Luft,
contrahirt. Musk.
gesund, ebenso d
Lungen.
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UNtVERSiTY OF IOWA
Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 313
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za
JS
Literatur.
Personalien,
Krankheit und
Verlauf.
Obductiou.
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
.
*
*2
0)
S
Aeusseres
u. All¬
gemeines.
Kopfhöhle.
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
W 1*
Charite-
54jähr. Frau starb
ca
Blut
Dura injicirt.
H^rz sehr schlaff*,
Beri-
iU
Annalen
während der Nar-
48
flüssig.
Hirnsubstanz
Mu k schmutzig-
lähmunjc
1878,
cose.
St.
weich, massig
dunk. - braunroth.
(Aspirat.
S. 781.
blutreich.
L u ng sehr blut¬
v. Chloro¬
reich u. ödematös;
form?)
einzelne Stellen
dunkelkirschroth.
13
Ibidem.
12j. M. Ankylose
24
Vircho w:
Allgemeiner
Herz: nur 1. V
Milz u. Le¬
Her*-
1879,
d. r. Kniegelenks
St.
„Das Blut
Blutreich¬
contrahirt, iu den
ber sehr blut¬
lahmnng.
S. 488
Nach22gChloral-
war völlig
thum.
Höhl, viel dünnes
reich. Magen¬
(Reflex von
u. 685.
chloroform(lproo.
dünn¬
fl. Blut, kein Ge
schleim h.
d. Streck.
Von
Alkoholzusatz) u.
flüssig,
rinnsei. Muskel
geröth ; Organ
her be¬
Litt
Bard e-
Streckung undu-
schied b
frisch braunroth,
durch Gas auf-
theiligt?)
|T
leben in
lator. Bewegung in
Stehen viel
fest. Halsvenen
getrieben.
NB. Das
IJK
der Deut¬
der Herzgegend,
milchiges
voll dün. schwarz
Chlor, war
schen med.
Puls, dann Rasp.
Serum ab;
rotb. Blut. Lun¬
selbigen
Wochen-
weg, beide kehren
die farb¬
gen rosenroth, r
Tags zu
schr. 1879,
auf Electricit. wie¬
losen Blut-
total adhärent.
mehreren
S.291, ver¬
der, Pat. schreit
körperch.
Ope¬
r i».s
öffentlicht.
auf u. schien er¬
enthielten
rationen
wacht — dann
vielfach
benutzt.
|iJ0
plötzlich Stillst, v.
Fettkörn¬
Herz u. Athmung.,
chen. M
14
Ibidem.
56j. Frau starb */J
Herz braun atro-
Darm: lym¬
?
S. 685.
Stunde nach Iri¬
phirt. Lungen:
phatischer Ap¬
dotomie.
hyperämiscb.
parat stark ge¬
schwollen.
F
Grosse Milz.
15
Deutsche
27j. marant. M. m.
24
Muskeln
Hydrocephai.
Herz schlaff,
Zwerchfell:
Hen-
medic.
Blasenstein. Unt.
St.
dunkel-
externus,
Muskel hellroth-
5. Rippe. Milz
läkmntig
Wochen-
Convulsion. bleibt
rothbraun.
Oedema cere*
braun. Lungen
gross, weich,
schr. 1879,
das Herz stehen,
bri. Linsen¬
umfangr., blass¬
thcilshellrotb,
S. 280
nach ■/« St. die
grosser Herd
blau , ödematös
theils schwarz-
Athmung.
in der Rinde
Halsorgane cyano
rotb. Calculus
der 2. r. u. 1.1.
tisch.
et Carcinoma
Stirnwindung.
vesicae, Meta-
stasis renum.
w* 16
Brit med
27j. M , fussleid..
Herz: 1.Seit, leer,
Aspbjile
Journal.
verliert ca. 90 g
u. contrahirt, r
; wird als
1880. 1
Blut u. stirbt nach
vollgefüllt mit
Todesurs.
S. 99.
10 g Ch.
schwarz, fl. Blut.
angenommen.
Der Ge-
Lungen vielfach
richtsh. wünscht Aether-
adhärent, r. blut
anwendung bei congestio-
reich, 1. unten he-
nirten Lungen. Paralyse
patisirt.
des r.
f.i
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UNIVERSITT OF IOWA
314
J. Bornträger,
Laufende No. 1
Literatur.
Personalien,
Krankheit und
Verlauf.
0 b d u
c t i o n.
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
36
d
■H
<u
S
Aeusseres
u. All¬
gemeines.
Kopfhöhlc.
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
17
Ibidem
Pat. will brechen,
Fettherz.
Nieren: Gra-
Her«-
S. 529.
souckt Schleim
Lungenödem.
nularatrophie
lähmuBg.
aus; 7, Min. drauf sinkt d. Kieferl
(Durch
herab, erblasst d
. Gesicht, ver-
Luftein-
schwind. Resp. u. Puls.
Nach Zun-
tritt?)
genvorzieh. einz.
. Athemzüge.
18
Wiener
14j. M. Beinfrass.
Todten-
Pia ödematös.
Herz mit Fett be-
Zwerch feil:
Reflex-
medicin.
Nach 14g Ch. ruh.
starre.
Basalarter.
wachsen, mässig
1. 5., r. 4. Rip
iählllUBgTH
Wochen*
Narcose, Zunge
Ausgiebig.
leer, im Uebri
gefüllt mit dun-
Milz blut-
Ben und
sehr. 1881,
herausgezog., Ope-
violette
gen mittlerer
kelfl. Blut, 1. V.
reich, ebenso
Respiration.
S. 719.
ration wird be-
Todten-
Blutreichth.
erweitert, Wand
Nieren und
gönnen — dasteht
flecke am
Kein Chloro-
bis 1,5 mm dick,
Leber.Harn
die Resp., Gesicht
Rücken.
formgeruch
leicht zerrcisslich,
blase: spärl.
•
ist bleich, Pupil-
Binde-
braun. Halsvenen
klarer Urin.
len eng. Nach Pen-
häute und
mässig gefüllt m.
Darm: mäss.
dein an d. Füssen
Lippen
dunkelflüss. Blut
Injection,
spontane Athem-
blass, Pu-
Gänseeigross. Col-
Schleimhaut
züge, dann Pup.
pillen
loidkropf, Luft-
blassviol. In-
weit, Tod.
mittelweit.
röhre seitl. com-
tima d. Aorta
prirairt.
zeigt gelbliche
Verdiokung.
19
Brit. med.
Kropfoperat. In d.
Herz gesund, r.
Erstickung.
Journal.
Narcose wird Pat.
Hälfte voll fl. Blut
I. S. 380.
plötzlich blau im
Lungen blutr.,
Gesicht u. stirbt
zahlreiche grosse
Hasen unt. d.
trotz vorgeholter
Pleura. Trachea d. Kropf sehr
Zunge.
gedr., Schleimh.
geschwollen.
20
Ibidem.
38j. Frau, Pota-
Hirnatrophie.
Herz v. Fett um-
Nieren und
Her«-
S. 589.
trix. Beinbruch.
wachs. Lungen
Leber fett-
lähuiung
Nach 2 Min. Chlo-
normal.
reich.
.
roformir. ist plötz¬
lich Puls u. Resp.
weg.
21
Wiener
14j. M. Tumor al¬
Lichtblaue
Miliartubercu-
Herz schlaff,
Nieren und
Erstickung 1
medicin
bus amFuss; gute
Todten-
lose der Pia.
dünnwandig, r.
Leber blut-
Heristlll-
Presse.
Narcose vor 6 W.
flecke an
Hydrocephal
wie Kartenpapier;
reich, Harn-
stand durch
1883,
Nach Erbrechen
den Seiten,
extern, u. int.
r. V. erweitert, m
blase leer.
Lufteintrlttl
S. 1478.
werden Puls und
Pupillen
Gehirn blut¬
wenig dunklem,
Respirat. unregel¬
weit.
arm, feucht.
dicklichtem Blut
mässig und ver
Lungen unten
schwind.; Schaum
hyperämisch, ob
vorm Munde. 70g
anämisch, in den
Chi. verbraucht.
Bronchien etwas
schaumig-blutiges
Serum. Luft- und
Speiseröhre leer.
Nirgends Chloroformgeruch.
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Original from
UNIVERSITY OF IOWA
ufende No.
Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 315
Personalien,
Literatur.
Krankheit und
Verlauf.
Obductiun.
s
Aeusseres
Zeit p
u. All¬
gemeines.
Kopfhöhlc
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
22
Brit. med.
Journal.
1884,
II., S. 874.
28j. M Fingerver¬
letzung. Nach 10g
Ch. wird Pat. ster-
torös, Puls und
Resp. verschwind.
48
St.
Gehirn
leicht blut¬
reich.
Herz zeigt Fett
innen u aussen;
Wand dünn. Aorta
u Coronararterien
atheromatös dege-
nerirt. Lungen
blutreich u. leicht
ödematös.
In der Perito¬
nealhöhle 90
ccm blutiges
Serum. Milz.
N i er., Leber.
Dünndärme
blutreich.
Langsame
Bm-
lähinungf
(Asphjxie ?)
23
Ibidem.
S. 1192.
8ja M. Verbrenn. 4
d. Finger. Nach St.
4 g Ch. gute Nar-
cose. Nach Incis.
wird sofort d. Ge¬
sicht bleich, Back,
und Lippen blau,
Pupillen weit ad
maximum; Tod b.
vorgezogen. Zunge
und fortdauernder
Resp.
Gehirn
normal
Herz gesund, r.
Seite voll dunkl.J
ll Blutes, I. zu¬
sammengezogen u.
leer. Pulmonalar¬
terie voll dunklen
Blutes. Lungen,
gesund.
Nur Normales
Reflex*
lähmungdes
r Hmms
24
Charite-
Annalen
pro 1884,
S. 517.
41 j. M. Patellar- 48
fractur. Nach 10g St.
Ch „trat Syncope
ein“; Puls u. Resp.
stockten plötzl.vor
d.Operat. Aether,
Strychnin, Elec-
tricit., Tracheoto¬
mie etc. umsonst.
Blut dick- Hydrocephal.
flüssig, extern, gering,
Gehirn blut
arm, feucht,
sonst gesund.
Herz sehrächlaff,
Waudung dünn,
Blut dickflüssig,
ohne Gerinnsel;!
Fettdegeneration.
Lungen zurück-
gesunkeu , sehr
blutreich. Luft¬
röhre: etw. röth
lieber Schleim.
Zwerchfell:
I. 5., r. 4. Rip.
Milzpulpa
dunkelroth,
Leber stark
fettiginfiltrirt
Beri-
lähmung.
Aspiration
von Ch.?
25
Ibidem.
S. 717.
23j. Frau, Ipara.
Oedem der Beine.
In 2$ St. 3 Krampf*
anfäl. m Bewusst¬
losigkeit ;Narcose.
Nach 15gCh. hör-
ten Resp. u. Puls
auf. (Sectio cae¬
sarea.)
Icterische
Färbung
der Haut
und Con-
junctiva.
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In Brusthöhle
massige Flüssig¬
keit; im Herzbeut,
c. lOOccm Serum
Herz gross,
schlaff, m reichl.
Gerinnseln ;Musk.
dünn, opak, grau
roth, brüchig, ra.
gelblichen Färb.
Lung. blutreich
u. wie die Glottis
ödematös
In Bauch¬
höhle mäss.
Flüssigkeit.
Milz gross,
nicht blut¬
reich. Nieren
sehr gross,
schlaff, opak,
weissgelbliche
Streifung der
Papillenspitz,
Kelche und
Becken stark
erweit. Leber
fettreich.
Ben-
lähmunt
(Aspirat.
von Ch.?)
Original frn-m
UNIVERSITY OF IOWA
Laufende No,
316
J. Borntrager,
Literatur.
Personalien,
Krankheit und
Verlauf.
Obduction.
Aeusseres
u. All¬
gemeines
Kopfhöhle
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
26
Ibidem.
1885,
S. 503.
20j. M. m. Drüsen
tumor. am Halse;
Defecte am weich.
Gaum., Verwachs,
m.d. Rachenwand.
Es „trat der Tod
während der Nar-
cose ein“.
ca.
48
St.
27
28
Centralbl
f. Chirurg.
1886,
S. 45.
lOj M. Anämie.
Nach Entfernung
tuberculös. Hals¬
drüsen plötzl. ein
Schrei, worauf
Puls u. Resp. weg
sind.
Ibidem. 8j M. Parotistum.
East war schon d
Tumor entfernt,
als m. ein. Schrei
Respir. und Puls
schwanden.
29
Archiv f.
klin. Chir.
1887,
S. 378.
(Fall von
Lauen¬
stein, ver¬
öffentlicht
von Kap¬
pe 1 e r.)
27j. ängstl.. blei¬
cher M. m Bubo,
vor7Tag schlech¬
te Narcose. Nach
5gCh. setzte wäh
rend d. Exaltat. d.
bis dah. gute Puls
aus, Pupillen ad
maiim., noch etwa
5 Athemzüg., Tod
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Schleim
häute anä¬
misch. In
d. Mund¬
höhle Blut
in ziem¬
licher
Menge.
Todten-
starre. Fl
Blut in
den Bein¬
venen.
Pia und Ge - Im Herzbeutel ca.
hirn blut- 15 ccm Serum
reich. Herz enth. über¬
all fl. Blut, r. V.
weit, 1. fest con-
trahirt. Lungen:
l. bronchopneu-
monische Herde,
r. unt. sehr blut
reich, oben öde-
matös. Glasiger
Schleim in den
__._I Bronchien.
Epiglottis ödemat. Trachea,
bes. unten, stark geröthet, mit
dick. Schleim. Zungenspitze ge-
schwoll , vom Zungenrand lässt
sich d. Schleimhaut weit ablösen.
Herz: beiderseits
hellroth. fl. Blut.
Lungen zeigen
Tuberculose und
riechen nach Ch
Oedema
cerebri.
Herz: 1. V. m. ge¬
ring. excentrisch.
Hypertrophie, ln
den Lung leich¬
ter Ch. - Geruch.
Tonsillen u Hals-
drüs. hyperplast.
Herzir.V. schlaff,
enthält geringe
Menge hellrothen
Blutes, mit Luft¬
blasen vermischt;
I. V. massig con
trahirt, leer; Mus¬
kel blassroth,
nicht verfettet.
Lungen sehr
hyperämisch.
Zwerchfell: 1 Aspiration
l. 5., r. 4 Rip. von Ch.?
Milz: frische! tsphjxle?
Schwellung.
Nieren hyper
ämisch. Harn¬
blase contrah ,
wenig trüber
Urin drin. Le¬
ber: starke
Stauung. Ma¬
gen: 6tat
mammillonö;
Darm: zieml.l
roth, Ileum m.
geschwollenen j
Peyer’schen
Plaques.
I
len-
lähmuog.
Morbus
Brightii.
Herz lähm
Der Schrei
wird als
Reizung d.
Med. ob¬
long. ge¬
deutet (cfr.
Experi¬
mente von
F lo u-
rens).
Herzstill¬
stand durch
Lufteintritt.
Original from
UNiVERSUY OF [OWA
Ueb d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 317
Personalien,
Literatur.
Krankheit und
Verlauf.
32; Virchow- 40j. M. Stirbt in
I Hirsch Narcose b. gewalt-
j Jahresber samer Streckung
I 1888, I, d. Kniegelenks, in-
S. 367. dem plötzlich die
i (Gross.) Athmung u. Herz*
thätigkei taufhört.
33 Ibidem. Junge Frau.
1882, I., Selbstvergiftung
I S 444. durch Chloroform-
i Inhalation.
0 b d u c 4 1 0 "• Todesart
i ' und
Aeusseres j Beroer-
u. All- Kopfhöhle. Brusthöhle. Bauchhöhle, kungen.
gemeines. |
toi Ibidem. 19jäbr. Frau, ge 23
! S. 379. schwächt d. Eite- St.
I rung ein Ovarial- ^
' kystoms. Athm. ö
v. vornherein un- g
regelmässig; nach 3
10 Minut. begin* cf
nende Narcose, ^
Brechbewegungen
— da Pupillen ad
maxim., Puls weg,
Respir. stockend.
Gesicht bläulich
roth
31 Brit med. 45j.m. Epitheliom
Journal, an d. Zunge Nach
1887, ,11., 6g Ch. flattert der
‘ S. 782. Puls u. bleibt weg
l trotz künstl. Ath¬
mung u. spontan.
Athemzüge.
Keine
Fäulniss-
erschein.
Hautdeck,
blass,rothc
Todten-
flecke am
Rücken.
Starke
Todten-
starre.
Blut über*
all fl. u.
theerartig.
Herz: r. V.schla
u. beinahe leer, I
V. etwas oontrah
u. ziemlich viel fl
Blut enthaltend.
In jed. Ventrikel
eine Gasblas., bei¬
de zusammen etwa
wallnussgr., sich
bei ehern. Unter¬
suchung alsStiek-
stoff erweisend.
Herz sehr gross
Höhlen sehr er
weitert, M. gelbl.
braun, leicht zer*
zeisslich, Schnitt¬
fläche weich, kör
nig; Wand des r
V. transpar.,dünn
Aorta ausgebuebt.
und atheromatös;
mikroskop. nach¬
weisbare fettige
Degeneration des
Muskels. Lungen
emphysematos
Herz gross und
schlaff, Musk. sehr
dünn. Fettaufla¬
gerung.
Cyanose u. Nachweis von
Ecchymo- Chloroform im
sirung des Gehirn konnte
Gesichtes nicht be-
u. derCon- stimmt er-
iunctiven bracht werd.
Gesichtes
u. derCon-
junctiven
(Leiche lag
auf dem
(Bäuche).
Blut dun
kelflüss.
■enstlll-
staai iircb
Uftelatrltt
■ert-
lihaug.
■ere-
libmmg (d.
Reflex ?).
Nirgends Chloroforrageruch oder
Abnormitäten.
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Original from
UNiVERSITY OF IOWA
Laufende No.
318
J. Bornträger,
Personalien,
Obduction.
Todesart
Literatur.
Krankheit und
* 53
Aeusseres
und
Bemer¬
Verlauf.
dL
u. All¬
Kopfhöhle.
Brusthöhle
Bauchhöhle.
kungen.
<X>
s:
gemeines.
Archiv f.
28j M wird auf-
9
Ziemlich
Hirn und
Herz contrahirt,
Milz weich,
Tnd darck
Heilk.
gefund., na-hdem
St.
starke
Hirnhäute
ohne Coag., Mus¬
Nier. weich,
d. censerut
1874,
er offenbar längere
Todten-
feucht und
kel etwas gelbl.,
anämisch, Le¬
Pneumon ,
S. 430 ff.
• Zeit Ch. auf ein
starre Le¬
hyperämisch
fett, entart.,weich
ber zeigt ein¬
bez. Luu-
Taschentuch ge¬
derartige
Lungen nichtre-
zeln. verfettete
genaffeclUo
träufelt u. einge
Krusten,
trahirt, r ganz, 1
Acini, Magen
überhaupt.
athraet hat. Be¬
Blasen auf
unt. infiltrirt, öde-
etwas hyper¬
Mikro¬
wusstlos, schnar
den Wan
matös Das infil*
ämisch, Darm
skopisch
chend; Röthung
gen, Arro-
trirte Gewebe ist
nicht.
war croup
u. Erosionen im
sionen der
durchlöchert, die
Entzünd.,
Gesicht; Erbrech ,
Lippen.
Löcher enthalten
Abschupp.
Urticaria an den
Muskeln
blutig serös. Flüs¬
des Flim¬
Gliedern; Fieber,
dunkel-
sigkeit. Bron
merepi¬
Dämpfung über d.
roth.
chien, Trachea.
thels,theil-
Lung.; Urin stark
Kehlkopf (exclus.
weise Aspi¬
eiweisshaltig, fast
wahre Stimrabän
ration des¬
<»hne Chlorsalze.
der), Epiglott. zei¬
selben in
Tod nach l^Tag.
gen hyperämische,
die kleinen
trotz Transfusion.
theils geschwoll
Bronchien,
Schleimhaut und
Eiterung
Erosionen. Mund¬
u. blasige
schleimhaut, Pha¬
Ektasien d.
i
rynx, Oesophagus
Bronchiol.
normal.
u. Alveol
nachweisb.
Virchow-
Mann trinkt 45 g
Herz: Petechien
Magen: fleck.
Erstickung.
Hirsch
Ch. Trotz Magen¬
auf d. Oberfläche,
Röthe in Gur
Paralyse 4.
Jahresber.
pumpe Aussetzen
bes. 1 .; r. V. er¬
vat. maj und
r. Ventr.l
1878, I.,
des Pulses, Cya-
schlafft, 1 . fest con¬
Pylor., Därra.
S. 400
nose, Pupillener
trahirt. Lungen
und Perito¬
Weiterung, Tod n.
hyperämisch, ver¬
neum hyper
36 St.
minderte Crepita
ämisch; Oeso¬
tion; Ecchyraosen
phagus: ob.
in der Broncbial-
viele runde
schleirahaut.
rothe Flecke,
unten Epithel¬
verluste.
Central bl.
Syphilitischer Po*
Gefässe der
Herz: Subperi*
Magen, Duo¬
Erstickung 1
f. Chirurg.
tator trinkt 35 g
Hirnhäute
cardial. Petechien.
denum und
Paralyse d.
1878,
Ch., erscheint n
mässig stark
Lungen hyper
Anfangstheile
r. Ventr.l
S. 555.
V 4 St wie betrun¬
gefüllt.
ämisch u. öderaat.
des Jejunum
ken; trotz Magen
zeigen fleckige
pumpe schwindet
Röthung, die
das Bewusstsein
Speiseröhr.
Puls u Resp wer
ira oberen
den unregelmäss
Theile kleine
Nach 26 St. Syn-
Erosionen.
cope u. Tod.
t
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Original from
UNIVERSITY OF IOWA
Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 319
3
cC
Literatur.
Personalien,
Krankheit und
Verlauf.
Obduction.
<D
S3
Aeusseres
u. All¬
gemeines.
Kopfhöhle.
Brusthöhle.
Bauchhöhle.
Todesart
und
Bemer¬
kungen.
87
Vircbow-
Hirsch
Jahresber.
1880, I.,
S. 48G.
Mann verschluckt
50-60 gCh. Er¬
brochenes u. Stuhl
riechen nach Ch
Tod nach 27 St.
38 Schmidts j Potator trinkt eine
I Jahrbuch. |Flasche Ch. aus,
1881, Bd. |liegt 4St. wie todt
189, S. 236
(Mygge).
mit blauem Ge¬
sicht; Erbrochen,
riecht nach Ch.,
Stühle dünu, Spu¬
ta blutig. Unter
Fieber entwickelt
sieb eine Pneum ;
Tod am 9. Tage.
39
Ibidem.
1882, Bd.
194,S.250.
40
Brit raed.
Journal.
1886, I.,
S. 786
u 969.
60j. Mann trinkt
V* Spitzglas Ch. u.
stirbt nach lOMin
Mann wird todt in
sein. Bette gefund
An den
Mundwin¬
keln u. Na¬
senlöchern
angetrock¬
netes brau¬
nes Secret,
Borken an
|d. Lippen.
Mund¬
schleim¬
haut wie
verbrannt.
72
St.
Kein auf¬
fälliger
Geruch.
Lungen hyper-
ämisch
Hydropcricard. R.
V. wenig erweit..
jenthält dunkl. fl.
Blut, l. farblose
Gerinns. Lung.:
fibrinöseAdhären
zen,Congestion, r.
vorn graue [Hepa¬
tisation. Schleim,
haut d. Larynx.
der Trachea u.
Bronchien sam¬
metartig, dunkel-
roth.
Chloroformge
ruch b. Durch*
schneidung d
Dura und bes
des Hirns
selbst.
M a ge n-
schleimb.
roth, ge-
schwoll., stel
lenweise necrotisch, viel Schleim;
stechend. Geruch nach Chlorof.
u. Knoblauch.
Ulcerationen
im Schlund,
Oesophag,
Magen u. be¬
sonders im
Duodenum
Magen: im
Fundus Ablös.
der Schleimh
u. Zerstörung
bis auf d. sub-
serös. Gewebe;
Ecchymosen.
Im oberen Je-
jun. unregel¬
mässige Ge¬
schwüre, meist
reihenartig
nach d. Längs
achs. Schleim¬
haut schiefer¬
grau. Im
Oesophag.
Schleimhaut
blauroth, Epi¬
thel flottirend.
Magen ent¬
hält braune
Flüssigk. ohne
Chloroformge
ruch; Schleim
haut rothgrau,
Uefässinject.
an d. Cardia
Ttd durch
Pneomwale.
Nach 6
Tagen wird
Ch., Amei¬
sensäure,
Alkohol
im Magen
u. anderen
Organen
gefunden.
Gehirn
nicht un¬
tersucht
Todesart V
Chemisch
wurden
11,25 R
Chlorof. im
Magenin¬
halt nach¬
gewiesen.
Todesart ?
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Original frn-m
UNiVERSUY OF IOWA
320
J. Bornträger,
Sonach gestaltet sich die Zahl der veröffentlichten Chloroform-
lodesfälle also:
Zusammengestellt wurden
von Sabarth 1848 — 1865 .... 119,
„ Kappcler 1865—1876 . . . 101,
„ mir 1876 — 1888. . . . . . . 40,
Summa . 260.
Rechne ich dazu etwa 150 weitere Fälle, welche mir bei Durch¬
sicht der Sammelwerke ohne nähere Angaben als blosse Notizen auf-
gestossen sind, so ergiebt das rund 400 Todesfälle innerhalb der nun¬
mehr 40jährigen Anwendung des Mittels, also 10 pro Jahr. Bedenkt
man, dass naturgemäss nicht alle derartigen Fälle veröffentlicht wer¬
den, und zieht die Fälle in Betracht, welche uns von bekannten
Aerzten so gesprächsweise privatim mitgetheilt werden, so ergiebt
sich, dass diese Zahl der Wirklichkeit keineswegs entspricht. Jacob
stellte allein für Grossbrit&nnien im Brit med. Journ. folgende Zahlen
zusammen:
1882 .
23,
1883 .
11,
1884 .
9,
1885 .
12,
Sa. .
55
55 = fast 14 pro anno.
Kappeier (Archiv f. klin. Chirurgie, Bd. 37) zählt von 1876
bis 1885 incl. 184 Todesfälle.
Unter obigen 260 Fällen finden sich 7 durch Trinken des Chloro¬
forms entstandene, 12 absichtliche oder unabsichtliche Selbsttödtungen
durch Inhalation; cs bleiben mithin 241 unter ärztlicher Anwendung
vorgekoramene. Ira Folgenden werden zunächst diese letzteren Fälle
und zwar ganz speciell die 101 von Kappeier und die No. 1—32
der von mir gesammelten in Betracht gezogen werden.
Die Frage ist: Welche Anhaltspunkte geben diese Chloroform-
todesfälle dem Gerichtsarzto an die Hand, um die Fragen nach Todes¬
ursache und Schuld zu beantworten?
A. Diagnose der Todesursache.
Die Diagnose der Todesursache gründet sich bekanntlich bei jeder
Vergiftung, als deren Folge ich zunächst den Chloroforratod ansehen
will, auf:
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpuukte. 321
1) die Krankheitserscheinungen,
2) den Leichenbefund,
3) den Nachweis dos Giftstoffes,
4) den Nachweis der Giftigkeit dieses Stoffes am Thier,
5) die anderweitigen richterlichen Erhebungen.
1. Die Krankheitserscheinungen vor dem Tode.
Von Krankheitserscheinungen vorm Chloroformtode kann nicht recht
die Rede sein; man kann nur von den normal toxicologischen Wir¬
kungen des Stoffes und von den den Tod einleitenden und begleiten¬
den Symptomen, also der Art des Todes, sprechen.
Man theilt die Wirkung des Chloroforms am besten in 4 Stadien:
Erregung — Erschlaffung und Schlaf — Anästhesie — Asphyxie
bezw. Paralyse. Nun starben von den 133 Fällen, soweit ersichtlich:
Kappe-
Meine
ler’s
Casuistik.
Sa.
bei Beginn der Inhalation“.
4
+
1 =
5
im Stadium der Aufregung“ .
14
+
5 =
19
im Stadium der unvollständigen Narcose“ .
25
+
10 =
35
in voller Narcose“.
30
15 =
45
nach vollendeter Operation“.
17
+
] =
18
oder unter den bekannten 122 Fällen:
vor der vollen Einwirkung des Chloroforms“
43
+
16 =
59
während d. vollen Einwirk. d. Chloroforms“
47
+
16 =
63
Darnach starben also etwa gleichviel in und vor voller Narcose.
Kidd berechnete 1861, dass 2 / 3 im Erregungsstadium gestorben seien;
die Differenz rührt zum Theil daher, dass manche Fälle nicht genau
genug beschrieben sind, so dass die Einreihung einigermassen willkür¬
lich ist.
Bei dem Eintritt des Todes ist das Plötzliche und Unerwartete
sowie das Irreparable des Zustandes charakteristisch. In welchem
Stadium der Narcotisirung der Tod auch eintreten möge, stets heisst
es in den Berichten: eben noch sprach oder reagirte der Patient,
eben hatte man sich vom guten Pulse überzeugt u. dergl. — da
plötzlich stand die Athmung, das Herz still, veränderte sich das Ge¬
sicht etc.; sofort eingeloitete kräftigste Mittel vermögen nichts zu
leisten, während doch bei einfachen Behinderungen der Athmung (in’s
Wasser fallen, Verschüttetwerden etc.) noch nach längerer Zeit Ret¬
tung möglich ist.
VlarMlJftbrMehr. f. (er. Med. N. F. UI 2. 21
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Original frnm
UNIVERSITÄT OF IOWA
322
J. Bornt räger,
Besonders hervorznheben sind:
u ) Plötzliches Umsinken des Körpers nach vorhergehendem Auf¬
richten und krampfartigen Zuckungen, Erschlaffen aller Muskeln,
Niederfallen des Unterkiefers, besonders prägnant im Stadium der
Exaltation.
ß ) Erdfahles Gesicht bei Syticope, rothblaues bei Asphyxie.
y) Dunklerwerden des langsamer und spärlicher fliessenden Blutes
bei Wunden, Aderlässen.
d) Auffliegen ad maximum der bis dahin eventuell ganz engen
Pupillen. Wo der Pupillen überhaupt gedacht wird, ist diese Erschei¬
nung gemeldet; bei Kappeier 4raal, unter meinen Fällen 5mal (cfr.
No. 18).
f) Ein Aufschrei, der dem Aufhören von Puls und Respiration
vorhergeht (vergl. Bemerkung zu No. 28), wird mehrfach erwähnt
(hier 4mal: No. 8,£13], 27, 28); derselbe ist vielleicht in eine Reihe
zu stellen mit dem bekannten Schrei mancher Epileptiker vor dem
Anfalle. Auch Trelat (Virchow-Hirsch 1882, I., S. 408) erwähnt
einen solchen Schrei, d.ann kurze Bowegung mit Arm und Rumpf,
Syncope, Tod.
Das Symptom scheint dem Tod durch Herzparalyse eigen zu sein.
f) Unfreiwilliger Abgang von Urin und Koth wird gelegentlich
vermeldet. Legros und Onimus (Schmidi’s Jahrbücher Bd. 144,
S. 23) sahen bei Thieren heftige peristaltischo Bewegung des Darms
beim Schluss des Lebens auftreten und erklärten dies durch die plötz¬
liche Entziehung des arteriellen Blutes.
t ]) Herzstillstand wie
Lungenstillstand treten ebenfalls gewöhnlich unerwartet ein,
manchmal wird der Puls einen Moment vorher weich, verlangsamt,
doppelschlägig, bezw. die Athmung oberflächlich, verlangsamt oder
schnarchend genannt, oder es tritt vorher die sub y erwähnte Ver¬
änderung des Blutes ein. Zuweilen zeigten sich von vornherein die
Zeichen „schlechter Narcose“, wie grosse Aufregung, unregelmässiges
Athmen, Anhalten in Inspirationsstellung etc. Manchmal überdauert
die Herzthätigkeit die Respiration (No. 2), zuweilen um nennens-
werthe Zeit (20 Min. bei Kappeler’s No. 83), öfter finden sich noch
Respirationsbewegungen bei fehlendem Herzschlage (No. 9, 10, 17, 18,
23, 29, 30, 31), in Fall 15 gar */ 4 Stunde lang.
Man findet also theils das Bild des syncoptischen, theils des
asphyktischen Todes, theils verwaschene Bilder.
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Original frnm
UNIVERSUM OF IOWA
Ueb. d. Tod durch Chloroform u. Chloral v. gerichtsärztl. Standpunkte. 323
Sabarth rechnet 36mal Asphyxie, 11 mal Syncope,
Kappeier „ 17 „ „ , 23 „ „ ’
Meine Tabelle „ 5 „ „ , 19 „
(W. Koch „ 27 „ , ,73. I )
(Jacob , 14, „ ,26, „ ).
Sind obige Zahlen, wie ja die Bemerkungen in meiner Casuistik
zeigen, auch vielfach unsicher, so folgt doch das augenfällig aus
dieser Zusammenstellung, dass die Zahl der syncoptisch in der Chlo-
roformnarcose zu Grunde Gegangenen im Verhältniss zu des Asphyk-
tischen in letzterer Zeit sehr zugenommen hat. Wir finden nämlich:
Asphyktische zu Syncoptischen nach Sabarth = 1:0,3,
« Kappeier = 1 : 1,35,
* mein. Tabelle = 1 : 3,8,
» (W. Koch = 1 :2,7)
(Jacob = 1:1,85).
Beide Todesarten kommen in allen Stadien der Narcose vor.
Kappeler’s und meine Casuistik ergiebt:
Asphyxie. Syncope.
K. J. Sa. K. J. Sa.
vor voller Narcose 7 -f 2 = 9, 9-f- 9=18
in voller Narcose 10 -f- 3 = 13, 14 + 10 = 24.
Also am häufigsten war Syncope in voller Narcose, dann folgt
Syncope früher, dann Asphxyie in voller Narcose, dann Asphyxie
früher.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die den Chloroformtod ein¬
leitenden Erscheinungen sich decken mit denen plötzlicher und irre-
parabeler Herzparalyse, seltener Asphyxie.
(Fortsetzung und Schluss folgt.)
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II. Oeffentliclies Sanitätswesen.
1 .
Zur Aetiologie der crenpösen PienaMir.
Von
Dr. med. lllesell,
weiland prakt. Arzt in Echte (Provinz Hannover).
(Schluss.)
IY. Bei der Ansbreitang der Pneumonie-Epidemien wirken Örtliche
nnd zeitliche Zustande als Hftlfsnreachen mit
leb habe schon bei der Besprechung der individuellen Krankheitsdisposition
nachzuweisen gesucht, dass die Pathogenese der Pneumonie nicht in einem ein¬
fachen Acte derConcurrenz von pneumonischen Infectionsstoffen und geschwächten
Ernährungszuständen bestehen könne, sondern dass es sieb dabei augensoheinlioh,
wie das von Virchow, Hueppe u. A. neuerdings für die meisten Infections-
krankheiten angenommen wird, um überaus complioirteVorgänge handelt, welohe
sich im Organismus unter Mitwirkung der Psyche abspielen, und auf welche die
Beziehungen des Individuum zur Aussonwell einen sehr verschiedenen, bald sehr
geringen, bald ausserordentlich schwerwiegenden Einfluss ausüben. Dasselbe In¬
dividuum kann sich sowohl durch ausschliesslich innere Ursachen, wie durch de-
primirende Gemüthsbewegungen, als auch durch lediglich von aussen kommende
Einwirkungen, wie durch Erkältungen, eine Pneumonie zuziehen, wenn es der
Infection durch pneumonische Krankheitsstoffe ausgesetzt ist. Daraus folgt, dass
die einzelnen Erkrankungen einer jeden Pneumonie Epidemie eine gewisse ätio¬
logische Selbständigkeit besitzen, und dass Ort und Zeit auf die einzelnen Indi¬
viduen, welche während einer Epidemie erkranken, eine ungleichmässige nnd un-
gleichwerthige Einwirkung haben. Aber auch die speciöschen Krankheitserreger
dar Pneumonie müssen in ganz verschiedener Weise durch Ort und Zeit beein¬
flusst werden können. Denn die Lungenentzündungen treten in einem ländlichen
Bezirke nur in Form von kleineren und grösseren Dorfepidemien auf, welohe im
Laufe der Jahre keinen einzigen Ort gänzlioh verschonen, oder besonders bevor-
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Zur Aotiologie der cronpösen Pneumonie.
325
zugen, sich zu allen Zeiten in einem Dorfe zeigen, und stets die Eigenthümlich-
keit haben, dass sie einige Orte durchsouchen und gleichzeitig andere in näch¬
ster Nähe liegende Orte nicht berühren. Die pneumonischen Infectionsstoffe fin-
den daher in unserem Klima in einem jeden Orte und zu jeder Zeit unter Um¬
ständen die Bedingungen, welche zu ihrer Existenz und Fortbildung nothwendig
sind. Wenn sie daher überhaupt von örtlichen und zeitlichen Verhältnissen ab¬
hängig sind, so kann diese Abhängigkeit nicht iri ein und denselben äusseren
Momenten beruhen, sie muss vielmehr durch die verschiedenartigsten atmosphä¬
rischen und terrestrischen Zustände hervorgerufen werden können. Es geht also
die Bildung und Ausbreitung dor Pneumonie-Epidemien nicht in
gleichartiger Weise vor sich, und es können sehr verschiedene,
innerhalbund ausserhalbderlnfectionserreger und derlnfeotions-
träger liegende Factoren sein, durch deren Zusammenwirken eine
Epidemie entsteht.
Welchen Einfluss nun örtliche und zeitliche Verhältnisse auf die Pneu¬
monie-Epidemien ausüben, darüber können wir für jetzt nur mehr weniger be¬
gründete Vermuthungen hegen. Wir können indess nachweisen, dass die Epi¬
demien in keinem abhängigen Verhältnisse von ihnen stehen
1. Die zeitlichen Verhältnisse.
Dass die Zeit nicht ohne Einfluss auf dio Pneumonie-Epidemien, ihren Ver¬
lauf and ihre Ausdehnung ist geht daraus hervor, dass die Epidemien sich nicht
gleichmässig über das ganze Jahr vertheilen. Die meisten Pneumonien
fallen stets in die Winter- und Frühjahrsmonate.
Die Begünstigung der Pneumonie durch die kältere Jahreszeit muss für die
gemässigte Zone als eine feststehende Thatsache angesehen werden (Hirsch,
Jürgensen, Ziemssen, Köhnhorn, Keller. Seitz, Klinger, Port,
Stortz u. A.). In dem Bezirke Echte tritt sie mit grosser Regel¬
mässigkeit zu Tage. Die gesammten 607 Pn. vertheilten sich auf die ein¬
zelnen Monate:
der Jahre
Januar.
Februar.
März.
April.
’S
Juni.
Juli.
August.
September.
October.
November.
December.
Summa.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
Pn.
1880
3
1
8
14
4
- |
—.
1
—
6
6
50
1881
26
24
8
14
5
—
2
3
4
3
5
119
1882
11
13
10
11
3
3
2
3
5
1
5
77
1883
12
15
13
13
3
2
3
1
2
1
1
3
69
1884
8
5
3
7
3
1
2
2
4
4
5
6
50
1885
ISS
15
12
10
2
3
4
7
2
6
6
84
1886
El
34
29
25
12
10
8
—
—
6
6
158
Summa
83
87
103
87
80
29
21 |
14 !
20 1
16
28
39
607
Es kommen hiernach auf die Sommermonate Juni, Juli und August 64 Pn.,
auf die Herbslmonate September, October und November gleichfalls 64 Pn., auf
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326
Dr. Riesel],
die Wintermonate December, Januar und Februar dagegen 209 Pn. und auf die
Frübjahrsmonate März, April und Mai sogar 270 Pn. Die Lungenentzün¬
dungen des Winters und des Frühjahrs übertreffen daher die¬
jenigen des Sommers und des Herbstes in den 7 Jahren um das
Vierfache. In den verschiedenen Jahren fällt das Maximum wie das Minimum
der Pneumoniefrequenz niemals auf ein und denselben Monat, oder auch nur auf
dieselbe Jahreszeit, vielmehr sind es bald die kalten, bald die kühlen Monate,
welche die meisten, und ebenso bald die warmen, bald die heissen Monate,
welche die wenigsten Pneumonien haben. Dabei ist es eine auffällige Erschei¬
nung, dass die Monate October, November, December stets eine ungleich gerin¬
gere Anzahl von Lungenentzündungen zeigen, als die Monate März, April und Mai.
In vollkommenem Gegensatz zu dieser Vertheilung der Pneu¬
monie über die verschiedenen Jahreszeiten steht der Typhus. Der¬
selbe zeigt seine grösste Frequenz im Spätsommer und Herbst, seine geringste
im Frühjahr. Von den 151